INTERVIEW Demenz Ein Gespräch mit Marina Kojer

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Transkript:

LS: Sie sind Ärztin, Psychologin und Erwachsenenbildnerin. Sie haben einen multiprofessionellen Blick auf Gesundheit und Krankheit. Wie hat das Ihre eigene Lebensform geprägt? Kojer: Die Wurzeln meiner Zuwendung zu alten Menschen liegen in meiner Kindheit. Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, sie war meine erste große Liebe. Aus heutiger Sicht war meine Großmutter noch nicht sehr alt, doch die Kriegsjahre hatten sie vor der Zeit altern lassen. Für mich war es, seit ich denken kann, selbstverständlich, auf sie Rücksicht zu Die Hochbetagten waren meine Lehrer nehmen und ihr, so gut ich es vermochte, zu helfen. Diese prägenden Erfahrungen meiner Kindheit haben meinen späteren Berufsweg maßgeblich beeinflusst. Wer alte Menschen über lange Zeit betreut, lernt nicht nur ihre physischen und psychischen Krankheiten kennen, sondern auch ihre seelischen Nöte, ihre Ängste und ihre Schmerzen, die Leistungseinbußen, Verlusterlebnisse, Vereinsamung mit sich bringen. Die Hochbetagten, deren Leben ich begleiten durfte, waren meine Lehrer; sie haben mich gelehrt, mich von ihnen zu ihren Zielen führen zu lassen. Ich habe erkannt, dass mit Schwäche und Hilflosigkeit auch die Verletzlichkeit zunimmt. Wenn ich dem Schmerz im Blick eines alten Menschen begegnete, begann ich mich zu fragen, wie ich mich später als Betroffene fühlen würde. Ich erkannte, dass jung, gesund und leistungsfähig zu sein nicht selbstverständlich und schon gar nichts Bleibendes ist, dass das, was meine Patientinnen und Patienten jetzt erlebten, auch auf mich zukommt. Seither bin ich jeden Morgen, wenn ich aufstehe, dankbar dafür, dass ich noch? sicher auf meinen Beinen stehe, dass ich noch sehe, höre und denken kann. Mir ist auch bewusst geworden, dass es im Leben ein irreversibles zu spät gibt, einen Zeitpunkt, ab dem Versäumtes nicht mehr nachgeholt werden kann. Bis zu einem gewissen Grad ist jeder Mensch für sein Alter mitverantwortlich. Die Rückschlüsse für mein eigenes Leben: Marina Kojer geb. 1940, Dr. med., Dr. phil., Begründerin und langjährige Leiterin (1989 2003) der 1. Med. Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie und der Schmerzambulanz am Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) in Wien. Erich Garhammer geb. 1951, Dr. theol., Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg; Schriftleiter der Lebendigen Seelsorge. Lebendige Seelsorge 66. Jahrgang 1/2015 (S. 33 38) 33

Sorge für Andere gibt auch dem eigenen Leben Sinn und macht es reicher. Die Menschen, mit denen ich verbunden bin, sind meine größte Ressource. Freundschaften, Beziehungen müssen gepflegt werden, um Bestand zu haben. Wir entkommen unseren Altlasten (eigene Schuld, tiefgreifende Zerwürfnisse) nicht. Sie sollten rechtzeitig aufgearbeitet werden, um nicht später zu einer unbewältigbaren Last zu werden. Schicksalhafte Erkrankungen sind nicht zu vermeiden, aber Vielem, was das Leben im Alter erschwert, kann man vorbeugen. Vernünftige Lebensweise, einschließlich körperlicher und geistiger Forderung, macht sich bezahlt. Je früher man damit anfängt, desto besser. Die letzte Lebensphase ist für alle eine Zeit der zunehmenden Hilflosigkeit, des Verwiesenseins auf die Hilfe anderer. Ich stehe vor der Aufgabe zu lernen, mich Anderen anzuvertrauen. Wenn ich an die Bedingungen denke, unter denen Hochbetagte mit und ohne Demenz heute oft betreut werden, macht mir dieser Gedanke Angst. Nach meinem 60. Lebensjahr verschob sich der Schwerpunkt meiner Berufsarbeit zunehmend in die Erwachsenenbildung. Das Ziel, das ich dabei auch heute noch verfolge, ist nicht so sehr die Vermittlung von Können und Wissen das tun genug Andere. Ich möchte die Herzen der Teilnehmenden erreichen, ihre Augen für das körperliche und seelische Leid öffnen, ihre Haltung schulen, ihre Empathie wecken und ihnen zumindest die Grundbegriffe der gelingenden Kommunikation mit sehr alten und demenzkranken Menschen vermitteln. LS: Was bewegt Sie beim Thema Demenz aktuell? Kojer: Demenz ist ein Thema, dass stetig an Aktualität gewinnt und derzeit in aller Munde ist. Das bedeutet nicht, dass es der Mehrzahl der Betroffenen und ihren Angehörigen deshalb besser geht. Es gibt wohl eine Reihe erfreulicher Ansätze, aber in der großen Linie sehe ich bisher noch kein Licht am Ende des Tunnels. Wesentliche Ursachen dafür sind: Der schwierige und verantwortungsreiche Beruf der Altenpflege genießt viel zu wenig Ansehen in der Gesellschaft und wird viel zu schlecht bezahlt. Altenpflege und ganz besonders die Betreuung Demenzkranker erfordert Eignung (Kommunikationstalent, gute Beobachtungsgabe, Kreativität, Geduld, Taktgefühl, das Fehlen von Berührungsängsten etc.), Neigung und eine gute und ausreichend lange Ausbildung. Die Ausbildung muss sich an den tatsächlichen Erfordernissen orientieren. Diese unabdingbaren Voraussetzungen für das Wohlbefinden der Betroffenen werden bisher nicht/zu wenig beachtet. Die Heime sind viel zu dürftig mit Personal ausgestattet. Wie soll z.b. eine Pflegekraft, die in der Nacht für 70 Hochbetagte zuständig ist, sich den Nöten Ein- 34 Lebendige Seelsorge 1/2015

zelner zuwenden, auf herausforderndes Verhalten richtig reagieren und wenn möglich auch noch Sterbende begleiten? Gut ausgebildetes Personal wird zunehmend nur für Führungsaufgaben bzw. für höhere Kontrolltätigkeiten eingesetzt. Die Pflegekräfte, die tatsächlich für die Betreuung der alten Menschen zuständig sind, die sie wirklich kennen und denen die wichtigsten Aufgaben und das sind die täglichen Begegnungen von Mensch zu Mensch überlassen bleiben, sind meist unzureichend qualifiziert. Multimorbide Hochbetagte mit und ohne Demenz haben den gleichen Anspruch auf ärztliche Präsenz und Hilfe wie jüngere Kranke. Sie sind auf eine kontinuierliche, kompetente und sorgfältige ärztliche Betreuung angewiesen. Eine solche ist bisher nur in Ausnahmefällen gewährleistet. Ärztinnen und Ärzte müssen in Geriatrie und in Palliative Care ausgebildet sein. Sie sollten ihre Patientinnen und Patienten gut kennen und nicht nur in Notsituationen zu Gesicht bekommen. Quälende Beschwerden wie Schmerzen oder Atemnot lassen sich heute lindern. Die Frau Doktor kommt nächste Woche wieder ist kein akzeptables Angebot, wenn jemand Schmerzen hat! LS: Sie sprechen immer wieder von der irreversiblen Krankheit Demenz. Was bedeutet das für die Betroffenen und ihre Angehörigen? Kojer: Demenz ist ein Sammelname für neurodegenerative Krankheiten unterschiedlicher Genese. Die Erkrankungen treten vorwiegend im hohen Alter auf; ihre Inzidenz steigt mit zunehmenden Lebensjahren steil an. Demenzen sind schwere, unheilbare, den Tod beschleunigende Erkrankungen. Für die Betroffenen und für ihre Angehörigen bedeutet die Diagnose ein endgültiges Urteil. Sowohl die Erkrankten selbst als auch ihre Angehörigen brauchen von Anfang an Hilfe und Unterstützung. Diagnose und Fortschreiten der Erkrankung verändern zunehmend ihr ganzes Leben. Für die Betroffenen ist die Anfangsphase der Demenz besonders schwer und belastend. Sie müssen mit der zunehmenden Gewissheit leben, dass sie mit der Zeit die meisten Erinnerungen verlieren, nicht mehr denken können, sich in ihrer Umgebung nicht mehr zurechtfinden, die Fähigkeit einbüßen, sich sprachlich auszudrücken. Viele Menschen mit beginnender Demenz werden depressiv, die Suizidgefahr steigt deutlich. Im späteren Verlauf der Erkrankung hängt die Befindlichkeit weitgehend vom Verhalten der Umwelt und der Angemessenheit der Betreuung ab. Auch betreuende Angehörige sind Adressaten von Palliative Care. Sie sind oft selbst schon alt und fühlen sich von dem Belastungspaket, mit dem sie konfrontiert sind, überfordert. Angehörige wissen meist zu wenig über die Krankheit, über die wahrscheinliche weitere Entwicklung und fragen sich, wie sie die nächsten Jahre bewältigen sollen. Meist müssen sie ihr Leben ganz umstellen, auf Vieles verzichten, was ihnen lieb war, auf Vieles, worauf sie sich in der Zukunft z.b. Lebendige Seelsorge 1/2015 35

in der gemeinsamen Zeit der Pension gefreut haben. Sie müssen mitansehen, wie immer mehr von der geliebten Persönlichkeit von Vater, Mutter oder Partner verlorengeht. Sie haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie negative Emotionen haben, und sie leiden, weil sie nichts tun können, um die Situation zu ändern. LS: Sind hochbetagte demente Menschen automatisch Palliativpatienten? Kojer: Maßstab für die Palliativbedürftigkeit multimorbider Demenzkranker ist nicht die Todesnähe, sondern die über einen variablen Zeitraum bestehende spezifische Behandlungs- bzw. Care-Bedürftigkeit. Demenz ist eine unheilbare, chronisch fortschreitende, den Tod beschleunigende Erkrankung. Laut Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind solche Krankheiten palliativbedürftig. Die Betroffenen sind in ihrer oft sehr langen letzten Lebensphase sowohl auf kurative als auch auf palliative Betreuung angewiesen. Sie brauchen sowohl unsere menschliche als auch unsere fachliche Hilfe. Palliative Geriatrie fragt nicht nur nach Krankheiten, Symptomen und therapeutischen Optionen. Hier ist der fachlich kompetente einfühlsame Mensch gefragt, der immer wieder bereit ist, aus seiner professionellen Rolle zu steigen und sich dem Du von innen heraus zuzuwenden. LS: Können Sie den Ansatz der palliativen Geriatrie noch etwas entfalten? Kojer: Palliative Geriatrie beginnt nicht erst, wenn der Tod bereits absehbar ist. Menschen, die heute in einem Pflegeheim aufgenommen werden, sind in der Regel hochbetagt, leiden an einer Reihe von nicht heilbaren, progredienten, zum Teil bereits weit fortgeschrittenen Erkrankungen und haben eine begrenzte Lebenserwartung. Im hohen Alter nehmen Belastungen aller Art zu, gleichzeitig ist immer weniger körperliche, geistige und seelische Kraft vorhanden, um damit zurechtzukommen. Selbst wenn eine Krankheit potentiell heilbar wäre, sind kurative Maßnahmen oft nicht mehr sinnvoll oder möglich, weil allgemeine Schwäche und kurze Lebenserwartung aggressivere Therapien mit länger anhaltender Beeinträchtigung der Lebensqualität ausschließen oder weil andere, gleichzeitig bestehende Erkrankungen, davon negativ beeinflusst würden. Vorrangiges Ziel ärztlicher, pflegerischer und therapeutischer Bemühungen muss es daher sein, dafür Sorge zu tragen, den Betroffenen bis zuletzt ein gutes Leben, also die bestmögliche Lebensqualität zu ermöglichen. Vor allem für die stetig anwachsende Gruppe der Demenzkranken gilt, dass die Betroffenen ihre Anliegen häufig nicht mehr selbst vorbringen, geschweige denn ihren Anspruch auf Hilfe geltend machen können. Palliativgeriatrische Arbeit bedeutet daher auch Übernahme der Anwaltschaft für Hochbetagte, die durch Schwäche, schwere Krankheit oder Demenz hilflos geworden sind. LS: Können Sie von einzelnen Biografien erzählen natürlich anonymisiert, an denen etwas vom Schicksal der Demenzerkrankung, aber auch von Handlungsmöglichkeiten deutlich wird? 36 Lebendige Seelsorge 1/2015

Kojer: Die 85-jährige Frau Maria wurde nach einem längeren Krankenhausaufenthalt anscheinend in der Endphase der Demenz an meiner früheren Abteilung aufgenommen. Sie war völlig teilnahmslos, ihre Augen blieben geschlossen oder starrten blicklos ins Leere. Sie reagierte weder auf Ansprache noch Berührung. Obwohl es fast aussichtslos schien, bemühte sich das ganze Team um sie, gab ihr Zuwendung, war geduldig, sprach immer wieder mit ihr und berührte sie einfühlsam. Wir probierten alles, was wir in Validation und basaler Stimulation gelernt hatten, um Frau Maria vielleicht doch wieder ins Leben zurück zu locken. Über lange Zeit schien unser Bemühen völlig aussichtslos, doch allmählich stellten sich erste kleine Erfolge ein. Nach einem halben Jahr schaute uns Frau Maria an, zeigte ihre Gefühle, lachte, weinte und freute sich über den Kontakt. Sie konnte sich aufsetzen und selber essen. Offensichtlich hatte sie wieder Freude am Leben. Als ich Frau Lilly kennenlernte, war sie bereits 95 Jahre alt und lebte seit 1,5 Jahren in einem Pflegeheim. Von ihren Angehörigen erfuhr ich, dass Frau Lilly ein sehr selbstbestimmtes Leben geführt hatte. Als eine der wenigen Frauen ihrer Generation hatte sie das Abitur abgelegt; sie hatte lange Zeit sehr erfolgreich als Dolmetscherin gearbeitet. Nach der Aufnahme im Heim war sie lange Zeit sehr verhaltensauffällig, wollte immer wieder weglaufen, schrie und wehrte alles ab. In der Folge erhielt sie eine Reihe von dämpfenden und beruhigenden Medikamenten. Sie war zu dieser Zeit gut gehfähig, plauderte viel und aß selbstständig. Als ich Frau Lily später als ehrenamtliche Helferin kennenlernte, hatte sich das Bild gewandelt. Die alte Dame konnte kaum mehr stehen. Die Nahrung musste ihr gereicht werden. Die Angehörigen baten mich, ihnen zu helfen, sie im Sterben zu begleiten. Ich bat um Einsicht in die Krankengeschichte und stellte entsetzt fest, dass Frau Lilly große Mengen an Psychopharmaka bekam. Nach Rücksprache mit dem zuständigen Hausarzt setzten wir die Medikamente eines nach dem andern ab. Frau Lilly wachte auf, begann wieder zu gehen, zu sprechen und zu essen. Ich besuchte sie mehrmals in der Woche. Manchmal hielt sie mich für eine Angehörige, dann wieder für ihre Freundin oder für eine andere ihr nahestehende Person. Mit Staunen erkannte ich, dass die völlig desorientierte, hochbetagte Dame noch immer mehrere Sprachen beherrschte, sehr humorvoll war und wenn ein ansehnlicher jüngerer Mann auftauchte, sogar etwas kokett. Frau Lilly lebte noch fast 2 Jahre und fühlte sich bis zuletzt in ihrem Leben wohl. LS: Was wünschen Sie sich von Seelsorgerinnen und Seelsorgern? Kojer: In erster Linie wünsche ich mir Verständnis dafür, dass man nur für die Seele eines Menschen sorgen kann, wenn man ihn und seine Bedürfnisse kennt, die Brücke der Kommunikation vom Ich zum Du gelingt und eine gute Beziehung entsteht. Unverzichtbare, aber allein nicht ausreichende Voraussetzung dafür ist eine positive, respektvolle und wertschätzende Haltung. Aber lieb und freundlich zu Lebendige Seelsorge 1/2015 37

sein bedeutet noch nicht, in Beziehung zu treten. Neben dem Grundwissen über die Erkrankung, ihren Verlauf und ihre Folgen sollten alle, die Demenzkranke betreuen, eine geeignete Kommunikationsmethode erlernen. Für mein Team und mich hat sich dafür die Kommunikation nach Naomi Feil bestens bewährt. Zuwendung, Einfühlsamkeit, Mitgefühl und körperliche Nähe sind wertvolle Geschenke für jeden Menschen mit fortgeschrittener Demenz, unabhängig von seiner Religionszugehörigkeit bzw. Religionsferne. Heute Hochbetagte sind häufig zumindest in Kindheit und Jugend in einem religiösen Umfeld aufgewachsen. Sie freuen sich über das Singen altbekannter Kirchenlieder, gemeinsames Beten, sie tauchen in vertraute Rituale und Gerüche (z.b. Weihrauch) ein, nehmen mit Freude an demenzgerechten Gottesdiensten teil. Vielleicht erleben sie dann in ihrer Weise die Nähe Gottes. 38 Lebendige Seelsorge 1/2015