Vom Gen zum Verhalten: Fehlt das Entwicklungsgen Ear2, zeigt das Gehirn später Funktionsstörungen in der zirkadianen Rhythmik From Gene to Behaviour: Deficiency of the developmental gene Ear2 results in an abnormal circadian rhythm Eichele, Gregor; Neubert, Karola Max-Planck-Institut für experimentelle Endokrinologie, Hannover Korrespondierender Autor E-Mail: gregor.eichele@mpihan.mpg.de Zusammenfassung Ein Netzwerk von Genen steuert die Gehirnentwicklung. Viele Entwicklungsgene wurden bereits charakterisiert, doch eine Herausforderung liegt darin, diese Gene mit einer definierten Funktion im Erwachsenen-Gehirn zu verknüpfen. Mutationen in den betreffenden Genloci sind häufig letal. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts in Hannover konnten aber jetzt für den Transkriptionsfaktor Ear2 sowohl dessen embryonale Funktion als auch die sich daraus ableitende Rolle von Ear2 im erwachsenen Maushirn herausfinden. Summary A complex network of genes coordinates the development of the mammalian brain. Many developmentally important genes have been characterized of which only few could be functionally linked to physiological processes in the adult brain because of the frequent lethality of mutations in these essential loci. Scientists at the Max Planck Institute in Hannover have now succeeded in linking the embryonic function of the transcription factor Ear2 to specific neuronal functions in and outside of the adult rodent brain. Das An- und Abschalten von Genen wird durch Transkriptionsfaktoren reguliert, das heißt durch Proteine, die an die Kontrollregionen von Genen binden. Die Rezeptoren von Sexualhormonen sind beispielsweise solche Transkriptionsfaktoren, die in Hormon-abhängiger Weise zahlreiche Gene regulieren und so embryonale Entwicklungsvorgänge und physiologische Prozesse steuern. Diese Rezeptoren befinden sich im Zellkern und werden daher auch als nukleäre Rezeptoren bezeichnet. Neben nukleären Rezeptoren, die Hormone binden, gibt es die so genannten Orphan-Rezeptoren: Waisen, für die ein Hormon entweder nicht bekannt oder möglicherweise auch nicht vorhanden ist. Trotzdem regulieren diese Orphan-Rezeptoren eine Reihe von Entwicklungsprozessen z. B. im zentralen Nervensystem. Ear2 (auch bekannt als Nr2f6) ist einer von ihnen und bildet zusammen mit den Transkriptionsfaktoren COUP-TFI und COUP-TFII eine Unterfamilie. Für Ear2 ist es nun gelungen, eine lebensfähige Mausmutante zu generieren und so seine Funktion im Entwicklungsprozess des Maushirns aufzuzeigen: Das Ear2-Gen wurde mittels molekulargenetischer Methoden (homologe Rekombination) abgeschaltet. An dieser Mausmutante bezeichnet als Ear2 -/- konnten Forscher in der 2005 Max-Planck-Gesellschaft www.mpg.de 1/5
Abteilung Eichele zeigen, dass das Fehlen von Ear2 während der Embryogenese in der erwachsenen Maus zu erhöhtem Schmerzempfinden führt und das zirkadiane System des Vorderhirns beeinträchtigt. Diese Defizienz in der erwachsenen Maus konnten die Forscher auf einen ganz spezifischen Defekt in einer kleinen, aber wichtigen Gehirnregion zurückführen. [1] Ear2 und der Locus coeruleus Der nukleäre Orphan-Rezeptor Ear2 wird während der frühen Embryonalentwicklung kurzzeitig in einem Teil des Gehirns exprimiert, aus dem unter anderem der Locus coeruleus (LC) entsteht. Der LC ist ein Kern im Säugerhirn, der die Hauptquelle des Neurotransmitters Noradrenalin darstellt. Das wegen seiner tiefblauen Färbung im Menschen als Locus coeruleus bezeichnete Gehirnareal besteht bei der Maus aus etwa 1300 Neuronen, beim Menschen umfasst es rund 3000 Neuronen. Der LC sendet ein Netzwerk von Nervenfasern in praktisch alle Hirnregionen aus und reguliert über Noradrenalin und möglicherweise auch über weitere Neurotransmitter ein breites Spektrum von Verhaltens- und physiologischen Funktionen, wie das Erregungssystem, das Lernverhalten oder das Schmerzempfinden. Die Entwicklung und Funktion des LC zu verstehen ist daher von großem Interesse. Mit der Ear2-Mausmutante hatten die Wissenschaftler die Möglichkeit, hierüber Näheres zu erfahren. Denn ohne das Ear2-Gen, so zeigten die Schnitte durch das Gehirn erwachsener Mäuse, fehlten etwa 70 % der Zellen des Locus coeruleus, wobei vor allem Neuronen im dorsalen Teil betroffen waren (Abb. 1). Normalerweise werden von dort vor allem noradrenerge Fasern (d. h. Fasern, welche den Neurotransmitter Noradrenalin ausschütten) in die Großhirnrinde (Kortex) geschickt; in der Ear2-Mutante ist die Anzahl der dorsalen Neuronen aber so reduziert, dass die kortikale Konzentration an Noradrenalin viermal geringer als bei der normalen Maus ist. Die Wissenschaftler ziehen daraus den Schluss, dass die verminderte Konzentration an Noradrenalin eine Beeinträchtigung der Funktionen der Großhirnrinde erwarten lässt, und dies wurde dann auch gefunden. Schnitt durch den Locus coeruleus (LC) in einem em bryonalen Maushirn (links Wildtyp, rechts Ear2-Mutante). Die LC- Neuronen sind für das Enzym Dopam in-ß-hydroxylase angefärbt. Man beachte die m assive Reduktion der Ausdehnung des LC in der Mutante (IV; 4. Ventrikel). Max-Planck-Institut für experim entelle Endokrinologie/Warnecke Die Signalkaskade in der Entwicklung des Locus coeruleus Wie kommt es nun, dass der LC in der Ear2-Mutante derart unterentwickelt ist? Die Entwicklung des LC und die Wanderung seiner Vorläuferzellen wird über eine Signalkaskade von Genen reguliert, die in Embryonen o h n e Ear2, so zeigten die Versuche, partiell unterbrochen ist. In der Ursprungsregion des LC, der so genannten rhombischen Lippe, ist der Transkriptionsfaktor Mash1 exprimiert (d.h. angeschaltet). Dieser Faktor wiederum schaltet die Homeobox-Gene Phox2a und Phox2b an. [2] Im Ear2 -/- -Embryo wird diese Signalkette 2005 Max-Planck-Gesellschaft www.mpg.de 2/5
unterbrochen: Es gibt nur ganz wenige Zellen, in denen die Phox2a- und Phox2b-Gene angeschaltet sind. Diese Beobachtung ist von Bedeutung, weil zuvor gezeigt werden konnte, dass Phox 2a/b Determinierungsgene für den LC sind: Fehlen diese Gene, bildet sich kein LC aus. Phox2a und b regulieren außerdem die Expression der Schlüsselenzyme der Noradrenalin-Synthese. Da die Expression von Phox2a und b vermindert, die von Mash1 in Ear2 -/- -Embryonen aber unbeeinflusst ist, postulierten Eichele und seine Mitarbeiter, dass sich Ear2 in der Signalkaskade zwischen Mash1 und Phox2a/b befindet. Diese Ergebnisse zeigten, dass Ear2 offensichtlich in der frühen Entwicklung des Locus coeruleus benötigt wird, allerdings nicht für den gesamten LC, denn erwachsene Ear2 -/- -Mäuse hatten ja noch Restmengen an LC-Neuronen. Eichele und sein Team postulierten daher weitergehend, dass Ear2 als regionale Determinante wirkt und damit die topographische Organisation des LC und die Entwicklung von LC-Fasern mitbestimmt. Funktionale Defekte im zirkadianen Verhalten Abgesehen von den bereits oben angemerkten Funktionen des LC gibt es Hinweise, dass dieser Kern an der Regulation des Erregungssystems und des Schlaf-Wach-Verhaltens beteiligt ist, und es ist außerdem bekannt, dass Neuronen dieses Kerns im zirkadianen Rhythmus feuern. Für die Forscher in Hannover Grund genug, die Ear2 -/- - Mutanten auf Defekte im zirkadianen System zu untersuchen, zumal dieses Gebiet seit Jahren zu den Schwerpunkten des Instituts zählt. [3] Die Wissenschaftler konzentrierten sich dabei auf das Vorderhirn, denn dieses wird von zahlreichen noradrenergen Nervenfasern erreicht, die vom dorsalen Teil des LC stammen. Außerdem konnte für das Vorderhirn bereits ein eigener zirkadianer Schrittmacher charakterisiert werden. Dieser reguliert unter anderem die Anpassung der Aktivitätsphasen an veränderte Lichtzyklen und zeitliche Verschiebungen im Nahrungsangebot. Mithilfe der In-situ-Hybridisierung (ISH) konnte zunächst gezeigt werden, dass das Uhrengen Period1 (Per1) im Vorderhirn der Ear2 -/- - Mutante nicht mehr in einem zirkadianen Rhythmus exprimiert wird. Bei der ISH wird in einem hauchdünnen Gehirnschnitt die Boten-RNA eines Gens mit einer entsprechenden Sonde angefärbt. Das MPI für experimentelle Endokrinologie verfügt in dieser Technologie über ein ausgereiftes Know-how und hat in den vergangenen Jahren mit "GenePaint" eine Automatisierung der In-situ-Hybridisierung entwickelt. Neben der Bestimmung der Genexpressionsmuster führten Henrik Oster und sein Zirkadian-Team Verhaltensversuche durch, um die phänotypischen Auswirkungen der Ear2 Defizienz im zirkadianen System des Kortex zu bestimmen. Es wurde deutlich, dass die morphologische Veränderung des LC, bedingt durch das Fehlen von Ear2 in der Embryonalentwicklung, eine Verzögerung in der Anpassung an einen verschobenen Licht-Dunkel- Zyklus nach sich zog und die Mutanten sich außerdem weniger effizient auf eingeschränkte Fütterungszeiten während ihrer eigentlichen Ruhephase einstellen konnten (Abb. 2). Zudem konnte gezeigt werden, dass die Präzision der Aktivitätsrhythmik in Ear2-defizienten Tieren herabgesetzt war und diese unter Dauerlicht dazu neigten, ihre Rhythmik ganz zu verlieren. Untersuchungen zur Uhren-Genexpression im suprachiasmatischen Nukleus (SCN) zeigten, dass diese Effekte keineswegs mit der Zentraluhr des Tieres zusammenhängen, sondern unabhängig davon in Bereichen des Vorderhirns reguliert werden. 2005 Max-Planck-Gesellschaft www.mpg.de 3/5
Ear2-defiziente Mäuse passen sich schlechter an eingeschränkte Fütterungszeiten an. Die zirkadiane Uhr wird m it Laufradversuchen studiert. Mäuse benutzen das Laufrad in der Dunkelheit und sind tagsüber weitgehend inaktiv. Links: Laufradaktivität einer Wildtyp-Maus (grüne Balken; fortlaufende Tage sind untereinander aufgezeichnet) unter ad libitum-fütterung (AL) und bei Beschränkung des Futterangebots auf drei Stunden während des Morgens (RF; Fütterzeiten rosa unterlegt). Mitte: Typische Aktivitätsprofile im Tagesverlauf unter ad libitum (oben) und 3h-Futterzugang (unten). Deutlich zu erkennen ist die antizipatorische Laufradaktivität (AA) in Erwartung der Fütterung. Rechts: Die vorgezogene Aktivität in Erwartung der Fütterung im Verhältnis zur gesam ten Tagesaktivität (TA) ist in Ear2-Mutanten (-/-) im Vergleich zum Wildtyp (+/+) um ca. 50% reduziert. Max-Planck-Institut für experim entelle Endokrinologie/Oster Diese vielfältigen zirkadianen Defekte konnten mithilfe der Ear2-Mutante erstmals funktionell mit dem noradrenergen System des LC in Verbindung gebracht werden. Die komplexen Verbindungen des LC zu anderen Zentren des zentralen Nervensystems machen diese Mutante zu einem interessanten Modellsystem für die Untersuchung der zirkadianen Regulation zahlreicher anderer ZNS-Funktionen. Erhöhtes Schmerzempfinden ohne das Ear2-Gen Der Locus coeruleus spielt eine besondere Rolle im Prozess der Schmerzempfindlichkeit. Denn Noradrenalin, das im LC produziert wird, unterdrückt die Aktivität von schmerzvermittelnden (nozizeptiven) Neuronen und hat so einen schmerzdämpfenden Effekt. Wenn nun ein Teil des LC fehlt, wie in der Ear2-Mutante, sollte sich das auf das Schmerzverhalten der Mäuse auswirken. Die Versuche ergaben tatsächlich, dass die Schmerzempfindlichkeit der Mutanten höher war, was auf den eingeschränkten LC und die dadurch verursachte Verringerung des Noradrenalin-Gehalts im Rückenmark zurückgeführt werden konnte. Ausblick Der Locus coeruleus ist für viele physiologische Prozesse und Verhaltensweisen bedeutsam. Die Ear2-Mutante, der ein großer Teil des LC fehlt, eröffnet daher die Möglichkeit, die Funktionen dieses bedeutsamen Kerns im natürlichen Umfeld zu testen. Für die innere Uhr und das Schmerzempfinden konnte die Arbeitsgruppe um Gregor Eichele bereits entscheidende Zusammenhänge herausfinden. Es wäre nun interessant zu erforschen, ob die Mutante Auffälligkeiten in anderen Verhaltensfunktionen zeigt, die mit dem LC in Zusammenhang gebracht werden. Hierzu zählen auch das Angstverhalten, das Lernverhalten oder Gedächtnisleistungen. Dazu 2005 Max-Planck-Gesellschaft www.mpg.de 4/5
wird es zunächst wichtig sein herauszufinden, wie das komplexe Netz neuronaler Fasern, das vom LC ausgesandt wird, in der Ear2-Mausmutante verändert ist. Originalveröffentlichungen Nach Erweiterungen suchenbilderweiterungchanneltickerdateilistehtml- ErweiterungJobtickerKalendererweiterungLinkerweiterungMPG.PuRe-ReferenzMitarbeiter (Employee Editor)PersonenerweiterungPublikationserweiterungTeaser mit BildTextblockerweiterungVeranstaltungstickererweiterungVideoerweiterungVideolistenerweiterungYouTube- Erweiterung [1] Warnecke, M., Oster, H., Revelli, J.-P., Alvarez-Bolado, G. and G. Eichele Abnormal development of the locus coeruleus in Ear2(Nr2f6)-deficient mice impairs the functionality of the forebrain clock and affects nociception. Genes and Development 19, 614-625 (2005). [2] Brunet, J. F. and A. Pattyn Phox2 genes From patterning to connectivity. Current Opinion of Genetic Development 12, 435-440 (2002). [3] Albrecht, U. and G. Eichele The mammalian circadian clock. Current Opinion of Genetic Development 13, 271-277. Review (2003). 2005 Max-Planck-Gesellschaft www.mpg.de 5/5