Soziale Verantwortung Leitprinzip moderner Gesellschaften? 10 Thesen

Ähnliche Dokumente
Schulinternes Curriculum G8 Klasse 5 Fach: Politik/Wirtschaft

Buchners Kompendium Politik neu

Europäische Öffentlichkeit. EUROPA VERDIENT ÖFFENTLICHKEIT.

Lehrplan Sozialwissenschaften im Überblick

Er soll für Dumpinglöhne arbeiten, sagen die Konservativen. Mehr SPD für Europa.

Was besprechen wir heute?

Dr. Yve Stöbel-Richter

Sozialog-Reihe des PARITÄTISCHEN, LV Schleswig-Holstein, Kiel 03. Juni Die Erosion des Sozialen: Quo vadis Sozialstaat?

Schulinternes Curriculum G8 Klasse 5 Fach: Politik/Wirtschaft

Gemeinschaftskunde Curriculum Kursstufe 4-stündig

Ethik im Unternehmen die öffentliche Wasserwirtschaft in besonderer Verpflichtung!

Inhaltsverzeichnis. Vorwort 11 Vorwort zur zweiten Auflage 12

Die EU-Grundrechtearchitektur nach dem Vertrag von Lissabon Tagung 14. und 15. April 2011, Haus der EU

Für Menschenrechte und Säkularisierung stehen

Erklärung zu den sozialen Rechten und den industriellen Beziehungen bei LEONI

Governance - Regieren in komplexen Regelsystemen

BGYW 2016 a VOLKSWIRTSCHAFTSLEHRE GF 11/1 KAPITEL 2

Schulinterner Lehrplan für das Fach Politische Bildung in der Sekundarstufe I

Buchners Kompendium Politik neu

Was sind Werte wert? Christian Friesl 22. April 2010

Wer regiert die Welt? Global Governance nach der Finanzkrise

Von Greenpeace & CO Wie arbeiten die internationalen Umweltorganisationen

Großkundgebung Heumarkt DEMOKRATIE UND MEINUNGSFREIHEIT SOFORT!

Besprechung der Musterprüfung. Lösungsvorschlag von Silvana Güttinger

Nachhaltige Unternehmen Zukunftsfähige Unternehmen? Corporate Responsibility bei der AUDI AG

WAHLEN ZUM EUROPÄISCHEN PARLAMENT Eurobarometer Europäisches Parlament (Standard-EB 69.2) - Frühjahr 2008 Analytische Synthese

Klaus Zapka. Europaische Wirtschaftspolitik

August-Dicke-Schule, Schützenstraße 44, Solingen Kernlehrplan Politk/ Wirtschaft

Gewerkschaften und Werte

Schuleigener Arbeitsplan

Kongress "Ungarns neues Grundgesetz" Fachkonferenz über Europas jüngste Verfassung. am 19. Oktober 2012 in München

Inhalt. Vorwort 4 Didaktische Überlegungen 5

Kernlehrplan Politik / Wirtschaft der Graf-Engelbert-Schule Bochum Jahrgangsstufe 9

Zivilgesellschaftliche Bedeutung von Vereinen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund (VJM)

Themenplan WZG. Klasse 9. Kapitel 1 China. Kapitel 2 Weimarer Republik Seite 1. Leitideen, Kompetenzen und Inhalte gemäß Bildungsplan

Jahrgang 10. Thema + Leitfrage Kategorien: Erdkunde = E Politik = P Geschichte = G Wirtschaft = W. Projekte Medien Methoden

Jung, gläubig und schuldenfrei katholische Jugendverbände fordern Wege aus der Krise!

Demografischer Wandel: Vorsicht, Steuerfalle

Roman Herzog Forschungspreis Soziale Marktwirtschaft

Die Krise der Eurozone und die Zukunft der EU. Vortrag auf der Tagung des Projekts Nestor Osnabrück, Klaus Busch

Inhaltsfelder (Schwerpunkte )

YouGov Umfrage Türkei-Politik

WEGE AUS DER ARMUT. "Dein Hunger wird nie gestillt, dein Durst nie gelöscht, du kannst nie schlafen, bis du irgendwann nicht mehr müde bist"

Prof. Dr. Andreas Suchanek. Grundlagen der Wirtschaftsethik

Vorschlag für einen schulinternen Lehrplan Politik und Wirtschaft Klassen 9/10 mit Demokratie heute PLUS 3 ( )

I. Die Schweiz in der internationalen Gemeinschaft

Gibt es Auswege aus der weltweiten Beschäftigungskrise? Wolfgang Heller ILO Vertretung in Deutschland Bremen, 10. November 2005

Die Institutionalisierung von Good Governance in der Europäischen Entwicklungspolitik

Fach Wirtschaft. Kursstufe (vierstündig) Schuleigenes Curriculum. Außerschulische Lernorte (Beispiele) und Methoden

Büro Hans-Dietrich Genscher. Rede. von Bundesminister a. D. Hans-Dietrich Genscher. anlässlich des Festkonzertes. zum Tag der deutschen Einheit

Titel: Genossenschaft und Nachhaltigkeit Corporate Social Responsibility am Beispiel XY

Professionalisierung im Ehrenamt

SCHULINTERNES CURRICULUM POLITIK/ Wirtschaft (G8) Juni 2016 Seite 1

Themenbereich: Demokratie Nr. Thema Quellen Name Datum 1 Entwicklung Deutschlands im 19. und 20.

Schulinternes Curriculum Sozialwissenschaften (Sek. II) Hittorf-Gymnasium Recklinghausen

Demokratie weltweit. Materialien zur Politischen Bildung von Kindern und Jugendlichen.

Politik. Treffpunkte für die Sekundarstufe I

Der Freimaurerbund missioniert nicht und lehnt jede plakative Werbung ab. Er will nicht überreden oder verführen, sondern informieren und überzeugen.

Grenzverläufe gesellschaftlicher Gerechtigkeit

Institut_soz_04.qxp :31 Seite 1. Kommunikation und Solidarität in kulturübergreifenden Arbeitnehmerkooperationen

Dreizehnter Kaufbeurer Dialog am

Sook-Young Ahn Soziale Grenzen der Globalisierung

HIPHOP PARTEI KICK OFF

Kompetenzerwartungen im Fach Politik-Wirtschaft. Klasse 5. Sachkompetenz. Handlungskompetenz. Urteilskompetenz. Methodenkompetenz

Inhaltsverzeichnis. 1 Lebenseinstellungen Jugendlicher Wofür engagieren wir uns?...10

Kommunales Eigentum verkaufen, sagen die Konservativen. Mehr SPD für Europa.

Bedeutung und Perspektiven von Indikatoren als Instrument der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie

Auszubildende und ihre Lebenswelt. Strukturwandel der Gesellschaft

Mit der Demokratie neu beginnen Gegen die Politik der Angst, für eine Politik der Hoffnung

Informelle Ministerkonferenz zum Thema "Europa vermitteln"

Benjamin Benz/Jürgen Boeckh Ernst-Ulrich Huster. Sozialraum Europa. Ökonomische und politische Transformation in Ost und West

Die Geschichte der europäischen Nationen ist eine Geschichte der Sonderwege Staatsnationen vs. Kulturnationen Empirisch-historiographischer Zugriff

Zivilgesellschaft und Dritter Sektor: Konzeptuelle Herausforderungen

Ich darf mich zunächst sehr herzlich für die Einladung zum 18. Bundeskongress des Österreichischen Gewerkschaftsbundes bedanken.

Ergebnisse der EU-Umfrage von der LSV Steiermark

Soziale Marktwirtschaft Entstehungsgeschichte und historische Entwicklung

NGOs - normatives und utilitaristisches Potenzial für das Legitimitätsdefizit transnationaler Politik?

LE 2: Die Rechtsnatur der Europäischen Union und ihre Rechtsordnung

EINFÜHRUNG IN DIE INTERNATIONALE POLITIK Mag. Vedran Dzihic. Sommersemester 2007

Was verträgt unsere Erde noch?

PD Dr. Ansgar Klein BBE Europa-Newsletter 10/2013. Input Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)

Schulinterner Lehrplan für die Einführungsphase Sozialwissenschaften

Potenziale der Bürgerenergie

Die Sozialordnung der BLIndesrepublik Deutschland

Schulinternes Curriculum im Fach Sozialwissenschaften

Prof. Dr. Andreas Suchanek. Grundlagen der Wirtschaftsethik

Die Sozialunion als Politische Union

Von der Stakeholderbeteiligung zur Kultur der Teilhabe?

- 13 pdf-dateien und eine rtf-datei (Arbeitsblätter mit Testmaterial, Tafelzusammenfassungen, Unterrichtsfolien, Fragenkatalog mit Antworten)

Schulinterner Lehrplan für das Fach. Politik. Abtei-Gymnasium Brauweiler Kastanienallee Pulheim

Universität Bremen. Unternehmensstrategien im Zeitalter der Globalisierung

Grafik 1 / Kapitel 3 Meinungen der Jugendlichen zu Aussagen über die Altersvorsorge Jugendliche im Alter von 17 bis 27 Jahren (Angaben in Prozent)

Die Dynamik der Erzählung in Zitaten aus den 250 Gesprächen Die Zitatreise

In welcher Gesellschaft leben wir?

Föderalismus und direkte Demokratie angesichts der Entwicklung in der EU

Bundesrat Moritz Leuenberger

Humanitäre Interventionen - Die Friedenssicherung der Vereinten Nationen

Schulinterner Lehrplan für das vierstündige Prüfungsfach Politik-Wirtschaft

Transkript:

Impulsstatement Gesine Schwan Soziale Verantwortung Leitprinzip moderner Gesellschaften? 10 Thesen im Rahmen der Jahrestagung der Otto-Brenner-Stiftung Verfassungsauftrag Sozialstaat Herausforderungen für Parteien, Unternehmen und Gewerkschaften in Berlin am 22. Oktober 2008 Sperrfrist: Redebeginn Es gilt das gesprochene Wort

2 1. Der Titel dieses Teils unserer Tagung Soziale Verantwortung Leitprinzip moderner Gesellschaften?, der sicherlich schon vor geraumer Zeit festgelegt wurde, scheint mir sehr glücklich gewählt. Die Details über das Handeln der Banken, die im Zuge der Finanzkrise mehr und mehr ans Licht kommen, haben gezeigt: Gemeinwohlverantwortung ist keine Kategorie, die dem Markt eingeschrieben ist. Mehr noch: soziale Verantwortung ist ein Begriff, der in den letzten Jahren viel zu wenig beachtet und befolgt worden ist nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik. Es ist gut, dass sich dies jetzt ändert. Dabei möchte ich vorschlagen, dass die soziale Verantwortung in eine politische münden muss, um unter gegenwärtigen Bedingungen zum Ziel zu kommen. 2. Wir müssen uns öffentlich neu über den Sozialstaat verständigen. Nicht über das Ob, sondern über das Wie. Es geht um die Frage, wie wir angesichts der Ökonomisierung von Gesellschaft und Politik vor dem Hintergrund der ökonomischen Globalisierung soziale Verantwortung wieder praktizieren und durchsetzen können. Die Thematisierung der ethischen Grundlagen wirtschaftlichen und politischen Handelns wird nach der gerade erlebten Krise zwar besser gehört. Ja, sie ist augenblicklich geradezu in. Aber sie ist nur ein erster Schritt. 3. Die gegenwärtige Krise zeigt: Der Staat und unser Grundgesetz mit seinem Sozialstaatspostulat sind immer noch die wichtigsten Garanten von Gemeinwohlorientierung. Der Markt allein sorgt eben nicht fürs Gemeinwohl. In der Krise liegt deshalb insofern eine Chance, als sie eine durchschlagende Erfahrung für die Verständigung auf gemeinsames Handeln bietet. Vor allem zwei Dinge müssen wir diskutieren: die Architektur der zukünftigen internationalen Finanzordnung und die Verantwortung, die die Politik, aber auch Unternehmen des Privatsektors und Gewerkschaften sowie die weitere organisierte Zivilgesellschaft, künftig bei der Regelsetzung und der Gestaltung des Marktes im Dienste von Gerechtigkeit übernehmen müssen.

3 4. Die größte Herausforderung dabei: Wir dürfen diese Verantwortung nicht mehr national denken. Hans-Jochen Vogel hat in seinem Vortrag eindringlich darauf hingewiesen, dass oberhalb der Ebene des Nationalstaats eine zunehmend mächtige supranationale Instanz entsteht, die Europäische Union. Gleichzeitig entzieht die Globalisierung dem traditionellen Nationalstaat und damit auch der nationalstaatlich verfassten sozialen Sicherung den Boden. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, es stellt uns nur vor enorme Herausforderungen. Ulrich Beck schrieb vor zwei Wochen in der Zeit : Das Leistungsprinzip legitimiert nationale Ungleichheit, das Nationalstaatsprinzip legitimiert globale Ungleichheit. Nationale Grenzen trennen scharf zwischen politisch relevanter und politisch nicht relevanter Ungleichheit. Ungleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaften werden in der Wahrnehmung extrem vergrößert; gleichzeitig werden Ungleichheiten zwischen nationalen Gesellschaften ausgeblendet. Die Legitimation globaler Ungleichheiten beruht also auf institutionalisiertem Wegsehen. Der nationale Blick befreit vom Blick auf das Elend der Welt. Dass wir nun gezwungen werden, diese Brille abzustreifen, kann ich nur begrüßen. Unsere große Gegenwartsfrage aber lautet, welche Institutionen wir an die Stelle des Nationalstaats setzen, um sozialen Ausgleich auch international zu ermöglichen. In der Wissenschaft wird seit Jahren um ein auch empirisch anwendbares Konzept von good global governance gerungen. Die deutschen Gewerkschaften debattieren derweil intensiv, wie sie mit Europa umgehen sollen. In der erweiterten EU 25 und nach den Urteilen des EuGH zu Laval, Viking und auch zu Volkswagen scheint meinem Eindruck nach die Europaskepis in den Gewerkschaften zu wachsen. In anderen Ländern sieht man, soweit ich dies beurteilen kann, bereits einen Strategiewechsel einzelner Gewerkschaften: weg vom Versuch, den jeweiligen nationalen Sozialstaat zum Vorbild des Europäischen Sozialmodells zu machen, hin zu einer Strategie der Abschottung, die innerhalb der Landesgrenzen bewahren will, was dort in langen Jahren aufgebaut wurde.

4 5. Ob eine solche Strategie unter den gegenwärtigen Bedingungen eines neuen Globalisierungsschubs erfolgreich sein kann und ob wir ihn wollen sollen, bezweifle ich allerdings. Wenn einzelne Länder oder Gewerkschaftsbewegungen aus Europa ausscheren, sinken die Chancen der Europäischen Union dramatisch. Wollen wir das auch im eigenen langfristigen und wohlverstandenen Interesse? Mit allen Konsequenzen eines Rückfalls in Nationalismen? Mit einer weltweit verflochtenen Wirtschaft? 6. Politisch muss es, so meine ich, statt dessen darum gehen, den deutschen Sozialstaat einschließlich seiner Mitbestimmungsregelungen zu verteidigen und europäisch weiterzuentwickeln, auch um die Demokratie zu stärken. Das verlangt mühsame Gespräche auf europäischer Ebene, weil wir in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Traditionen haben. Gerade die Gewerkschaften können ein Lied davon singen. Aber wir haben ja durchaus bereits erste Erfolge, trotz der sperrigen Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs. Und die Finanzkrise hat die Gefahr, unverantwortlichen Wirtschaftens und mangelnder sozialer Regelungen des Marktes allen europäischen Ländern drastisch vor Augen geführt. 7. Vermutlich brauchen wir in der Europäischen Union eine Politik der gemeinsamen Maximen und Korridore, die es den einzelnen Staaten überlassen, ihre je spezifische Umsetzung der einmal vereinbarten Leitlinien selbst vorzunehmen. Wichtig aber ist, dass der sog. Standortwettbewerb zwischen den europäischen Staaten aufhört, der für die Staaten zu einer z.b. steuerlichen Nivellierung nach unten geführt hat. Auch die seit 2004 neu in die EU gekommenen Länder haben inzwischen gemerkt, dass sie ohne angemessene Steuereinnahmen Mühe haben, soziale Stabilität zu sichern. Dabei ginge es auch um rechtliche Regelungen, die den absoluten Vorrang des Wettbewerbs vor dem sozialen Ausgleich einschränken.

5 8. Im Übrigen können wir selbst auf der europäischen Ebene nicht Halt machen. Denn unternehmerische Entscheidungen können inzwischen alle Grenzen unterlaufen. Damit Gewinne nicht ohne jede Rücksicht auf die politischen und sozialen Folgen möglich bleiben, damit deren Kosten nicht einfach auf die immer schlechter ausgestattete Politik abgeschoben werden können, müssen die Unternehmen z. B. durch Governance-Strukturen dazu angehalten werden, die Mindeststandards der ILO (International Labor Organisation) zu akzeptieren. Man könnte dies langfristig zur Bedingung des Beitritts zur Welthandelsorganisation machen. Man könnte mit mutigen NGO s in noch nicht demokratischen Ländern zusammenarbeiten, die sich gegen einen Raubtierkapitalismus in ihren Ländern, gegen die Zerstörung der Umwelt und jeglicher sozialer Sicherungsnetze wehren. Man könnte innerhalb der Unternehmen auf einen Beitritt zu Kofi Annans Global Compact dringen und ein Zurückbleiben hinter den versprochenen Standards öffentlich ächten wozu möglicherweise NGO s mehr Freiheit haben als Gewerkschaften. 9. Das alles ist mühsam, verlangt viele freiwillige Aushandlungen und viel Härte, das Ausgehandelte dann auch durchzusetzen. Dazu ist die Öffentlichkeit die wichtigste Arena, weil Unternehmen in der auch für sie bestehenden Unübersichtlichkeit und Unsicherheit genau auf ihr Reputations- und Vertrauenskapital achten müssen. 10. Im Übrigen haben Gewerkschaften zumindest in Deutschland immer auf friedlichen Wandel und Verständigungsfähigkeit gesetzt. Sie sind innerhalb unseres Staates damit durchaus weit gekommen. Mit dieser ermutigenden Erfahrung sollten wir auch in die internationale Arena gehen. Das Ziel sind bessere Verhaltensweisen und bessere Strukturen zugleich. Eines ohne das andere genügt nicht.