Altersarmut in Deutschland: wie wird sie gemessen und wer ist betroffen? Johannes (DIW) Fachtag Altersarmut als Realität und Zukunftstrend Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Nds. e.v. (LVG & AFS), Hannover 22 Februar 2016
Gliederung 1 Einführung 2 Armutsrisikoquote 3 Grundsicherungsleistungen 4 Diskussion Altersarmut 2 / 25
Einleitung Seit Jahren wiederkehrende politische Debatte um die Altersarmut Reduzierung des Sicherungsniveaus der Gesetzlichen Rentenversicherung Arbeitsmarktreformen, Niedriglohnsektor & fragmentierte Erwerbsbiografien Altersarmut ist in der Regel eine dauerhafte soziale Lage, an der die Betroffenen nur noch selten etwas ändern können Umstritten ist die tatsächliche Höhe der Altersarmut, aber vor allem unterscheidet sich die politische Beurteilung Altersarmut 3 / 25
Zwei Meldungen Bei der Berichterstattung zur Altersarmut kommt es immer wieder zu Kontroversen. Hier zwei fast zeitgleiche Kommentare aus 2012: Südwest Presse: Wissenschaftler: Altersarmut derzeit kein Problem (Link zum Artikel) (abgerufen am 23.02.2016). Die Studie, auf die sich der Artikel bezieht ist hier abrufbar: Studie und hier ist ein kritischer Kommentar zu der Studie aus dem Wirtschaftsdienst: Kommentar Altersarmut bereits heute Realität ist eine Meldung der Hans Boeckler Stiftung aus demselben Jahr: HBS Altersarmut 4 / 25
Inhalt des Vortrages Vorstellung der üblichen Konzepte zur Messung von Altersarmut Zahlen zur aktuellen Lage: Armutsrisikoquote und Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungen Ursachen der Altersarmut und Ausblick auf zukünftige Entwicklung Altersarmut 5 / 25
Armutsmaße Zwei unterschiedliche Maßzahlen zur Messung von Altersarmut: Relative Armut (Statistische Armutsmessung) Bezug staatlicher Transfers (hier insbesondere Grundsicherungsquote) Weitere Armutsmaße: Absolute Armut (z.b. UN Armutsschwelle von 1,25$ pro Tag) Multidimensionale Armutsmaße Altersarmut 6 / 25
Statistische Armutsmessung I Als armutsgefährdet gelten Menschen, die weniger als 60% des mittleren Netto-Äquivalenzeinkommens besitzen. Besonderheiten: Neben dem verfügbaren Einkommen wird häufig auch der Mietwert selbstgenutzter Immobilien geschätzt und dem Einkommen hinzugerechnet Vermögen wird nicht berücksichtigt Definition des mittleren Einkommens (z.b. Median auf Bundesebene oder unterschieden nach Ost und West) Basiert häufig auf Befragungen der Wohnbevölkerung (z.b. SOEP, EU-SILC, SHARE) Altersarmut 7 / 25
Statistische Armutsmessung II Äquivalenzeinkommen bezeichnet ein vergleichbares pro-kopf Einkommen, das Bedarfsunterschiede zwischen Haushalten berücksichtigen soll (neue OECD Skala): der Haushaltsvorstand erhält das Gewicht 1; weiter Personen über 14 Jahren erhalten ein Gewicht von 0,5 und jüngere Kinder 0,3. Beispiel: Eine Ehepaar mit zwei Kindern (16 und 12) habe ein verfügbares Einkommen von 3.000 Euro. Pro-Kopf hätte jeder 3000/4 = 750 Euro, aber die Äquivalenzskala führt dazu, dass das Einkommen nur durch 2,3 geteilt wird, also verfügen sie über ein äquivalentes Einkommen von 1.304. Altersarmut 8 / 25
Armutsschwelle 2014 1: Schwellenwerte nach Bundesländern und Haushaltstyp Euro pro Monat 0 500 1,000 1,500 2,000 769 1615 800 1680 803 1686 815 1712 822 1727 841 1767 848 1781 890 1870 Meckl. Vorp. Sachsen Anhalt Sachsen Thüringen Bremen Berlin Brandenburg Saarland Alleinlebend 895 1879 Nordrhein Westfalen 907 1905 917 1926 942 1979 952 2000 961 2018 964 2025 998 2096 1009 2119 Niedersachsen Deutschland Rheinland Pfalz Schleswig Holstein Hessen Hamburg Bayern Baden Württemberg Familie mit 2 Kindern u14
Armutsrisikoquote 2005 2014 2: Gesamt und Bevölkerung ab 65 Armutsriskoquote 10 12 14 16 14.7 11 14 10.4 14.3 11.3 14.4 12 14.6 11.9 14.5 15 15 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Jahr 12.3 13.2 13.6 15.5 14.3 15.4 14.4 Gesamt Über 65 Jahre
Armutsrisikoquote 2005 2014 3: Gesamt und Bevölkerung ab 65 (mit Niedersachsen) Armutsriskoquote 10 12 14 16 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Jahr Gesamt Über 65 Gesamt Niedersachsen Über 65 Niedersachsen
Armutsrisikoquote 2005 2014 4: Nach Geschlecht und Alter Armutsriskoquote 8 10 12 14 16 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Jahr Männer Frauen Männer über 65 Frauen über 65
Armutsrisikoquote 2005 2014 5: Personen über 65 nach Geschlecht (mit Niedersachsen) Armutsriskoquote 8 10 12 14 16 18 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Jahr Männer über 65 Frauen über 65 Niedersachsen Niedersachsen
Grundsicherungsleistungen Im Kontext der Altersarmutsdiskussion relevant: 1 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2 Hilfe zur Pflege 3 Wohngeld Quoten hängen neben der Bedarfsprüfung von der Inanspruchnahme ab Politische Armutsgrößen erhöht sich der Regelsatz der Grundsicherung, erhöht sich die Armut Altersarmut 14 / 25
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Gesetzliche Definition des Hilfebedarfs: 4.Kapitel SGB XII Anspruch auf Grundsicherung haben Personen, die die Altersgrenze erreicht haben Personen ab 18, die dauerhaft voll erwerbsgemindert sind Leistungen entsprechen der Hilfe zum Lebensunterhalt (3.Kapitel SGB XII) bei Verzicht auf den Unterhaltsrückgriff und Ausschluss der Haftung von Erben Strenge Einkommens- und Vermögensanrechnung: eigenes (bereinigtes) Einkommen Vermögen über 2.600 Euro Partnereinkommen, das den Grundsicherungsbedarf übersteigt Altersarmut 15 / 25
6: Grundsicherungsbezug von 2003 bis 2013 (nach Alter und Geschlecht) Bezieher von Grundsicherung (in Taussend) 0 100 200 300 400 500 99 75 128 89 159 110 2003 2004 2005 2006 2007 172 122 189 130 200 139 2008 204 140 Männer 216 147 229 158 2009 2010 2011 2012 2013 245 171 261 186 82 183 105 204 129 233 139 249 151 263 2003 2004 2005 2006 2007 18 65 65+ 158 271 2008 160 260 Frauen 169 265 178 278 2009 2010 2011 2012 2013 190 294 202 313
Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003-2013 in % der jeweiligen Bevölkerungsgruppe, am Jahresende Voll erwerbsgemindert: 18-65 + Jahre Frauen Männer Insgesamt 0,8 0,9 1 2013 65 Jahre + 2 Monate u. älter Frauen Männer Insgesamt 2,6 3 3,3 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 3,0 25 2,5 2,0 2003-2013 2,5 28 2,8 65 Jahre bzw. Regelaltersgrenze u. älter 3,0 1,5 1,0 0,5 00 0,0 1,7 18-65 Jahre bzw. Regelaltersgrenze 0,9 0,9 0,7 0,3 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Quelle: Statistisches Bundesamt (2014), Arbeitstabellen abbiii51 Kommentierung und methodische Hinweise > Seiten 2-4
Weitere Besonderheiten: Viele Grundsicherungsempfänger haben keine Anwartschaften in der GRV: 2013 hatten 25% der Personen ab der Altersgrenze keine eigenen Anwartschaften; bei jüngeren Beziehern waren es sogar 66% Anteil der Grundsicherungsempfänger an EM Rentenbeziehern vor Erreichen der Altersgrenze steigt extrem an von 4,1% 2003 auf fast 14% 2013 Altersarmut 18 / 25
Wohngeld Zuschuss zu den Kosten der Unterkunft (Mietzuschuss bzw. Lastenzuschuss) 2013: Bundesweit 665.000 Wohngeldhaushalte; davon 46% oder 305.900 Rentnerhaushalte Rentnerhaushalte weisen eine relativ hohe Mietbelastung auf: 33% Reform 2016: Anhebung der Leistungen (letztmalig 2009); Schätzung des Anstiegs des Empfängerkreises um 870.000 Haushalte (320.000 neue Haushalte). Rund 90.000 werden von der Grundsicherung ins Wohngeld wechseln Altersarmut 19 / 25
Sozialhilfe Nachrangige Sozialleistung Im Kontext der Altersarmut vor allem bei Pflegebedarf relevant Hilfe zur Pflege Vor Erreichen der Altersgrenze bei befristet voll erwerbsgeminderten Personen Hilfe zum Lebensunterhalt Altersarmut 20 / 25
Hilfe zur Pflege 700 Empfänger von Hilfe zur Pflege 1992-2013 innerhalb und außerhalb von Einrichtungen und Gesamtzahl in 1.000 674 600 563 500 400 300 674 563 439 444 426 423 411 397 128 130 95 insgesamt 121 115 360 110 324 313 328 87 außerhalb von Einrichtungen 289 80 86 89 85 200 100 333 205 246 229 241 301 308 317 320 276 291 in Einrichtungen 0 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2011 2012 2013 Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2014), Fachserie 13, Reihe 2.3 abbiii55 Kommentierung und methodische Hinweise > Seiten 2-3
Hilfe zur Pflege 1: Empfänger von Hilfe zur Pflege 2013 (Anteile der Altersgruppen) Gesamt Unter 65 65-80 80 und älter Männer 155.155 35,8 42,8 21,5 Frauen 288.857 14,0 29,1 56,9 Gesamt 444.012 21,6 33,9 44,5 80% der Empfänger älter als 65 Hohe Inanspruchnahme in Pflegeheimen Altersarmut 22 / 25
Ursachen von Altersarmut und Ausblick Rückbau der Alterssicherung Absenkung des Rentenniveaus durch demografischen Faktor Riester Leistungen für Geringverdiener / Arbeitslose EM Rente Arbeitsmarkt Niedriglöhne Arbeitslosigkeit Sozialversicherungsfreie Beschäftigung... Altersarmut 23 / 25
Zusammenfassung Armutsrisikoquote der Älteren liegt im Bevölkerungsdurchschnitt, ist in den letzten Jahren aber stärker gestiegen Armut von Älteren häufig dauerhafter Zustand Armut als Inanspruchnahmequote von Grundsicherungsleistungen unterdurchschnittlich aber problematisches Armutsmaß, weil politisch definierter Leistungskatalog Rolle von nicht-inanspruchnahme unklar Hilfe zur Pflege und Wohngeld müssten ebenfalls berücksichtigt werden Altersarmut 24 / 25
Weiterführendes Zwei Round-Ups des DIW Berlin zum Thema: Zukünftige Altersarmut (vom Juni 2014) Grundsicherungsbezug und Armutsrisikoquote (vom April 2015) Linksammlung zum Thema auf Sozialpolitik-aktuell: Altersarmut Altersarmut 25 / 25