Zwangsheirat ächten Zwangsehen verhindern!

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Transkript:

Zwangsheirat ächten Zwangsehen verhindern! Gemeinsam gegen Verbrechen im Namen der Ehre Positionspapier zu Handlungsbedarf in Sachsen-Anhalt als Ergebnis der landesweiten Umfrage und Fachtagung am 12.02 2010 in Magdeburg Verfasser: Vera, AWO-Fachstelle gegen Frauenhandel und Zwangsverheiratung in Sachsen-Anhalt

Einleitung Zum Begriff der Ehre Ehre ist nicht leicht zu definieren. Sie ist keine Sache, die wir besitzen können. Niemand scheint Ehre einfach so haben zu können. Sie ist ein Prozess, das Empfinden vom Wert der eigenen Person, verbunden mit dem Willen, ihn zu erhalten und zu mehren. Ehre hat mit Maßstäben und Werten zu tun und vertieft deren Bedeutung. Ehre steht in enger Beziehung zur Scham. Das Gegenteil der Ehre ist die Schande. In der westlichen Welt ist hiermit oft der Verlust der Ehre oder in milderer Form eine persönliche Blamage gemeint. Beim Verlust der Ehre ist auch von Gesichtsverlust die Rede, was sich auf den Verlust von Ansehen innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe bezieht. Das Streben nach Wiederherstellung der Ehre führt nicht selten zu persönlichen und äußeren Konflikten. Gewalttaten, Verbrechen, Racheausübungen zur Wiederherstellung der Ehre, bzw. im Namen der Ehre sind kein religiöses Phänomen. Keine Religion legitimiert die schweren Menschenrechtsverletzungen, die im Namen der Ehre begangen werden, oder schreibt sie gar vor. Vielmehr trifft zu, dass in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen, in vielen Kulturkreisen und Ländern Ehre unterschiedlich definiert wird. Nicht selten wird mit dem Wort Ehre das Aburteilen von Menschen und den Einsatz von Gewalt verschleiert und beschönigt. Im Wertesystem der nationalsozialistischen Ideologie zum Beispiel galt als ausschlaggebendes Kriterium für die Ehre des Individuums die Rassezugehörigkeit. In Gesellschaften, in denen das Ansehen einer familiären, ethnischen oder religiösen Gruppe über das Wertesystem des Individualismus gestellt wird, kann verletzte Ehre auf gewaltsame Weise wiederhergestellt werden (z.b. über Rache, Duell oder Ehrenmord). Ein besonderes soziales Phänomen ist die Familienehre. In vielen traditionell patriarchalischen Gesellschaften ist die Ehre der gesamten Familie vom richtigen Verhalten der weiblichen Familienmitglieder abhängig. Verstößt ein weibliches Familienmitglied gegen die vorherrschenden Normen und wird dies bekannt, ist die Familienehre beschädigt, wenn nicht gar zerstört, und somit auch das gesellschaftliche Ansehen der gesamten Familie. Hintergrund ist die Kontrolle der weiblichen Sexualität. Sexualität wird nur innerhalb der Ehe toleriert. Dabei reicht in manchen Fällen der Verdacht oder das Gerücht, ein Mädchen sei mit einem fremden Jungen oder Mann gesehen worden, um die Familienehre nachhaltig zu beschädigen. Die Aufgabe der Männer ist es, die Familienehre zu bewahren bzw. das Verhalten der weiblichen Familienangehörigen daraufhin zu kontrollieren. Gelingt ihnen dies nicht, besteht die Möglichkeit einer Wiederherstellung der Familienehre nur durch Ermordung des Mädchens oder der Frau, die für Ehrverlust verantwortlich ist. (Terre des Femmes) 2

Verbrechen im Namen der Ehre in Sachsen-Anhalt Die AWO-Beratungsstelle Vera hat im Jahr 2009 das bestehende Unterstützungsangebot für Betroffene von Menschenhandel um das Hilfeangebot für Betroffene von Zwangsheirat/ Zwangsehe/Gewalt im Namen der Ehre erweitert. Um einen umfassenden Überblick über die Ausprägung des Phänomens sowie den Beratungsbedarf in Sachsen-Anhalt zu erhalten, hat Vera im Jahr 2009 eine landesweite Umfrage durchgeführt. Die Ergebnisse der Umfrage wurden am 12.02.1010 im Rahmen der Fachtagung Zwangsheirat ächten Zwangsehen verhindern! Gemeinsam gegen Verbrechen im Namen der Ehre 1 der Fachöffentlichkeit vorgestellt. Landesweite Umfrage Im Juli 2009 wurden an die Fachöffentlichkeit (Beratungsstellen und Frauenhäuser; Ermittlungsbehörden; andere Behörden und Ämter; Gleichstellungsbeauftragte; Jugendämter; Schulen; Sonstige) etwa 400 Fragebögen verschickt. Die Stellen wurden nach Fällen von - Zwangsverheiratung - Zwangsehe - Gewalt im Namen der Ehre 2 im Zeitraum 2007 bis Mitte 2009 befragt. 66 Fragebögen kamen an die Beratungsstelle zurück. Das ergibt eine Rücklaufquote von 16,5 %. 24 aus insgesamt 66 Stellen (66 zurückgesandte Fragebögen) berichteten über Ihnen bekannte Fälle von Verbrechen im Namen der Ehre. 1 Die Fachtagung wurde durch die AWO-Beratungsstelle Vera organisiert und vom Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt unterstützt. 2 Eine Zwangsheirat ist eine Eheschließung, bei der eine Ehepartnerin bzw. ein Ehepartner oder beide durch Druck, Androhung oder Anwendung von Gewalt zur Zustimmung bewegt werden. Einen Menschen mit diesen Mitteln zur Heirat zu nötigen ist strafbar ( 240 StGB).Eine Zwangsehe liegt vor, wenn die Ehepartnerin bzw. der Ehepartner gezwungen wird, gegen den Willen am Fortbestand der Ehe festzuhalten unabhängig davon, wie die Ehe zustande gekommen ist. Bei der Ausübung dieses Zwangs können mehrere Straftatbestände verletzt sein (z.b. Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Vergewaltigung). Man nennt diese Arten von Verletzung der Integrität der Person in Verbindung mit Zwangsheirat/Zwangsehe Ehrbezogene Gewalt. Zwangsheirat und Zwangsehe sind Menschenrechtsverletzungen. Diese Formen der Eheschließung und der Ehe bedeuten stets einen gravierenden Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung, auf persönliche Freiheit, in die Menschenwürde und häufig auch in die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen. Bei Minderjährigen stellt eine Zwangsheirat/Zwangsehe immer eine Form der Kindeswohlgefährdung nach 8a SGB VIII dar. Auch Männer können Opfer von Zwangsheirat sein. 3

Insgesamt wurden im Zeitraum von 2007 bis Mitte 2009 in 24 Stellen 84 Fälle von Verbrechen im Namen der Ehre registriert. Zur Art der ausgeübten Gewalt gibt folgendes Schema die Auskunft: Art der Gewalt 80 70 Anzahl Betroffene 84 60 50 40 30 20 18 21 57 10 0 Zwangsheirat Zwangsehe Gewalt im Namen der Ehre Meldungen aus 24 Fragebögen Die Ergebnisse der Umfrage zentrieren sich hinsichtlich des erkannten Handlungsbedarfs im Wesentlichen auf drei Problembereiche: 1. Problem identifizieren um sachgerecht und fallgerecht zu handeln Ehrbezogene Gewalt ist im Regelfall häusliche Gewalt. Ob sich im Fall von häuslicher Gewalt um ehrbezogene Gewalt handelt, kann nur in klärenden Gesprächen mit Betroffenen erkannt werden. Damit Schutz, Hilfe und Prävention wirkungsvoll geleistet werden können, ist eine gute Kooperation der beteiligten Personen und Institutionen erforderlich. Dabei geht es um gegenseitige Informationen und Absprachen über das Vorgehen im Einzelnen. Dabei geht es aber ebenso um Einhaltung der Anonymität, um die Geheimhaltung. Sensibler Umgang mit der Problematik ist notwendig. Die Betroffenen von Verbrechen im Namen der Ehre - Zwangsheirat und Zwangsehe - befinden sich in einem schwierigen Konflikt zwischen den eigenen Vorstellungen und denen der Eltern. Deshalb fühlen sich in vielen Fällen die betroffenen Mädchen und Frauen zunächst hilflos. Die in der Regel starke Familienbindung der Betroffenen von Zwangsheirat/ Zwangsehe/ehrbezogene Gewalt verschärft die Problemsituation. Insbesondere junge Frauen beugen sich dem Druck, weil sie glauben, es den Eltern bzw. der gesamten Familie schuldig zu sein. Sie zögern, die Beratung in Anspruch zu nehmen, weil sie keine Entfremdung von der Familie wollen. Frauen, die sich wegen einer (drohenden) Zwangsheirat ganz von der Familie gelöst haben, leben häufig in Angst oder leiden erheblich unter dem Gefühl, eine Ausgestoßene zu sein. 4

2. Netzwerkbildung/Strukturen zur besseren Unterstützung der Betroffenen identifizieren, ermitteln und/oder schaffen Es gibt in Sachsen-Anhalt gut funktionierende Strukturen in der sozialen Arbeit gegen Gewalt an Frauen. So kann man auf bereits funktionierende Netzwerke, Erfahrungen und Kenntnisse zurückgreifen. Zu beachten sind im Falle der Betroffenen von ehrbezogener Gewalt folgende Spezifika: a) das Gefährdungspotential der Betroffenen wird als hoch eingeschätzt; b) in Fällen des Abbruchs der Kontakte zu Familie ist eine Unterbringung in einem anderen Bundesland notwendig; c) es handelt sich in vielen Fällen um Minderjährige, so dass die Frage der Erziehungsberechtigung/ Vormundschaft zum Problem wird; Konkrete Ansprechpartner bei Behörden/Ämtern zwecks reibungslosen Ablaufs von Formalitäten und Gewährleistung der Sicherheit (Stichwort: Geheimhaltung infolge potentieller Gefährdung) sind notwendig. Die Zusammenarbeit / Austausch / Kontakte zwischen den Beteiligen müssen intensiviert werden. Personelle und finanzielle Ressourcen sind zu erkennen, um kontinuierlich präventive Maßnahmen an Schulen, Jugendclubs u.ä. anzubieten. Schulungen für beteiligte Fachöffentlichkeit sind zu organisieren und zu sichern. 3. Maßnahmen Zuständigkeiten festlegen und Sofortmaßnahmen optimieren In der Frage nach der Art der Schwierigkeiten in der Hilfeleistung wurde ein hohes Gefährdungspotential für alle Beteiligten am höchstens bewertet. In Fällen, in denen schnelles Handeln geboten wird, fehlt es an Strukturen (Regelungen, Ansprechpartner, Unterbringungsmöglichkeiten), an Souveränität im Handeln. Es herrscht noch viel Unsicherheit im Umgang mit Betroffenen, vor allem in Fällen, in denen die Betroffenen noch minderjährig sind. Selten stellen die Betroffenen eine Anzeige gegen die Täter, so dass die Polizei keine Grundlage zum Handeln hat. Geeignete Unterbringungen für die Frauen/Mädchen fehlen. Das Gefährdungspotential wird höher als in Fällen von häuslicher Gewalt geschätzt. Enorm wichtig ist es deshalb, feste und klare Strukturen für Sofortmaßnahmen zu schaffen (Unterbringung, polizeilicher Schutz, Absicherung des Lebensunterhalts, Schulwechsel) Hilfreich wäre ein Handlungsleitfaden zur Umgehensweise bei Fällen von ehrbezogener Gewalt für beteiligte Fachöffentlichkeit. 5

Eckpunkte der Diskussion in der Fachtagung am 12.02.2010 und daraus entstandene Forderungen an die Entscheidungsträger in der Politik und Verwaltung In der anschließenden Diskussion nach der Darstellung der Ergebnisse der Umfrage wurden drei komplexe Problembereiche identifiziert, die im folgenden als Handlungsbedarf definiert und an die Entscheidungsträger in der Politik und Verwaltung gerichtet werden. Forderung - Prävention Präventive Maßnahmen sind notwendig. Zu denken ist dabei an die Aufklärung zur Problematik an Schulen sowie in den Migrantinnenvereinen. Die Subjekte der präventiven Maßnahmen müssen sowohl Mädchen/Frauen als auch Jungen/Männer sein. Beide Geschlechter stehen im Zusammenhang mit Ehrverbrechen unter enormen gesellschaftlichen Druck. Die Pflicht des Mannes ist die Bewahrung bzw. die Wiederherstellung der Familienehre, notfalls auch mit Gewalt. Kommt der Mann seiner Pflicht zur Verteidigung und Wiederherstellung der Familienehre nicht nach, gilt er als unmännlich und wird von der Gesellschaft/Gemeinschaft als nutzlos abgestempelt. Forderung - Unterbringung Erkannt wurde der Mangel an geeigneter Unterbringung zum Schutz der Betroffenen in Sachsen- Anhalt. In Fällen von Gewalt im Namen der Ehre oder drohender Zwangsheirat sind die Mädchen/ Frauen häufig massiv bedroht. Es ist deshalb notwendig, sie an einem weiter entfernten Ort, am besten in einem anderen Bundesland, unterzubringen. Es muss nämlich damit gerechnet werden, dass die Familien bundesweit nach dem Mädchen suchen und dass die Gewaltsituation eskaliert. Minderjährige oder junge Volljährige, die vor ihrer Familie fliehen müssen, bedürfen einer spezialisierten Einrichtung. Es gibt bundesweit einige anonyme Schutzeinrichtungen, die auf das Thema Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsheirat spezialisiert sind (Papatya Berlin, Mädchenhaus Bielefeld, Ada). Die Unterbringung in diesen Einrichtungen ist deshalb notwendig, weil diese mit der Bedrohungssituation vertraut sind und daher entsprechende Maßnahmen der Anonymisierung einleiten können. Andere Jugendschutzeinrichtungen sind häufig nicht in dem Maße auf eine akute Bedrohungslage vorbereitet. Außerdem suchen die Familien zunächst Jugendschutzeinrichtungen in der näheren Umgebung ab, um ihre Tochter oder Schwester zu finden. Die Mädchen und jungen Frauen, die von Gewalt im Namen der Ehre und/oder Zwangsheirat betroffen sind, wurden häufig über einen längeren Zeitraum unterdrückt und in ihrer freien Lebensgestaltung massiv eingeschränkt. Sie sind daher häufig ungewöhnlich unselbständig für ihr Alter, weil sie nie allein Entscheidungen treffen mussten. Außerdem sind sie es gewohnt, in einer Großfamilie zu leben. In einer spezialisierten Wohngruppe können sie eine Art "Familienersatz" 6

erleben und gemeinsam mit Pädagoginnen und Psychologinnen Wege in ein selbstbestimmtes Leben zu finden. Ein Frauenhaus ist für junge Volljährige in dieser Situation häufig nicht so gut geeignet wie diese spezialisierten Einrichtungen, weil die Frauen hier für sich selbst sorgen müssen. Die spezielle Situation der Betroffenen muss in der Verwaltungspraxis der beteiligten Fachöffentlichkeit Anerkennung finden. In institutionellen Einrichtungen sind feste Ansprechpartner zu nennen, um unkomplizierte Verwaltungswege zu schaffen, die schnelles Handeln, Geheimhaltung und die Sicherheit der Beteiligten gewährleisten können. Eine enge Zusammenarbeit unter den beteiligten zuständigen Leistungsträgern wie Jugendämter, Sozialämter oder ARGE sowie mit Beratungsstellen/ Schutzwohnungen in anderen Bundesländern muss angestrebt werden. Forderung - Fortbildungen für die beteiligten Akteure sowie Hilfsleitfaden Aufklärungs- und Informationsarbeit für beteiligte Fachöffentlichkeit ist notwendig. Zu denken ist dabei an a. Schulungen der Sachbearbeiter in der Verwaltung sowie der Multiplikatoren (Lehrer, Schulsozialarbeiter, Mitarbeiter der Beratungsstellen etc.). Da es sich in vielen Fällen von Ehrverbrechen um Minderjährige und junge Erwachsene handelt, wird der Tätigkeit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Jugendämtern eine herausragende Rolle zukommen. Neben Fortbildungsveranstaltungen müssen deshalb insbesondere in diesem Bereich die Zuständigkeiten festgelegt werden. b. Erstellung eines Handlungsleitfadens für die beteiligten Akteure in der Fachöffentlichkeit, der das Vorgehen in der Praxis routinisieren und somit das Gefährdungspotential minimieren würde. Darüber hinaus ist zu prüfen, wie weit reichen die vorhandenen Strukturen zur Unterstützung der Betroffenen von häuslicher Gewalt mit besonderer Blickrichtung auf Migrantinnenfamilien aus. 7