Sylvia Doebelt log & capture
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Zeit, die:»die begrifflich nicht bestimmbare, uns nur durch die innere Anschauung bekannte Form, unter der sich alle seelischen Tätigkeiten des Menschen aneinanderreihen. Jeder Akt des psychischen Lebens ist ein Jetzt", das von allem Vorher" und von allem Nachher" unterschieden wird. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind daher die drei Elemente, welche die Zeit bilden: diese sind aber stets relativ, da das Jetzt" nur durch den bestimmten Inhalt der psychischen Tätigkeit charakterisiert ist und deshalb sich mit diesem in stetiger Fortbewegung befindet.«brockhaus Konversations-Lexikon, 1908»In physikalischer Betrachtungsweise eine nach allen Erfahrungen unbeeinflussbare, jedoch nach der Relativitätstheorie vom Bewegungszustand eines zeitmessenden Beobachters abhängige Größe, die als monoton zunehmder Parameter zur Charakterisierung des Ablaufs aller Ereignisse verwendet wird. Da die Bewegungsgesetze der Physik invariant gegenüber der Zeitumkehr sind, liefern sie kein Kriterium für die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft.«Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 1979 4
»Im Zeiterleben manifestiert als Erinnerung, momentanes Denken und Handeln, und Planung und Erwartung. Die Zeit wird nicht als kontinuierlich empfunden. Die kleinste wahrnehmbare Zeiteinheit ist der psychische Moment. Bei der Zeitschätzung kommt es wesentlich auf das jeweilige Aktivierungsmoment des Organismus an; Zeit-Täuschungen entstehen besonders beim Vergleich von rhythmisierten und unrhythmisierten Zeitstrecken. Massive Beeinträchtigungen des Zeiterlebens treten besonders im Zusammenhang mit physiologischen und psychologischen Ausnahmesituationen auf.«brockhaus, Die Enzyklopädie, 1999 5
»Die Absence dauert einige Sekunden, Anfang und Ende sind abrupt. Die Sinne bleiben wach aber für äußere Eindrücke unempfindlich. So unvermittelt wie die Abwesenheit ist auch die Rückkehr. Die beiden Enden der bewußten Zeit werden automatisch wieder zusammengefügt und bilden eine kontinuierliche Zeit ohne erkennbare Einschnitte.Die Absencen können sehr zahlreich sein, mehrere hundert am Tag, meist werden sie von der Umgebung nicht bemerkt; man spricht hier von Pyknolepsie. Aber auch für den Pyknoleptiker ist nichts vorgefallen, die abwesende Zeit hat für ihn nicht existiert.ohne es zu merken, ist ihm ein wenig seiner Dauer einfach entglitten.«6
»Man will ihn dazu bringen, von Ereignissen Rechenschaft abzulegen, die er gar nicht gesehen hat, obwohl sie sich in seiner Gegenwart abgespielt haben. Er muß auf der Suche nach der fehlenden Information immer wieder die Grenzen seines Gedächtnisses durchbrechen.«er muß»die Sequenzen zusammenfügen, ihre Umrisse aufeinander abstimmen und eine Entsprechung herstellen zwischen dem, was man sieht, und dem, was man nicht gesehen haben kann, zwischen dem, woran man sich erinnern, und dem, woran man sich offenbar nicht erinnern kann. Es muß erfunden, nachgebildet werden, um dem discursus Wahrscheinlichkeit zu verleihen.«7
Die Vorstellung der Zeit als eine Dimension menschlicher Erfahrung stellt in ihrer Wechselhaftigkeit zwischen erfahrener Schwankung und angenommener Stetigkeit eine Bedingung der Selbsterfahrung und Selbstverortung des Menschen dar, für das ein Bezugssystem benötigt wird. Dafür muss angenommen werden, daß eine Zeit außerhalb unserer Wahrnehmung à priori existiert - denn tatsächlich nimmt der Mensch die Zeit niemals an sich wahr, sondern immer nur Vorgänge in ihr. 8
»Beschleunigter Transport von Personen, Zeichen und Dingen reproduziert die Wirkung der Pyknolepsie und verstärkt sie noch, denn er entreißt das Subjekt immer wieder seinem raum-zeitlichen Kontext.«9
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Die Fortbewegung macht das Sehen zum Rohstoff: es generiert nicht mehr so sehr Bilder als vielmehr neue, übernatürliche Erinnerungsspuren. Das Plötzliche impliziert dermaßen viele Ereignisse auf einmal, daß der Blick sie nicht alle zu erfassen vermag, sondern sich auf deren Resumé beschränkt - sich wiederholende und bereits bekannte Informationen stören die Betrachtung der Form; vielmehr ist das, was wahrgenommen wird, das, was sich der Blick aus einer Kolonne vorüberziehender objektiver Elemente zusammensucht:»der Mechanismus unseres gewöhnlichen Bewußtseins ist kinematografischer Natur.«23
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Der Begriff einer Zeit, welcher einzig die Wirklichkeit des Augenblicks zukäme, könnte sich nur darauf stützen, daß wir uns unserer Geschwindigkeit nicht bewußt sind. Denn die Einführung des Subjektes in die Hierarchie der Geschwindigkeiten destabilisiert den Augenblick und hebt die Bezugspunkte auf. 52
»Bestimmt man die Pyknolepsie in dieser Weise als Massenphänomen, könnte man dann auf die Frage, wer ist Pyknoleptiker, nicht eher entgegnen: wer ist es nicht oder nicht schon einmal gewesen?«53
Zeit kann je nach unserer Kunst zu sehen entweder dazu dienen, sich täuschen zu lassen, oder etwas anderes zu betrachten als das, was man zu sehen glaubt. 54
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Anhang Quellen: Seiten 6+7 Paul Viriliio,»Ästhetik des Verschwindens«, Merve 1986, S. 9+10 Seite 8 Sylvia Doebelt,»Über Warten«, 2004 Seite 9 Paul Viriliio,»Ästhetik des Verschwindens«, Merve 1986, S. 113 Seite 23 nach Paul Virilio,Vgl.»Ästhetik des Verschwindens«, Merve 1986, S. 42, 52, 67, 95 Seite 52 nach Paul Vririlio,Vgl.»Ästhetik des Verschwindens«, Merve 1986, S. 117, 121 Seite 53 Paul Vririlio,»Ästhetik des Verschwindens«, Merve 1986, S. 15 57
»log & capture«entstanden unter Leitung von Prof. Joachim Jansong Fotografien: Sylvia Doebelt Satz: Sylvia Doebelt Fonts: Gill Sans Italic, Gill Sans light Druck und Bindung: Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig Auflage: 2+1 Sylvia Doebelt 2004