Die EU-Fluggastrechte-VO und das Montrealer Übereinkommen

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Transkript:

Die EU-Fluggastrechte-VO und das Montrealer Übereinkommen Von Prof. Dr. Klaus Tonner, Rostock* AUFSÄTZE Der Beitrag geht auf die Verteilung des Luftbeförderungsrechts auf die drei Ebenen des internationalen, europäischen und nationalen Rechts ein, wobei die jeweils höhere Ebene Vorrang vor den unteren Ebenen genießt. Dies führt vor allem bei Verspätungsregelungen zu Konflikten, die sowohl im Montrealer Übereinkommen wie in der Fluggastrechte-VO enthalten sind. Nach Ansicht des Verfassers haben die Regelungen der Fluggastrechte-VO jedoch Bestand, auch unter Einschluss der Rechtsprechung des EuGH, die Ausgleichszahlungen auch bei Verspätungen gewährt. Der Beitrag wirft ferner einen Blick auf eine Revision der Fluggastrechte-VO und geht schließlich auf Fragen des Gerichtsstands ein, bei denen gleichfalls der Vorrang des Montrealer Übereinkommens zu beachten ist. Für den nationalen Gesetzgeber sieht der Verfasser noch Spielräume, die vor allem zugunsten einer obligatorischen Schlichtung genutzt werden sollten. A. Einleitung Luftbeförderungsrecht ist Mehr-Ebenen-Recht. Es gibt Regelungen auf der globalen Ebene, nämlich das Montrealer Übereinkommen, 1 auf der europäischen Ebene, in erster Linie die Fluggastrechte-VO, 2 und auf der nationalen Ebene das LuftVG und das BGB. Die Notwendigkeit, internationales Einheitsrecht zu schaffen, liegt im Bereich der Luftbeförderung auf der Hand. So wurde das Vorgänger-Abkommen des Montrealer Übereinkommens, das Warschauer Abkommen, bereits im Jahre 1929 geschlossen. 3 Es hat aber keineswegs Regelungen auf den darunter liegenden Ebenen überflüssig gemacht, da es nicht lückenlos ist und seine Standards vielen Mitgliedstaaten nicht ausreichen. So hat sich die europäische Ebene erst im letzten Jahrzehnt zwischen die internationale und die nationale Ebene geschoben und mit der Fluggastrechte-VO, die Bestandteil einer ganzen Serie von Passagierrechte-VOen ist, 4 eine viel diskutierte Regelung geschaffen, die zu zahlreichen Entscheidungen des EuGH geführt hat 5 und weiterhin führen wird. Derzeit sind nicht weniger als sieben Vorlageverfahren aus fünf Mitgliedstaaten in Luxemburg anhängig. 6 B. Grundsatz: Vorrangigkeit des Montrealer Übereinkommens vor Unionsrecht Der Unionsgesetzgeber ist gewohnt, Recht zu schaffen, das gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht Vorrang besitzt, und diesen Vorrang auch durchzusetzen, etwa mit dem Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV, aber auch mit der auf das Francovich-Urteil des EuGH 7 zurückgehenden Haftung der Mitgliedstaaten gegenüber ihren Bürgern, wenn sie Ansprüche nicht haben, die sie aufgrund einer Richtlinie, die nicht rechtzeitig oder unzureichend umgesetzt wurde, hätten haben müssen. 8 Die umgekehrte Situation, seinerseits an vorrangiges Recht gebunden zu sein, ist ihm weniger vertraut. Wie das hier diskutierte Beispiel zeigt, existiert sie aber, und das Unionsrecht enthält klare Regelungen für seine Einbindung in das internationale Recht. Nach Art. 216 Abs.2 AEUV binden von der Union geschlossene Verträge nicht nur die Union, sondern auch die Mitgliedstaaten. Damit ist die Vorrangigkeit verankert. 9 Für von den Mitgliedstaaten geschlossene Alt-Verträge gilt eine Sonderregelung (Art. 351 AEUV, ex Art. 307 EGV). In diese Kategorie fiel das Warschauer Abkommen. Der Vorrang des Montrealer Übereinkommens sowohl vor Unionsrecht wie vor mitgliedstaatlichem Recht ist schon deswegen unproblematisch, weil das Montrealer Übereinkommen sowohl von der Europäischen Union wie von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde und gemeinsam für sie in Kraft getreten ist. 10 Diese Praxis wird häufig gewählt, um den komplizierten Problemen der Außenhandelskompetenz der EU aus dem Wege zu gehen. 11 Der EuGH hat sie zu einer * Der Verfasser ist Professor für Bürgerliches Recht und Europäisches Recht an der Universität Rostock und Richter im Nebenamt am Oberlandesgericht Rostock. Der Beitrag ist Prof. Dr. Ernst Führich anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand gewidmet. Er geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser auf den aus diesem Anlass veranstalteten Hochschulforum Reiserecht an der Hochschule Kempten am 5. Mai 2011 gehalten hat. 1 Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkommen) vom 28. Mai 1999, ABl. EG Nr. L 194/39 vom 18.07.2001. 2 VO (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlamentes und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleitungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 vom 11. Februar 2004, ABl. EG Nr. L 46/1 vom 17.02.2004. 3 Abkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 12. Oktober 1929, RGBl 1933 II S. 1039. Zu seiner Entstehungsgeschichte Jahnke, Haftung bei Unfällen im internationalen Luftverkehr, 2008, S. 4f., 54ff. 4 VO (EG) Nr. 1371/2007, ABl. EU Nr. L 315/14 v. 03.02.2007 (Eisenbahn); VO (EU) Nr. 1177/2010, ABl. EU Nr. L 334/1 v. 17.12.2010 (Schiff); VO(EU) Nr. 181/2011, ABl. EU Nr. L 55/1 v. 28.2.2011; vgl. auch Karsten, VuR 2011, 215, 219 [in diesem Heft]. 5 Dazu Karsten, VuR 2011, 215 [in diesem Heft]; Schmid/Hopperdietzel, NJW 2010, 1905. 6 Vgl. die Zusammenstellung bei Karsten, VuR 2011, 215, 221 [in diesem Heft]. 7 EuGH NJW 1992, 165 Francovich. 8 Prominentes Beispiel für die Anwendung der Francovich-Doktrin ist die Pauschalreise-Richtlinie, EuGH NJW 1996, 3141 Dillenkofer mit Besprechungsaufsatz Reich, EuZW 1996, 709; EuGH NJW 1999, 3181 Rechberger = EuZW 1999, 468 mit Anm. Tonner. 9 Streinz/Mögele, EUV/EGV, Art. 300 EGV Rn. 82 mn aus der Rspr. des EuGH. 10 Gemäß Art. 2 Abs. 2 des Beschlusses des Rates über den Abschluss des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Übereinkommen von Montreal) durch die Europäische Gemeinschaft (2001/539/EG) vom 5. April 2001, ABl. EG Nr. L 194/38 vom 18.07.2001erfolgt die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zur gleichen Zeit wie die der Mitgliedstaaten. 11 Prominentes Beispiel ist das WTO-Abkommen, ÜWTO vom 15.04.1994, ABl. EG Nr. L 336/3 vom 23.12. 1994. VuR 6/2011 203

AUFSÄTZE Klaus Tonner, Die EU-Fluggastrechte-VO und das Montraler Übereinkommen gemischten Kompetenz erklärt. 12 Für das Montrealer Übereinkommen ist jedenfalls klar, dass sowohl die Union wie die Mitgliedstaaten nur dort luftbeförderungsrechtliche Vorschriften erlassen dürfen, wo das Montrealer Übereinkommen ihnen einen Spielraum gewährt. 13 Man kann von einer Kaskade sprechen: 14 Auf allen drei Ebenen existieren Regelungen, wobei die höheren Ebenen die den unteren Ebene noch möglichen Regelungsbereiche eingrenzen. C. Konfliktfeld: Die Verspätungsregelung I. Exklusivität des Montrealer Übereinkommens Die der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten verbleibenden Spielräume werden noch dadurch eingeschränkt, dass das Montrealer Übereinkommen keine Öffnungsklauseln enthält mehr noch: nach seinem Art. 29 ist es exklusiv. 15 Schadensersatzansprüche dürfen nur unter den in dem Übereinkommen vorgesehenen Voraussetzungen und Beschränkungen gewährt werden. Das Übereinkommen gewährt Schadensersatzansprüche bei Unfällen (Art. 17 MÜ), Gepäckverlust oder -beschädigung (ebenfalls Art. 17 MÜ) und bei einer Verspätung (Art. 19 MÜ). Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber wie der nationale Gesetzgeber luftbeförderungsrechtliche Regelungen nur erlassen kann, wenn sie sich entweder außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs des Montrealer Übereinkommens bewegen 16 oder etwas anderes als einen Schadensersatzanspruch zum Inhalt haben oder sich nicht auf Unfälle, Gepäckverlust oder Verspätungen beziehen. Mustert man die Fluggastrechte-VO daraufhin durch, so ist festzustellen, dass sie sich innerhalb des Anwendungsbereichs des Montrealer Übereinkommens bewegt. Die schwierige Frage ist, ob die in ihr gewährten Ansprüche, insbesondere die Ausgleichszahlung, Schadensersatzansprüche sind. Soweit sich dies auf die Nichtbeförderung oder die Annullierung von Flügen bezieht, kann diese Frage auf sich beruhen, da diese Tatbestände im Montrealer Übereinkommen nicht angesprochen werden. Das Problem besteht aber darin und nur darin, ob die wegen einer Verspätung gewährten Ansprüche Schadensersatzansprüche sind und dadurch mit Art. 19 MÜ in Konflikt geraten. Ausgangspunkt: EuGH IATA Als die Fluggastrechte-VO in Kraft trat, hat niemand daran gedacht, dass es einmal Ausgleichsansprüche für Verspätungen geben würde. Das System der Verordnung erschien klar. In allen drei Fallgruppen Nichtbeförderung, Annullierung und Verspätung waren die ausführenden Luftfahrtunternehmen zu Betreuungs- und Unterstützungsleistungen verpflichtet, aber nur bei einer Nichtbeförderung oder Annullierung sollte darüber hinaus eine Ausgleichszahlung fällig werden. Auf dieser Basis kam es bereits im Jahre 2006 die Verordnung war 2005 in Kraft getreten zu einer ersten Entscheidung des EuGH auf Grund einer Vorlage des britischen High Court. 17 Kläger des Ausgangsverfahrens waren die IATA und der Verband der Billigflieger, ELFAA, die die Nichtigkeit der Verordnung wegen Verstoßes gegen das Montrealer Übereinkommens rügten. Die Luftfahrtindustrie hatte sich offenbar nicht damit abgefunden, dass ihre Bemühungen, die Fluggastrechte-VO zu verhindern, erfolglos geblieben waren, und so versuchte sie den Weg über die Gerichte. Der EuGH wies dies damals zurück. Zur Begründung führte er aus, Art. 19 MÜ schließe nicht aus, dass der Unionsgesetzgeber standardisierte Betreuungs- und Unterstützungsleistungen vorsehe, die zum Ausgleich der durch die Verspätung erlittenen Ärgernisse und Unannehmlichkeiten dienten. Die Regelung stehe neben Art. 19 MÜ und hindere den Fluggast nicht, bei einem tatsächlich erlittenen Schaden auch nach Art. 19 MÜ vorzugehen. Über Ausgleichszahlungen hat der EuGH damals nicht befunden. Immerhin misst er auch den Betreuungsleistungen eine gewisse Ausgleichsfunktion bei, ohne darin einen Verstoß gegen Art. 19, 29 MÜ zu sehen. I EuGH Sturgeon und Böck Als Kernproblem der Fluggastrechte-VO erwies sich in der Folgezeit die schwierige, praktisch nicht durchführbare Abgrenzung zwischen Annullierung und Verspätung. Weil auch bei Annullierungen der Fluggast in der Regel irgendwie und -wann sein Ziel doch noch erreicht, flüchteten sich die Luftfahrtunternehmen in die Verspätung und verweigerten die Ausgleichszahlungen. Die Instanzgerichte vermochten des Problems nicht Herr zu werden. 18 Überzeugende Abgrenzungen konnten nicht entwickelt werden. 19 Auf eine deutsche 20 und eine österreichische 21 Vorlage hin schlug der EuGH mit der berühmten Entscheidung Sturgeon und Böck vom 19.11.2009 den gordischen Knoten gleichsam durch. 22 Ausgleichszahlungen müssen danach auch bei Verspätungen ab drei Stunden gewährt werden. Zur Begründung zog der EuGH den Gleichbehandlungsgrundsatz heran. Die Tatbestände der Annullierung und der großen Verspätung belasteten den Fluggast gleichermaßen; es verstoße gegen das Gebot der Gleichbehandlung, in dem einen Fall eine Ausgleichsleistung zuzuerkennen, in dem anderen aber nicht. Der EuGH folgte damit nicht seiner Generalanwältin Sharpston, die die gegenteilige Konsequenz gezogen hatte, nämlich die mögliche Nichtigkeit der Verordnung. 23 Genau dieses Ergebnis wollte der EuGH im Sinne der ausdrücklichen Zielsetzung der Verordnung, nämlich des Verbraucherschutzes, 24 vermeiden. IV. Angriffe gegen Sturgeon wg. Verletzung des Vorrangs Doch die Sturgeon-Entscheidung erreichte die ihr zugedachte Befriedungsfunktion nicht. Zwar folgten die beiden vorlegenden Gerichte der Entscheidung, 25 ebenso die meisten 12 Sog. AETR-Doktrin, EuGH, Urt. v. 31.03.1971, Rs. 22/70 - AETR; zur AETR- Rspr. Streinz/Mögele, EUV/EGV Art. 300 EGV Rn. 25 ff. 13 Komplizierter ist die Situation im Eisenbahnrecht, weil das Internationale Eisenbahnübereinkommen, die COTIF, zwar von den Mitgliedstaaten, aber nicht von der EU ratifiziert ist; vgl. dazu Lindner/Tonner, GPR 2011, 15, 86. 14 Zu dieser Kaskade im Verbraucherrecht Tonner, EuCLJ 2011, 9. 15 Zur Bedeutung dieser Vorschrift im Zusammenhang mit der Unfallhaftung ausf. Jahnke, Haftung bei Unfällen im internationalen Luftverkehr, S. 371 ff. 16 Dieser ist durch Art. 1 MÜ definiert: Jede internationale Beförderung von Personen, Reisegepäck oder Gütern durch Luftfahrzeuge gegen Entgelt. Eine Einschränkung gilt für die Unfallhaftung nach Art. 17 MÜ: Der Unfall muss sich an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet haben. 17 EuGH NJW 2006, 351 = RRa 2006, 127 IATA und ELFAA mit Besprechungsaufsatz Tonner, NJW 2006, 1854. 18 Vgl. die Rechtsprechungsübersichten von Führich, MDR Beilage 7/2007; Schmid, NJW 2007, 261. 19 Vgl. die Zusammenstellung der Abgrenzungsversuche bei Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl. 2010, Kap. 15, Rn. 94. 20 BGH NJW 2007, 3437 = RRa 2007, 233. 21 Handelsgericht Wien (unveröffentlicht). 22 EuGH, Urt. v. 19.11.2009, verb. Rs. C-402/07 Sturgeon und C-432/07 Böck. 23 Die Schlussanträge sind auch veröffentlicht in RRa 2009, 179. 24 Nach Erwägungsgrund 1 soll ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sichergestellt werden; den Erfordernissen des Verbraucherschutzes sollte im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden. 25 BGH NJW 2010, 2281 = RRa 2010, 93. 204 VuR 6/2011

Klaus Tonner, Die EU-Fluggastrechte-VO und das Montraler Übereinkommen AUFSÄTZE deutschen Instanzgerichte, 26 doch blieb es nicht bei vereinzelter Kritik in der Literatur von interessierter Seite. 27 Vielmehr fand sich die Luftfahrtindustrie mit dem Ergebnis nicht ab. Vor dem Hintergrund eines von der Vereinigung Deutscher Fluggesellschaften in Auftrag gegebenen Gutachtens 28 gelang es, einen Richter des Amtsgerichts Köln zu einer erneuten Vorlage zu bewegen. 29 Ebenso legte der britische High Court, der schon das 2006 entschiedene Verfahren angestoßen hatte, erneut vor. 30 Kläger sind in dem britischen Verfahren TUI, British Airways und easyjet, während das Amtsgericht Köln über eine nicht gezahlte Ausgleichsleistung eines in Köln ansässigen bedeutenden Luftfahrtunternehmens zu entscheiden hat. Im Kern werfen beide Gerichte dem EuGH einen Widerspruch zwischen dem IATA- und dem Sturgeon-Urteil vor. Im IATA-Urteil habe der EuGH die Zulässigkeit der Verspätungsregelung damit gerechtfertigt, dass es sich um bloße Unterstützungsleistungen handele. Mit dem Sturgeon-Urteil habe er aber (in meinen Worten) diesem Urteil quasi selbst die Grundlage entzogen, indem nunmehr mit den zugesprochenen Ausgleichszahlungen bei großen Verspätungen doch Schadensersatzansprüche zugesprochen würden, deren Vereinbarkeit mit Art. 19 MÜ erneut zu prüfen sei, jedenfalls vom IATA-Urteil nicht abgedeckt ist. 31 Der High Court garnierte seine Ausführungen darüber hinaus mit umfangreichen allgemeinen Erwägungen, insbesondere dem Rechtssicherheitsprinzip, die er schon im IATA-Fall vorgebracht hatte und die damals vom EuGH auch umfangreich abgehandelt wurden. Darauf soll hier aber nicht weiter eingegangen werden. V. Stellungnahme 1. Optionen für den EuGH Der EuGH hat nun drei Möglichkeiten. Er kann zum einen die Beantwortung der Fragen aus formalen Gründen verweigern. Zwar sind die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht gehindert, erneut vorzulegen, wenn sie von der Rechtsprechung des EuGH abweichen wollen. Der EuGH könnte sich aber darauf zurückziehen, dass er in Sturgeon und Böck klar entscheiden hat, dass es Ausgleichszahlungen in Fällen großer Verspätungen zu geben hat und dass er dabei die Vereinbarkeit mit dem Montrealer Übereinkommen im Auge hatte, wie der Bezug auf die IATA-Entscheidung zeigt. Die Vorlage des High Court könnte darüber hinaus unzulässig sein, weil das Gericht allein auf Grund der Bedenken der Kläger vorgelegt hat, ohne sich dazu zu äußern, ob es diese Bedenken teilt. Es hat also, so könnte sich der EuGH aus der Affäre ziehen, die Entscheidungserheblichkeit seiner Fragen nicht dargelegt. 32 Zweitens könnte der EuGH darauf warten, dass Brüssel und Straßburg für ihn das Problem erledigen. Man hatte lange Zeit den Eindruck, dass der europäische Gesetzgeber sich an eine Überarbeitung der Fluggastrechte-VO nicht herantraute, jedoch sind die Probleme der Anwendung der Verordnung so heftig, dass nun doch erhebliche Aktivitäten in Brüssel entfaltet werden, die wohl in absehbarer Zeit zu einer revidierten Verordnung führen. 33 Der EuGH könnte darauf hoffen, dass die hinter den neuen Vorlageverfahren stehende Luftfahrtindustrie im Falle einer Neuregelung das Interesse an den Verfahren verliert und im Falle des High Court die Klage zurückzieht bzw. im Kölner Fall den Kläger klaglos stellt. Drittens aber könnte sich der EuGH zu einer inhaltlichen Lösung durchringen. 2. Abgrenzung Ankunfts-/Abflugsverspätung Man könnte versuchen, das Montrealer Übereinkommen und die Fluggastrechte-VO dadurch voneinander abzugrenzen, dass man auf den Unterschied zwischen einer Abflug- und einer Ankunftsverspätung abstellt. Die Fluggastrechte-VO stellt bereits ihrem Wortlaut nach auf eine Abflugverspätung ab, während das Montrealer Übereinkommen nach allgemeiner Meinung in Art. 19 MÜ eine Ankunftsverspätung regelt. 34 Dies ergibt auch den Sinn der Vorschriften: Die Fluggastrechte-VO will den Fluggast für die Unannehmlichkeiten beim verspäteten Abflug entschädigen, während ein materieller Schaden, der nach Art. 19 MÜ zu kompensieren ist, nur dann eintreten kann, wenn das Flugzeug (auch) verspätet am Ziel eintrifft. Der Unterschied zwischen einer Abflugund einer Ankunftsverspätung taugt aber nur dann zur Abgrenzung, wenn der Unterschied nicht nur ein semantischer ist. Zwar lässt sich einwenden, dass eine Abflugverspätung regelmäßig zu einer Ankunftsverspätung führt. Das muss aber nicht notwendigerweise so sein. Es ist denkbar, dass ein pünktlich gestartetes Flugzeug einen Ersatzflughafen ansteuern muss und das vorgesehene Ziel nur mit einer Verspätung von mehr als drei Stunden erreicht wird. Konsequenterweise hat das Landgericht Frankfurt am Main in einem derartigen Fall einen Ausgleichsanspruch versagt und den Fluggast auf Art. 19 MÜ verwiesen. 35 Umgekehrt kann trotz einer erheblichen Abflugverspätung das Ziel dennoch pünktlich erreicht werden, weil ein Anschlussflug trotz der Verspätung noch erreicht wurde oder der Fluggast durch ein Umrouten jedenfalls mit weniger als drei Stunden Verspätung am Ziel anlangte. Es gibt viele Möglichkeiten; nur am Rande sei erwähnt, dass es eine weitere Vorlage des Bundesgerichtshofs gibt, die sich mit einem Detail der aus Anschlussflügen resultierenden Verspätungen befasst. 36 Jedenfalls erweist sich der Unterschied zwischen Abflug- und Ankunftsverspätung als ein tragfähiger Grund, um die Fluggastrechte-VO sozusagen aus dem Schussfeld des Vorrangs des Montrealer Übereinkommens zu bringen. 3. Ausgleichszahlung ist kein Schadensersatz Ein zweiter Grund, warum die Fluggastrechte-VO den Vorrang des Montrealer Übereinkommens nicht verletzt, könnte der Begriff der Ausgleichszahlung selbst sein. Der Anspruch wird zwar in der deutschen Literatur weitgehend als pauschalierter Schadensersatzanspruch gesehen, 37 doch muss dies nicht unbedingt so sein. Bereits in den Schlussanträgen von Generalanwalt Gelhoed im IATA-Verfahren gibt es Über- 26 LG Darmstadt, RRa 2010, 275; AG Köln, RRa 2010, 230. 27 Müller-Rostin, TranspR 2010, 93; Gogl, ZLW 2010, 82. 28 Hoge, Gutachten zur Klärung bestimmter Fragen betr. die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur VO 261/2004, erstellt dem Bundesverband der deutschen Fluggesellschaften, 2010, http://www.bdf.aero/downloads/100301hobexgutachtenvo261-2004.pdf. 29 RRa 2011, 42. Ein anderer Richter am AG Köln hat dagegen das Sturgeon- Urteil umgesetzt, vgl. Fn. 26. 30 Abgedruckt auch in RRa 2011, 37. 31 Dies ist auch der Kerngedanke des Hoge-Gutachtens, das im Übrigen darauf abstellt, der EuGH habe seine Befugnis zur Rechtsfortbildung überschritten. 32 Zu dieser Zulässigkeitsvoraussetzung Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 234 EG Rn. 25 ff. 33 Vgl. unten D. 34 Schmid, in: Giemulla/Schmid, Montrealer Übereinkommen, Art. 19 Rn. 30 (Erg.lieferung 2004); Janköster, Fluggastrechte im internationalen Luftverkehr, 2009, S. 172 ff., 191. 35 LG Frankfurt a.m., RRa 2011, 44 (Revision zugelassen). 36 BGH RRa 2011, 84. 37 Etwa Führich, Reiserecht, 6. Aufl. 2010, Rn. 1047. VuR 6/2011 205

AUFSÄTZE Klaus Tonner, Die EU-Fluggastrechte-VO und das Montraler Übereinkommen legungen, die in eine andere Richtung weisen. 38 Gelhoed weist darauf hin, dass ein Schadensersatzanspruch einen Schaden, einen Kausalzusammenhang zwischen dem ursächlichen Ereignis und dem Schaden, und eine zu ermittelnde Schadenshöhe voraussetzt. Genau diese konstituierenden Merkmale eines Schadensersatzanspruchs fehlen der Vorschrift über die Ausgleichsleistung in der Fluggastrechte-VO. Die Fluggastrechte-VO geht gar nicht davon aus, dass dem Fluggast ein konkreter Schaden entstanden ist, der dann pauschaliert wird. Sie will den Fluggast für die Ärgernisse und Unannehmlichkeiten entschädigen, 39 also gerade keinen materiellen Schaden ersetzen. Die Fluggastrechte-VO verwendet konsequent den Begriff Ausgleichsleistung und stellt in Art. 12 den Ausgleichsanspruch und weitergehende Schadensersatzansprüche begrifflich gegenüber. Die Verspätungsregelung der Fluggastrechte-VO in der Ausformung, die sie durch Sturgeon und Böck erhalten hat, lässt sich also auch auf diesem Wege retten. Der EuGH wird sicher nicht gern sein Sturgeon-Urteil preisgeben wollen und deswegen einen der beiden aufgezeigten Lösungswege oder auch einen anderen beschreiten, um die Vereinbarkeit von Fluggastrechte-VO und Montrealer Übereinkommen zu belegen, sofern er sich überhaupt darauf einlässt, die Vorlagefragen inhaltlich zu bescheiden und sie nicht gleich an formellen Hürden scheitern lässt. Dem neuerlichen Versuch der Luftfahrtindustrie, die Fluggastrechte- VO mit Hilfe der Gerichte zu Fall zu bringen, dürfte daher kein Erfolg beschieden sein. D. Revision der Fluggastrechte-VO Die Frage ist, ob der Luftfahrtindustrie im Lobbying um eine neue Fluggastrechte-VO mehr Erfolg beschieden sein wird. Auch dies dürfte zu verneinen sein. Nachdem die Kommission zunächst zögerte, eine Überarbeitung der Fluggastrechte- VO in Angriff zu nehmen und ihre in der Verordnung vorgesehene Berichtspflicht nicht sehr ernst nahm, 40 hat sie inzwischen viel Papier zu diesem Thema produziert bzw. produzieren lassen. 41 Das jüngste Dokument ist eine Mitteilung vom April 2011, 42 aus der ersichtlich ist, dass eine Revision wegen der zahlreichen Mängel bei der Anwendung der Verordnung nunmehr ernsthaft angepackt wird. Die Kommission ist weit davon entfernt, die bisherige Verordnung oder ihre Auslegung durch den EuGH für überzogen zu halten; vielmehr geht es ihr eher um eine Konsolidierung des erreichten Besitzstandes und um die zusätzliche Regelung inzwischen neu aufgetauchter Probleme jenseits von Nichtbeförderung, Annullierung und Verspätung. Erwähnt wird etwa die sog. no show policy. Während das Dokument im Hinblick auf Ergänzungen des materiellen Rechts jedoch noch nicht sehr deutlich ist, wird ein Fokus auf eine verbesserte Rechtsdurchsetzung gelegt. Insbesondere die Stellung der Durchsetzungsstellen soll verbessert werden. Sie sollen klarer mandatiert werden und besser zusammenarbeiten. Die Fluggastrechte sollen mit der Entwicklung von alternativer Konfliktschlichtung und kollektiven Rechtsdurchsetzungsmechanismen verknüpft werden. 43 Noch 2011 soll ein Impact Assessment Report in Auftrag gegeben werden, und für 2012 plant die Kommission, einen Vorschlag für eine neue Verordnung vorzulegen. E. Auswirkungen auf das Internationale Verfahrensrecht I. Art. 33 MÜ Das Verhältnis zwischen dem Montrealer Übereinkommen und der Fluggastrechte-VO hat auch eine verfahrensrechtliche Komponente, denn das Montrealer Übereinkommen enthält eigene Gerichtstandsregeln, die am Vorrang des Montrealer Übereinkommens vor dem Unionsrecht teilhaben. Sie müssen insbesondere von der Brüssel I-VO (= EuGVVO) respektiert werden. Dies ist auch der Grund, warum die Verbraucherschutzvorschrift der Brüssel I-VO, Art. 15, eine Ausnahme für Beförderungsverträge enthält, denn eine zwingende Vorschrift über den Verbrauchergerichtsstand könnte mit der vorrangigen Regelung des Montrealer Übereinkommens kollidieren. Das Montrealer Übereinkommen enthält in seinem Art. 33 Abs. 1 für Klagen wegen eines Sachschadens ein Wahlrecht des Klägers zwischen dem Sitz, der Hauptniederlassung oder der Geschäftsstelle des Luftfrachtführers, durch die der Vertrag geschlossen wurde, und dem Bestimmungsort. Es gibt also keinen Wohnsitzgerichtsstand des Verbrauchers. Dies ist nur bei Schäden, die durch Tod oder Körperverletzung entstanden sind, und auch dann nur unter weiteren Voraussetzungen der Fall (Art. 33 Abs. 2 MÜ). Allerdings wird der Gerichtsstand des Bestimmungsorts in vielen Fällen doch zu einem Verbrauchergerichtsstand führen, da im Montrealer Übereinkommen die sog. Rundflug-Betrachtung gilt, dh. ein Hin- und Rückflug wird anders als nach der Fluggastrechte- VO als einheitlicher Flug behandelt, dessen Bestimmungsort der Abgangsflughafen ist. 44 Brüssel I-VO Der Gerichtsstand für Ansprüche aus der Fluggastrechte-VO ist nach der Brüssel I-VO zu ermitteln. Allerdings enthält der dort geregelte zwingende Gerichtsstand für Verbraucherverträge eine Ausnahme für Beförderungsverträge. Der Fluggast hat infolge dessen die Wahl zwischen dem Sitz des Luftfahrtunternehmens (Art. 2 Brüssel I-VO) und dem Erfüllungsort (Art. 5 Brüssel I-VO). Zu Art. 5 hat der EuGH eine fluggastfreundliche Entscheidung gefällt: Er überlässt dem Fluggast die Wahl zwischen Abflug- und Bestimmungsort. 45 Dadurch wird der Nachteil kompensiert, dass der EuGH bei der Fluggastrechte-VO die Rundflug-Betrachtung nicht akzeptiert. 46 In den meisten Fällen kommt man daher zu einem Gerichtsstand wenn nicht am Wohnsitz des Verbrauchers, so doch im Inland. 38 Schlussanträge Tz. 46. 39 Erwägungsgrund 12. 40 Nach Art. 17 der Fluggastrechte-VO war sie zu einem Bericht bis zum 01.01.2007 verpflichtet, den sie erst im Laufe des Jahres 2007 vorlegte, KOM (2007) 168, ohne darin, wie in Art.17 der VO vorgesehen, Legislativvorschläge beizufügen. 41 Vor allem die beiden Steer Davis Gleeve Berichte, vgl. die Nachweise auf http://ec.europa.eu/transport/passengers/studies/passengers_en.htm. 42 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Verordnung 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Betreuungsleistungen für Fluggäste im Falle der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen, KOM (2011) 174 endg. 43 Vgl. das Grünbuch über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren, KOM (2008) 794; dazu Tamm, EuZW 2009, 439. 44 Giemulla, in: Giemulla/Schmid, Montrealer Übereinkommen, Art. 1 Rn. 7 (Erg.Lieferung 2005). 45 EuGH NJW 2009, 2801 = RRa 2009, 234 Rehder. 46 EuGH NJW 2008, 2697 = RRa 2008, 237 Schenkel. 206 VuR 6/2011

Klaus Tonner, Die EU-Fluggastrechte-VO und das Montraler Übereinkommen AUFSÄTZE I 29 ZPO im Lichte der Brüssel I-VO Allerdings ist die Brüssel I-VO bei Ansprüchen nach der Fluggastrechte-VO nicht immer anwendbar. Sie setzt nämlich voraus, dass der Beklagte einen (Wohn)Sitz in einem Mitgliedstaat hat. Dies ist naturgemäß bei Luftfahrtunternehmen vielfach nicht der Fall. In diesen Fällen sind die 12 ff. ZPO als internationales Gerichtsstandsrecht anzuwenden. In Betracht kommt der Gerichtsstand der Niederlassung nach 21 ZPO, der angesichts der modernen Buchungssysteme im Gegensatz zu früher vielfach nicht mehr zur Anwendung gelangen wird, weil und wenn die Buchung direkt in das (außerhalb der EU befindliche) Reservierungssystem des Luftfahrtunternehmens erfolgt. Will man zu einem inländischen Gerichtsstand gelangen, bleibt daher nur der Gerichtsstand des Erfüllungsortes nach 29 ZPO. Doch auch hier bleibt eine Hürde, die der Bundesgerichtshof in einem neueren Urteil allerdings beiseite geräumt hat. 47 Erfüllungsort ist nämlich nur der Bestimmungsort. Der Bundesgerichtshof legt den 29 ZPO jedoch im Lichte des Art. 5 Brüssel I-VO und damit der Rehder-Entscheidung des EuGH aus und gelangt daher auch in diesen Fällen zu einem Wahlrecht des Fluggastes zwischen Abgangs- und Bestimmungsort. F. Spielräume für den nationalen Gesetzgeber Hat der nationale Gesetzgeber angesichts der dargelegten komplexen Regelungen auf der internationalen und der europäischen Ebene überhaupt noch die Chance zu substantiellen eigenen Regelungen? Die Frage soll auf der Ebene des materiellen Rechts und der Rechtsdurchsetzung kurz angeschnitten werden. I. Materielles Recht: Schadensersatz Nicht umsonst heißt das Montrealer Übereinkommen Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften. Es enthält also keine vollständige Regelung des Luftbeförderungsrechts. Die Haftungsvorschriften machen dies deutlich: Es besteht nach dem Übereinkommen lediglich eine Haftung für Unfälle, Gepäckverlust und -beschädigung und für Verspätung. Eine Haftung für Nichtbeförderung aber fehlt. Auch die Fluggastrechte-VO statuiert in diesem Falle zwar eine Ausgleichszahlung, aber keinen Schadensersatz. Infolgedessen muss man auf das nationale Zivilrecht zurückgreifen und findet sich im allgemeinen Leistungsstörungsrecht des BGB wieder, das eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Haftung im Luftverkehr hat. 48 Das Montrealer Übereinkommen sperrt nur innerhalb seiner Regelungsbereiche weitergehende Vorschriften der Vertragsstaaten, aber es regelt ebenso wenig wie das Unionsrecht den Luftbeförderungsvertrag als Vertragstyp. Auch die Klauselkontrolle auf der Basis nationaler Vorschriften freilich vor dem Hintergrund der Richtlinie über missbräuchliche Vertragsklauseln 49 spielt eine erhebliche Rolle. So hat der Bundesgerichtshof in letzter Zeit etwa die Kreditkartenregelung von Ryan Air verworfen 50 und eine weit verbreitete, auf eine IATA-Empfehlung zurückgehende Klausel, wonach der Flug storniert wird, wenn die Flugcoupons nicht in ihrer Reihenfolge abgeflogen werden. 51 So können etwa ein Hin- und Rückflug billiger sein als ein one-way-flug. Kauft ein Fluggast ein derartiges Ticket und nutzt den Hinflug nicht, würde nach der Klausel der Rückflug gestrichen. Verfahrensrecht: Schlichtung Wichtiger noch erscheint das Verfahrensrecht. Bei der Fahrgastrechte-VO (Bahnverkehr) hatte der deutsche Gesetzgeber ein Begleitgesetz erlassen, in dem er eine Schlichtung für Streitigkeiten aus der Verordnung einführte ( 37 EVO). 52 Es stellt sich die Frage, ob angesichts der offensichtlichen Probleme bei der Durchsetzung der Fluggastrechte-VO nicht eine Parallelregelung für den Flugverkehr geboten ist. Man könnte daran denken, die gesetzliche Zuständigkeit der im Rahmen der Umsetzung von 37 EVO geschaffenen Schlichtungsstelle 53 auf den Flugverkehr zu erweitern. Jedenfalls ist der Gesetzgeber weder durch internationale noch durch unionsrechtliche Vorschriften daran gehindert. Im Gegenteil das Effektivitätsprinzip des Unionsrechts nimmt ihn die Pflicht, für die wirksame Umsetzung Sorge zu tragen. Freilich bleibt abzuwarten, ob der Unionsgesetzgeber das Problem nicht selbst anpackt. Mögliche Lösungen auf einer höheren Ebene sollten den nationalen Gesetzgeber aber nicht von eigenen Aktivitäten abhalten, schon deshalb, weil mit bestehenden nationalen Regelungen der Inhalt künftiger europäischer Lösungen mitbestimmt werden kann. G. Schlussbemerkung Internationale Übereinkommen und Unionsrecht haben im Bereich des Luftbeförderungsrechts keineswegs so vollständige Regelungen geschaffen, dass dem nationalen Gesetzgeber keine Spielräume mehr bleiben. Diese sollte er auch ausnutzen, aktuell vor allem für eine Schlichtungsregelung. Freilich ist der Vorrang der jeweils höheren Ebene ernst zu nehmen. Das gilt insbesondere für das Verhältnis der Verspätungsregelungen des Montrealer Übereinkommens und der Fluggastrechte-VO in der Ausprägung, die sie durch den EuGH erhalten hat. Der Beitrag konnte jedoch zeigen, dass Ausgleichszahlungen bei großen Verspätungen mit dem Montrealer Übereinkommen vereinbar sind. Es ist auch nicht zu erwarten, dass der Unionsgesetzgeber derartige Ausgleichszahlungen in Frage stellen wird. 47 BGH RRa 2011, 79. 48 Vgl. etwa die Übersicht in Führich, Reiserecht, Rn. 828 ff.; MünchKomm- Tonner nach 651 Rn. 26 ff. 49 Richtlinie 93/13/EWG. 50 BGH NJW 2010, 2719 = RRa 2010, 225. 51 BGH NJW 2010, 1958 = RRa 2010, 191 = VuR 2010, 312 mit Anm. Purnhagen. 52 Umfassend dazu Lindner/Tonner, GPR 2011, 165 und 86. 53 Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (SÖP) http://www.soep.de. VuR 6/2011 207