Seminararbeit sozialwissenschaftliche Makrotheorien SS 2008,14. September 2008 Gerald Czech 9000325



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Transkript:

Seminararbeit sozialwissenschaftliche Makrotheorien SS 2008,14. September 2008 Gerald Czech 9000325

Einleitung Im Rahmen der Lehrveranstaltung Sozialwissenschaftliche Makrotheorien im Sommersemester 2008 unter der Leitung von a.o. Univ. Prof. Dr. Gerda Bohmann entstand diese Abschlußarbeit über die zwei Lehreinheiten Von den reinen Typen der Herrschaft zur Disziplinargesellschaft und Von der funktional stabilisierten sozialen Ordnung zur funktional differenzierten Gesellschaft. Die Lehrveranstaltung konfrontiert mich mit einem Kanon der sozialwissenschaftlichen Makrotheorien, die ich als Sozioökonom gehört, gelesen und zumindest grob verstanden haben sollte. Da die Sozialwissenschaften im Sinne des Multiparadigmatismus auch innerhalb eines Genres, also beispielsweise innerhalb der Makrotheorien, noch komplett verschiedene Grundannahmen über die Gesellschaft per se, aber auch über die Position, die Aufgaben und die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen gesellschaftlichen AkteurInnen haben, müssen in den Folgenden Kapiteln die einzelnen Theorien jeweils einzeln und unabhängig voneinander betrachtet und beurteilt werden. Ganz nach Pierre Bourdieu ist das Wissen um diese verschiedenen Theorien, zumindest aber das Mitredenkönnen bei Dinnergesprächen, in denen diese Namen fallen, ein essentieller Teil des Habitus eines Sozialwissenschafters, der sich im akademischen Umfeld adäquat bewegen will. Allein die Auswahl des jeweiligen Zitatenlieferanten für die Grundlagen bei einer sozialwissenschaftlichen Arbeit verortet den Autor bereits im weiten Feld dieser verschiedenen Zugänge zur einzigen Wahrheit über den Menschen. Die Lehrveranstaltung selbst hat mir die sozialwissenschaftliche Makroperspektive zum ersten Mal in Form eines netzwerkartigen Zugangs zu den Klassikern der Soziologie vermittelt. Nicht die Informationen über einzelne Säulenheilige der soziologischen Wissenschaft und ihre singulär betrachteten paradigmatischen Werke, sondern die theoretischen Zusammenhänge in den Werken der Klassiker waren aus meiner Sicht die vermittelten Inhalte im Seminar. Diese Abschlussarbeit entstand im Laufe das Augusts 2008, wobei ich mich wie mir das häufig passiert aufgrund des interessanten Inhalts immer mehr in Details der Originaltexte verschiedenen Theoretiker verzettelte, was manchmal auch zum Verlust des Gesamtbildes geführt hat. Einzig zu den letzten bearbeiteten Texten habe ich keine Primärliteratur verwendet, sondern nur auf Sekundärliteratur zurückgegriffen, Niklas Luhmann zählt bis jetzt (leider) noch nicht zum Repertoire meiner eigenen Bibliothek 1. 1 Ein Manko, das ich im Laufe der nächsten Wochen bei meinem nächsten Besuch in einer

Auch finde ich das Gesamtwerk noch in keinster Weise rund und ausgewogen. Gerne hätte ich noch zusätzliche Zeit, um die Kapitel besser voneinander abzugrenzen, Querverweise zu ziehen und die eine oder andere zusätzliche Quelle einzubauen. Auf der anderen Seite böte das die Möglichkeit mich noch weiter in Details zu verstricken um den roten Faden des Gesamtwerks zu verlieren. Fachbuchhandlung mit Sicherheit beseitigen werde. Definitionen 2

Einleitung 1 Von den reinen Typen der Herrschaft zur Disziplinargesellschaft 3 Definitionen 3 Typen der Herrschaft 4 Legale Herrschaft und Bürokratie 5 Charismatische Herrschaft 7 Traditionale Herrschaft 8 Wesentliche Aspekte der Weberschen Herrschaftstypen 9 Disziplin als gesellschaftliches Phänomen 9 Michel Foucaults Machtbegriff 11 Die Disziplinen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen 12 Das Panopticon als Metapher für die Gesellschaft 13 Resümee 14 Von der funktional stabilisierten sozialen Ordnung zur funktional differenzierten Gesellschaft 16 Talcott Parsons Strukturfunktionalismus 16 Das AGIL-Schema 16 Letzte Realität 17 Gesellschaftsstruktur 18 Funktionale Differenzierung als Schlüsselkategorie 18 Systemtheorie 19 Psychische Systeme und konstruktivistische Weltsicht 20 Soziale Systeme 20 Codes und Programme 21 Resümee 22 Literatur 24 Von den reinen Typen der Herrschaft zur Disziplinargesellschaft In diesem Teil der Arbeit soll zunächst das Webersche Konzept der Herrschaftstypologie dargelegt werden um in weiterer Folge die Disziplinargesellschaft zu erörtern, wie sie von Michel Foucault beschrieben wurde. Definitionen Max Weber, der Urvater der verstehenden Soziologie beschrieb die unterschiedlichen Typen der Herrschaft in seinem opus magnum Wirtschaft und Gesellschaft, das erst nach seinem Tod im Jahre 1922 von seiner Frau Margarethe Weber herausgegeben wurde. (vgl. Weber, Weber 1984, S. 425) Das Werk ist im zu Beginn stark definitorisch weil Weber als gelernter Jurist versucht, zunächst Begrifflichkeiten aus der Soziologie genau zu definieren und voneinander abzugrenzen, bevor er die konkreten Zusammenhänge dieser Konstrukte erläutert und in die Tiefe geht. Wesentliche Definitionen, speziell hinsichtlich der Typen der Herrschaft und im Kontext der später zu erörternden Disziplinargesellschaft sind folgende: Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung Definitionen 3

den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. 2 (Weber 2006, S. 62) Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden (Weber 2006, S. 62) Eine weitere Definition von Herrschaft gibt Weber im dritten Teil seines Buchs:»Unter Herrschaft soll hier also der Tatbestand verstanden werden,: daß ein bekundeter Wille ( Befehl ) des oder der Herrschenden das Handeln anderer (des oder der Beherrschten ) beeinflussen will und tatsächlich in der Art beeinflußt, daß dies Handeln, in einem sozial relevanten Grade, so abläuft, als ob die Beherrschten den Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handeln gemacht hätten ( Gehorsam )«(Weber 2006, S. 918) Diese Definition erinnert stark an die im ersten Teil, allerdings ist sie bei weitem nicht so präzise. Eine weitere soziologische Kategorie, deren Definition hier von Bedeutung ist, ist die Disziplin: Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit 2 Später im Buch meint Weber allerdings: Herrschaft ist ein Sonderfall von Macht Weber 2006a, S. 975 sie sei auch, eines der wichtigsten Elemente des Gemeinschaftshandelns. Weber 2006a, S. 975 von Menschen zu finden. (Weber 2006, S. 62) Der Begriff der Disziplin schließt die Eingeübtheit des kritik- und widerstandslosen Massengehorsams ein. (Weber 2006, S. 62) Im dritten Teil der Monographie erläutert er die Wichtigkeit dieses Begriffs für die Machtausübung: Von allen jenen Gewalten aber, welche das individuelle Handeln zurückdrängen, ist die unwiderstehlichste eine Macht, welche neben dem persönlichen Charisma auch die Gliederung nach ständischer Ehre entweder ausrottet oder doch in ihrer Wirkung rational umformt: die rationale Disziplin (Weber 2006, S. 1034) Typen der Herrschaft Weber unterscheidet drei Typen legitimer Herrschaft, die er als rational, traditional und charismatisch bezeichnet. Während die rationale Herrschaft auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts beruht, führt er die traditionale Herrschaft auf den Alltagsglauben an die Heiligkeit von Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen zurück. Charismatische Herrschaft beruht nach Weber auf ausseralltäglicher Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnung. (Weber 1990, S. 124) Typen der Herrschaft 4

Diese Typologie beruht auf Webers Einteilung der unterschiedlichen Arten sozial zu handeln: Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als»bedingungen«oder als»mittel«für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, 2. wertrational: durch bewußten Glauben an den ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit. (Weber 2006, S. 32) Diese vier verschiedenen Handlungstypen finden sich in den Typen der Herrschaft wie folgt wieder: die rationale Herrschaft beruht auf dem zweckrationalen Handeln, der Ratio; die traditionalistische Herrschaft beruht auf dem traditionalen Handeln und die Charismatische Herrschaft auf dem wertrationalen Handeln. Eine Herrschaft aufgrund affektuellen Handelns erscheint nicht erstrebens- bzw. realisierenswert, Weber selbst meint auch, dass streng affektuelles Handeln an der Grenze dessen stünde, was man als sinnhaft bezeichnen könnte. (vgl. Weber 2006, S. 32) Im Fall der satzungsmäßigen Herrschaft wird der legal gesatzten sachlichen unpersönlichen Ordnung und dem durch sie bestimmten Vorgesetzten kraft formaler Legalität seiner Anordnungen und in deren Umkreis gehorcht. Im Fall der traditionalen Herrschaft wird der Person des durch Tradition berufenen und an die Tradition (in deren Bereich) gebundenen Herrn kraft Pietät im Umkreis des Gewohnten gehorcht. Im Fall der charismatischen Herrschaft wird dem charismatisch qualifizierten Führer als solchem kraft persönlichen Vertrauens in Offenbarung, Heldentum oder Vorbildlichkeit im Umkreis der Geltung des Glaubens an dieses sein Charisma gehorcht. (Weber 1990, S. 124) Legale Herrschaft und Bürokratie Als legale Herrschaft mit bureaukratischem Verwaltungsstab bezeichnet Max Weber den Idealtypus der rationalen Herrschaft. Folgende Grundlagen gelten nach Weber damit sich legale Herrschaft entwickeln kann: Es existiert ein "gesatztes Recht"; dieses wird auch eingehalten; Recht ist ein Satz abstrakter Regeln, die auch angewendet werden. Die Verwaltung als rationale Pflege von Interessen hat ebenso festgeschriebene Ordnungen. Der Vorgesetzte hält sich an die selben Regeln, wie der Untergebene, der "dem Recht" und nicht dem Vorgesetzten gehorcht. Die Macht des Vorgesetzten ist daher auf seinen "gesatz- Legale Herrschaft und Bürokratie 5

ten" Zuständigkeitsbereich beschränkt. (vgl. Weber 1990, S. 125) Als Jurist war für Max Weber die Bürokratie der Idealtypus der legalen und rationalen Herrschaft. Dies legte er auch entsprechend deutlich dar: Als geronnenen Geist (Weber, Kaesler 2004, S. 16) bezeichnete er die Bürokratie 3. Der reinste Typus der legalen Herrschaft ist diejenige mittels bureaukratischen Verwaltungsstabs. Nur der Leiter des Verbandes besitzt seine Herrenstellung entweder kraft Appropriation oder kraft einer Wahl oder Nachfolgerdesignation. Aber auch seine Herrenbefugnisse sind legale»kompetenzen«. (Weber 1990, S. 126) Diese Art der Herrschaftsausübung, nämlich die rationale und legale Herrschaft mit der Bürokratie als Herrschaftsmittel, ist im Sinne Webers der Idealtyp, weil der bürokratische Verwaltungsstab eine Präzisionsinstrument zur Ausübung von Herrschaft (Mayntz 1997, S. 63) darstellt Für die Unterhaltung des bürokratischen Apparats benötigt man Beamte, deren Eigenschaften Weber wie folgt beschreibt: Beamte sind persönlich frei und nur an sachliche Amtspflichten gebunden, haben innerhalb einer 3 Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bureaukratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamkeitsverhältnissen darstellt. (Weber, Kaesler 2004, S. 16) Amtshierarchie fixe Kompetenzen. Sie sind vertraglich nach ihrer fachlichen Eignung beschäftigt und beziehen ein fixes Gehalt. Das Amt ist ihr einziger Hauptberuf und sieht eine Laufbahn bzw. Karriere vor, die Amtsmittel sind getrennt und der Beamte unterliegt einer Amtsdisziplin. (vgl. Weber 1990, S. 126f) Wesentlich an Webers idealer Konzeption der Bürokratie ist der hauptberufliche Beamte, der vom Staat Geld als Ausgleich für seine Leistungen erhält. Das war früher speziell auch in anderen Herrschaftstypen - nicht immer üblich. Erst diese geregelte Bezahlung durch den Dienstherren führt auch dazu, dass der Beamte keine eigene ökonomische Machtbasis aufgrund seines Amts hat, beispielsweise von den eingenommenen Gebühren oder Mautzahlungen leben muss, und damit dem weisungsbefugten Vorgesetzten zur absoluten Gehorsamkeit verpflichtet wird. (vgl. Mayntz 1997, S. 62) Weber erkennt auch die realen Machtverhältnisse innerhalb von bürokratischen Organisationen als Gefahren: Die bureaukratische Verwaltung bedeutet: Herrschaft kraft Wissen: dies ist ihr spezifisch rationaler Grundcharakter. Über die durch das Fachwissen bedingte gewaltige Machtstellung hinaus hat die Bureaukratie (oder der Herr, der sich ihrer bedient), die Tendenz, ihre Macht noch weiter zu steigern durch das Dienst-wissen: die durch Dienstverkehr erworbenen oder Legale Herrschaft und Bürokratie 6

»aktenkundigen«tatsachenkenntnisse. Der nicht nur, aber allerdings spezifisch bureaukratische Begriff des»amtsgeheimnisses«in seiner Beziehung zum Fachwissen etwa den kommerziellen Betriebsgeheimnissen gegenüber den technischen vergleichbar entstammt diesem Machtstreben. (vgl. Weber 1990, S. 129) Charismatische Herrschaft Als Charismatische Herrschaft bezeichnet Weber die Art von Machtausübung, die auf dem charismatischen Typ des sozialen Handelns beruht. Der Herrschende wird von den Beherrschten aufgrund besonderer charakterlicher Eigenschaften als Autorität anerkannt. Beispiele dafür aus neuerer Zeit sind sektenartige Vereinigungen. Der Charismaträger führt daher die Gläubigen, die Beherrschten um in der Diktion Max Webers zu bleiben, aufgrund der zuerkannten Fähigkeit zu führen.»charisma«soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als»führer«gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus»objektiv«richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den»anhängern«, bewertet wird, kommt es an. (vgl. Weber 1990, S. 140) Ob jemand nun über Charisma verfügt, ergibt sich nur von Seiten der Beherrschten durch Anerkennung der Herrschaft. Als Legitimation werden oft Wunder, Offenbarungen, Heldentum oder andere Ereignisse bzw. Eigenschaften angegeben, die dann das Charisma des Herrschenden in den Zielgruppen der Beherrschten also bei den Gläubigen evozieren. Daher kann es auch leicht passieren, dass die Grenzen der Herrschaft eines charismatischen Führers auch Grenzen in der Kommunizierbarkeit des Charismas selbst darstellen, die sich aufgrund von kulturellen oder sprachlichen Grenzen ergeben. Diese»Anerkennung«ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe. (Weber 1990, S. 140) Dieser Herrschaftstyp ist zumindest in seiner reinen Form - inkompatibel zu vielen anderen kulturellen Phänomenen. Beispielsweise die gesatzte Ordnung einer Bürokratie widerspricht der Vorgangsweise der freien Eingebung des Herrschenden und schränkt die Charismatische Herrschaft 7

Handlungsfähigkeit und damit auch die Glaubwürdigkeit des Herrschenden ein. Auch die Grundlagen der freien Marktwirtschaft passen nicht zur charismatischen Herrschaft: Reines Charisma ist spezifisch wirtschaftsfremd. Es konstituiert, wo es auftritt, einen»beruf«im emphatischen Sinn des Worts: als»sendung«oder innere»aufgabe«. Es verschmäht und verwirft, im reinen Typus, die ökonomische Verwertung der Gnadengaben als Einkommensquelle, was freilich oft mehr Anforderung als Tatsache bleibt. (Weber 1990, S. 142) Interessant ist in jedem Falle die Tatsache, dass Weber in diesem Herrschaftstyp bereits einige Jahre vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten deren spätere Herrschaft und die damit verbundenen Mechanismen relativ gut und deutlich beschrieben hat. Traditionale Herrschaft Anders als bei der legalen Herrschaft erfolgt gehorsam in der traditionalen Herrschaft nicht aufgrund gesatzten Rechts, sondern aufgrund von Traditionen, die entweder auch vom Herrschenden so empfunden werden, oder von ihm frei und willkürlich ausgelegt werden. Daher unterscheidet Weber auch das material traditionsgebundene Herrenhandeln vom material traditionsfreien Herrenhandeln. (vgl. Weber 1990, S. 130) Traditional soll eine Herrschaft heißen, wenn ihre Legitimität sich stützt und geglaubt wird auf Grund der Heiligkeit altüberkommener (»von jeher bestehender«) Ordnungen und Herrengewalten. Der Herr (oder: die mehreren Herren) sind kraft traditional überkommener Regel bestimmt. Gehorcht wird ihnen kraft der durch die Tradition ihnen zugewiesenen Eigenwürde. (Weber 1990, S. 130) Bereits Weber erkennt, dass auch traditionale Herrschaft in gewissen Grenzen abläuft. Auch der noch so autoritäre Führer kann seine Untergebenen nur bis zu einem bestimmten Level quälen, bevor die Beherrschten die Herrschaft selbst in Frage stellen würden und einen Tausch des Herrschenden (nicht des Herrschaftssystems) anzetteln würden: Die tatsächliche Art der Herrschaftsausübung richtet sich darnach: was üblicherweise der Herr (und sein Verwaltungsstab) sich gegenüber der traditionalen Fügsamkeit der Untertanen gestatten dürfen, ohne sie zum Widerstand zu reizen. Dieser Widerstand richtet sich, wenn er entsteht, gegen die Person des Herrn (oder: Dieners), der die traditionalen Schranken der Gewalt mißachtete, nicht aber: gegen das System als solches (»traditionalistische Revolution«). (vgl. Weber 1990, S. 130f) Traditionale Herrschaften waren in Europa lange Jahrhunderte der Standard und wurden erst im 19. oder 20. jahrhundert durch legale Herrschaftstypen ersetzt. Traditionale Herrschaft 8

Wesentliche Aspekte der Weberschen Herrschaftstypen Weber zufolge benötigt jede Art der Machtausübung in Form von Herrschaft zur kontinuierlichen Entwicklung einen Verwaltungsstab. Dieser ist immer zum Teil von der Herrschaft abgegrenzt um eigenen Interessen nachzugehen. Beispielsweise verursacht der Stab bei der charismatischen Herrschaft, durch "Veralltäglichung" schlussendlich die Zerstörung der Herrschaft, bei traditionalistischen Herrschaft versuchen sich die Lehensleute sich der fürstlichen Verfügungsgewalt zu entziehen. Bei der legalen Herrschaft versucht der bürokratische Verwaltungsstab laufend, seine Befugnisse zu vergrössern und damit auch an Einfluß zu gewinnen 4. (vgl. Mayntz 1997, S. 62) Für Karl Marx war die bürokratische Herrschaft ein Zeichen des Klassengegensatzes und daher als bürgerliche Klassenherrschaft zu bekämpfen und zu zerschlagen. Weber war (obwohl selbst Jurist) durchaus auch bürokratiekritisch - so bezeichnete er die Bürokratie in seinem Spätwerk als "stahlhartes Gehäuse der neuen Hörigkeit" und führte aus, dass sie zu Innovationsfeindlichkeit neigt. Als Lösung schlug er allerdings vor, die Verwaltung zu Demokratisieren und unter 4 Man merkt, dass lediglich das legale System durch die Bürokratie eine selbststabilisierende Tendenz hat, während die anderen Herrschaftstypen laufenden Aufwand von Seiten der Herrschaft benötigen, die eigene Position gegenüber dem Verwaltungsstab erneut zu festigen. Parlamentarische Kontrolle zu bringen. (vgl. Mayntz 1997, S. 29f) Anders, als später beispielsweise Foucault sieht Weber die Herrschaft aus der Sicht des Herrschenden, der zumeist in Form einzelner Personen also mehr oder weniger demokratisch legitimierten AkteurInnen besetzt wird. Die Herrschafts-Untergebenen-Hierarchien sind zumeist einfach strukturiert und eindeutig zuordenbar. Auch das Modell der Gesellschaft ist bei Weber ein klar hierarchisches, das eindeutig oben und unten kennt und zuordenbar ist. Disziplin als gesellschaftliches Phänomen Dass Disziplin nicht nur eine Kategorie für konservative Denker darstellt, sondern in spezieller Weise ein wichtiger Bestandteil für das darstellt, dass man Gesellschaft nennt, beweist folgendes Zitat: Jede Körperschaft, jede größere Gemeinschaft, die auf der Mitwirkung mehrerer Einzelmenschen beruht, bedarf der Disziplin, d.h. der Unterordnung des einzelnen, ohne die ein Zusammenwirken unmöglich ist. Ohne Disziplin wäre kein Fabrikbetrieb, kein Schulunterricht, kein Militär und kein Staat möglich. (Luxemburg 2000, S. 15) Max Weber versteht Disziplin als Herrschaftsinstrument, das sozusagen als Schnittstelle am Individuum für die Herrschaftsausübung dient. Die Selbstdisziplinierung stellt sich "in den Dienst Wesentliche Aspekte der Weberschen Herrschaftstypen 9

der Fremdbestimmung". Ein Zusammenhang zwischen der inneren Selbstdisziplinierung und der äußeren Disziplinierungsstruktur entsteht nach Weber durch die "rationalen" Herrschaftsapparate und ihre Verwaltungsstäbe (Bürokratien) als soziale Strukturen. Der moderne Mensch wird in der rationalen Herrschaftsstruktur zu einem "Rädchen" der Maschine Gesellschaft, dessen Aufgabe festgelegt und normiert ist. Die Disziplinierung und Internalisierung dieser Strukturen führt - so Webers ernüchternde Diagnose - dazu, dass dieses Ziel auch als erstrebenswert verstanden wird, und die individuellen Ziele der gesellschaftlichen AkteurInnen sich darauf beschränken, vielleicht zu einem größeren und ein wenig wichtigeren Rädchen im "stahlharten Gehäuse" zu werden. Eine mögliche Lösung dieser Problematik sah Max Weber 5 im Charismatischen Typ der Herrschaft. Ob diese Alternative angesichts der Verbrechen der NS-Diktatur als erstrebenswert einzuschätzen ist, muss sich der Leser/die Leserin selbst im Klaren sein. (vgl. Hillebrandt 2000, S. 113f) Karl Marx wiederum bewertet Disziplin als Zwangsmechanismus, der die Freiheit des einzelnen einschränkt. Durch die Herrschaft der Kapitalisten kommt 5 Weber hatte allerdings eher die Ende des 19. Jahrhunderts doch verklärte Napoleonische Variante der charismatischen Herrschaft im Auge und nicht das später nach den selben Mechanismen agierende verbrecherische Nationalsozialistische Regime in Deutschland und Österreich es zu einer Arbeitsteilung, zur technischen Unterordnung des Arbeiters unter den Gang des Arbeitsmittels die den Arbeiter zu einer kasernenmässigen Disziplin zwingt, die Arbeiter werden zu gemeinen Industriesoldaten, die Vorarbeiter zu Industrieunteroffizieren. (Karl Marx, 1983 446f zit in: Hillebrandt 2000, S. 105f) Norbert Elias beschreibt in seiner Sozialisierungstheorie den Zusammenhang von Soziogenese - der Änderung von sozialen Institutionen - und Psychogenese - der Änderung der individuellen Psychostruktur der AkteurInnen. Erst die Internalisierung der so genannten "Affektkontrolle", also der Disziplin und der Unterordnung individuellen Akteurshandelns unter die Gesamtinteressen der Gesellschaft, schafft die notwendige Stabilität zur Differenzierung komplexerer Sozialstrukturen. Dieser Einbau der gesellschaftlich notwendigen Selbstkontrollstrukturen in die Psychostruktur der Akteure wird Psychogenese genannt und ist gleichzeitig Voraussetzung und weiterer Grund für die Weiterdifferenzierung der gesellschaftlichen Veränderungen, die Elias als Soziogenese bezeichnet hat. Disziplin ist daher aus Sicht von Norbert Elias gleichzeitg "gesellschaftstragende Struktur" und individuelles Phänomen. (vgl. Hillebrandt 2000, S. 107f) Disziplin ist als ein auf Ordnung bedachtes Verhalten die Grundlage für die Sicherung der komplexeren Gesell- Disziplin als gesellschaftliches Phänomen 10

schaftsordnung. Während in früheren Zeiten externe Disziplinierungsinstitutionen - zunächst in Mitteleuropa in Form der kirchlichen Strukturen, in späterer Zeit auch durch Herrschaftliche und dann auch durch staatliche Organe - diese Ordnung auf niedrigerem Niveau aufrechterhalten haben, geht die Tendenz der modernen Industriestaaten zur Internalisierung dieser dezentralen Disziplinierungsstrukturen in die vergesellschafteten Individuen. (vgl. Hillebrandt 2000, S. 102f) Michel Foucaults Machtbegriff Michel Foucault wurde 1926 in Poitiers (F) geboren und starb 1984 in Paris. (Müller 2002a) Er war eine politisch und im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften zeit seines Lebens umstrittene Gestalt, seine Thesen wurden nicht von allen unumstritten zur Kenntnis genommen. Speziell auch sein radikaler Lebenswandel er machte beispielsweise auch keinen Hehl aus seiner Homosexualität 6 führte oftmals dazu, dass sein Werk nicht die Anerkennung bekam, die es verdiente. Er wurde vielfach als linker Philosoph mißverstanden, obwohl er selbst auch aus der kommunistischen Partei ausgetreten war und in kritischem Abstand zur Ideologielastigkeit der Linken 1968-er Bewegung stand. Vgl. (vgl. Müller 2002a) 6 Michel Foucault gilt auch als einer der ersten prominenten AIDS-Toten, der sich selbst wohl infiziert hat, bevor die Immunschwächekrankheit als solche bekannt geschweige denn im Detail erforscht war. "In zwölf Semestern Studium an der Pariser École normale supérieure brachte der Sohn eines Mediziners es auf drei Abschlüsse (Philosophie/Psychologie) sowie zwei Selbstmordversuche." (Barth 2004) Michel Foucault erklärt die Disziplin über seinen spezifischen Machtbegriff. Macht selbst ist kein Privileg von Personen oder Personengruppen, weil es keinen Machtfreien Raum gibt. Wissen und Macht sind genuin miteinander verknüpft, dadurch entfaltet Macht neben repressiver Wirkungen auch produktive Kräfte. (vgl. Hillebrandt 2000, S. 117) Die von Foucault proklamierte Mikrophysik der Macht wirkt durch kleinste Elemente, sie wirkt als Netz, das die Familie, sexuelle Beziehungen, Wohnverhältnisse, Schule, Krankenhäuser, Psychiatrie, Gefängnisse etc. als Feld von Kräfteverhältnissen und Macht- Wissens-Techniken begreift. Die Macht ist mithin keineswegs, wie Marxisten glauben, im Besitz einer bestimmten Klasse angesiedelt, und sie kann auch nicht einfach durch den Sturm auf ihr Zentrum erobert werden. Daher lässt sich Macht auch nicht einfach mit ökonomischer Macht gleichsetzen. Sie ist nicht monolithisch und wird somit nicht von einem einzelnen Punkt aus kontrolliert. (Barth 2004) Macht wird als "Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen" beschrieben, die als Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräf- Michel Foucaults Machtbegriff 11

teverhältnisse verwandelt, verstärk, verkehrt ; indem sie sich zu Systemen verketten verstärken und isolieren sich diese Kräfteverhältnisse. Macht selbst kann man nicht besitzen, sie ist ein Phänomen, was sich in unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht. ( Foucault 1983, S113; S115 zit. in Hillebrandt 2000, S. 117) Für die gesellschaftsstrukturierende Kraft der Disziplin bedarf es Wissens, das kategorisiert vorliegt und erst aufgrund dieser "Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale" (Foucault 1977: 250 zit. in Hillebrandt 2000, S. 119) das Individuum und seine Erkenntnisse produziert. Über diese theoretische Bestimmung entwickelt sich Macht in Foucaults Theorie zur Schlüsselkategorie der Reproduktion des Sozialen. (Hillebrandt 2000, S. 117) Die Disziplinen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen Die Techniken der Disziplin sind für Foucault wichtige Transformationsstellen für Macht innerhalb der Gesellschaft. Als wesentlich sieht er im historischen Prozess der Entwicklung unserer modernen Mitteleuropäischen Gesellschaft die Geburt des Gefängnisses. Hier werden die Techniken der Disziplinierung angewendet, in dem die Körper räumlich aufgeteilt und parzelliert werden, durch die Einschließung organisiert die Disziplin einen "analyischen Raum", der Leistungsfähigkeit der Individuen steigert und "die Körper der Individuen auf Funktionen reduziert". (Hillebrandt 2000, S. 118) An der Art, wie Soldaten ausgebildet wurden, wie sie equipiert waren, und wie uniformiert erklärt Michel Foucault zunächst die Unterschiede in der Gesellschaft, die sich am Übergang zur Europäischen Moderne im 18. Jahrhundert abgespielt haben, als die moderne Gesellschaft entstand. Auch die Bestrafung, die davor oft noch als Gaudium für die Bevölkerung und zur Manifestation der Herrschaftlichen Macht cora publico am Körper des Delinquenten durchgeführt wurde und daher als "peinliche Strafe" bezeichnet wird, wandert in die Gefängnisse, wo statt des Körpers immer mehr der Geist der Bestraften Ziel des justitiellen Handeln ist. (vgl. Foucault 2004, S. 173 175) Anhand unterschiedlicher gesellschaftlicher Institutionen, der Schule, der Fabrik, des Spitals oder des Klosters, die man mehr oder minder auch als totale Institutionen bezeichnen könnte, schildert Foucault die vier grundlegenden Disziplinierungspraktiken der Verteilung von Individuen im Raum: die Klausur, also das Einschließen der gesamten Institution und damit die Abtrennung von schädlichen und nicht steuerbaren Einflüssen von außen; die Parzellierung, also die kleinräumige Strukturierung der Individuen auf ein- Die Disziplinen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen 12

zelne und klar zuordenbare Plätze, die eine Anwesenheitskontrolle genauso zulassen, wie die Steuerung von Kommunikation; Die Zuweisung von Funktionsstellen, also die klare Zuordnung der zuvor parzellierten Individuen auf einzelne Funktionen innerhalb der jeweiligen Institution; die Einführung von Rängen und Rangfolgen zur weiteren Strukturierung der Individuen neben der örtlichen Zuteilung. (vgl. Foucault 2004, S. 180 190) Der erwartete Besserungseffekt resultiert weniger aus Sühne und Reue als vielmehr direkt aus der Mechanik einer Dressur. Richten ist Abrichten (Foucault 2004, S. 232) Analog zur geographischen Disziplinierungspraxis nimmt die zeitliche Orientierung ebenso einen wesentlichen Platz ein. Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit und zeitliche Zuordnung sind ebenso Teil dieser Mechanismen, wie die komplette Ausfüllung des verfügbaren Zeitraums mit disziplinierter Tätigkeit. Das Nichts-Tun, der so genannte Müßiggang wird verhindert, der gesamte Tag, das gesamte Leben ist durch Stundenpläne eingeteilt. (vgl. Foucault 2004, S. 190 195) Diese Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/nützlich machen, kann man die»disziplinen«nennen. (Foucault 2004, S. 175) Durch das Eindringen der Disziplinartechniken in alle Bereiche der Gesellschaft kommt es dazu, dass diese zur "gesellschaftstragenden Struktur" werden. "Es kommt zu einer für die Individuen unsichtbaren Biopolitik der Macht, die in die letzten Poren der Gesellschaft eindringt, ohne daß es für die Individuen eine Möglichkeit gibt, dieser Mikrophysik der Macht zu entrinnen." (Hillebrandt 2000, S. 120f) Das Panopticon als Metapher für die Gesellschaft Der perfekte Disziplinapparat wäre derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen. Ein zentraler Punkt wäre zugleich die Lichtquelle, die alle Dinge erhellt, und der Konvergenzpunkt für alles, was gewußt werden muss: ein vollkommenes Auge der Mitte, dem nichts entginge und auf das alle Blicke gerichtet wären (Foucault 2004, S. 224) Das Panopticon ist die architektonische Umsetzung des Prinzips der totalen Disziplinierung der eingeschlossenen Individuen durch eine immerwährende, unsichtbare und amorphe Überwachungsmacht, das Bentham Ende des 18. Jahrhunderts als Strafanstalt geplant aber nie in realiter umgesetzt hat. In einem Ringförmigen Gebäudekomplex sind die Zellen an der Aussenfläche angeordnet und werden vom runden Innenhof, genau im Mittelpunkt des Ringes überwacht. Vom zentralen Überwachungsturm blickt man unbemerkt in die nach innen durchsichtigen Zellen, die in Form von Segmenten Das Panopticon als Metapher für die Gesellschaft 13

angeordnet sind. (vgl. Foucault 2004, S. 256 261) Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panopticon: die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustands beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt. (Foucault 2004, S. 258) Die laufende potentielle Kontrolle, das gesellschaftsimmanente unsichtbare Panopticon führt zur Notwendigkeit, sich selbst zu disziplinieren. Laufende Kontrolle und permanente Überwachung sind Disiziplinierungstechniken und Mittel der guten Abrichtung von Individuen. Das so genannte "panoptische Prinzip" ist die ultima ratio dieser Disziplinierungen. Permanente potentielle Überwachung durch die abstrakte Kontrollinstanz, die das Individuum selbst nicht erkennen vermag führen dazu, dass die Überwachten die Disziplin internalisieren und zu Subjekten werden. Erst diese Genese des Individuums erlauft die Produktion des Wissens über sich selbst und damit die Möglichkeit sich als Subjekt der panoptischen Kontrolle des Objekts zu entziehen. (vgl. Hillebrandt 2000, S. 119) "Individualisierung ist für Foucault die moderne Form der Disziplinierung, ohne die die moderne Konstitution der modernen Gesellschaft als Disziplinargesellschaft nicht möglich ist." (Hillebrandt 2000, S. 120f) Interessant ist die Camouflage der Disziplinstruktur, die sich unter dem Konzept "Steigerung der individuellen Freiheit" internalisieren lässt, um schlussendlich durch diese gleichgeschalteten Selbstdisziplinierungen zur Massendisziplinierung zu führen, also genau die zuvor vorgetäuschte "individuelle Freiheit".wieder zu zerstören. (vgl. Hillebrandt 2000, S. 122) Resümee Ging Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts noch von ganz deutlichen Strukturen der Herrschaft aus, es für alle Beteiligten immer ganz klar, wer Herrschender ist, und wer Beherrschter, so verändert sich diese Perspektive auf die Gesellschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts bis zur postmodernen Betrachtung Michel Foucaults sehr deutlich. Stellt Weber noch die Zweckrationalität in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, so ist der Zweck und die Ratio des Individuums keine Kategorie im Denken Foucaults. Herrschaftsmechanismen verschwimmen, das Oben und Unten, das bei Max Weber noch erkennbar war jene klare und eindeutige Zuordnung der Aufgaben für jeden Akteur innerhalb der Gesellschaft - ist in Foucaults multilateraler und dezentraler Machtstruktur nicht mehr erkennbar. Waren einst die Disziplinierenden Strukturen, Richter im Auftrag der Herrschenden klar zu erkennen, so verwandelte sich die Realität hin zu Resümee 14

anonymen Disziplinierungsorganen, die als Teilaufgabe von vielen Institutionen der Gesellschaft mit erledigt werden. Mit dem Wandel der Strukturen, der einher geht mit einer Steigerung der Komplexität von Gesellschaftsimmanenten Beziehungsgeflechten, muss sich auch der Mensch selbst ändern. Waren zu Beginn der Moderne noch externe Disziplinierungsmechanismen ausreichend, die geringe Komplexität der Gesellschaft zu strukturieren, benötigt man im 21. Jahrhundert intrinsische Disziplinierungsstrukturen, getarnt als individuelle Befreiung, um der modernen hochkomplexen Gesellschaft Rechnung zu tragen. Welche Änderungen in der Struktur die moderne Disziplinargesellschaft noch benötigt, um sich der weiterhin unaufhaltbaren Komplexitätssteigerung innerhalb der Gesellschaft anzupassen, ist aus heutiger Sicht nicht zu beantworten. Doch eines ist sicher, Veränderungen werden weiterhin notwendig sein. Resümee 15

Von der funktional stabilisierten sozialen Ordnung zur funktional differenzierten Gesellschaft Talcott Parsons Strukturfunktionalismus Talcott Parsons (geboren 1902) war US-Amerikaner und Sohn eines protestantischen Geistlichen und einer Frauenrechtlerin, der zunächst in den USA Biologie studierte um dann einen Abschluss der Wirtschaftswissenschaften zu erlangen. An der London School of Economics (LSE) studierte er im Anschluss Nationalökonomie, eine Ausbildung, die er 1927 in Heidelberg - einer der früheren Wirkungsstätten Max Webers - mit seiner Dissertation über Kapitalismus abschloss. Danach war er an der Harvard University in Cambridge, USA zunächst im Bereich der Ökonomie und anschließend ab 1931 im Bereich der Soziologie tätig. 1979 starb Parsons in München im Zuge einer Deutschlandreise, die er anlässlich des 50. Jahrestags seiner Promotion unternahm. (vgl. Müller 2002b) Talcott Parsons greift in seiner Theorie sowohl auf die Ideen von Max Weber, als auch auf die Konzepte Emile Durkheims zurück. Der Sinnzusammenhang von sozialem Handeln, wie ihn Weber definiert hat ist ein wesentliches Element in seinem zunächst als Handlungstheorie ausgelegtem Konzept, das später zu einer Systemtheorie der Gesellschaft wurde. (vgl. Schülein, Brunner 2001a, S. 91f) Menschliches Handeln ist»kulturell«, insofern auf Handlungen bezogene Sinnbedeutungen und Intentionen entwickelt werden [ ], die sich ganz allein auf das universelle Merkmal menschlicher Gesellschaften, die Sprache, konzentrieren. (Parsons 1975, S. 14) Parsons teilt in seiner Theorie die unterschiedlichen organisierten Formen der Interaktionen, des menschlichen Handelns in vier differenzierte so genannte Systeme ein: den Organismus; das gelernte Verhaltenssystem, die Persönlichkeit; das kulturelle System und als vierte Ebene das Sozialsystem, das die sozialen Beziehungen organisiert. (vgl. Parsons 1975, S. 15 16) Das AGIL-Schema Gesellschaften sind nach Parsons Handlungssysteme. Für Handlungssysteme gilt, dass diese vier verschiedene Grundfunktionen erfüllen müssen: 1. Anpassung an die Umweltbedingungen und Gewinnung von erforderlichen Ressourcen (Adoption): [ ] seine allgemeinere Anpassung an die generellen Bedingungen des Milieus (Parsons 1975, S. 17); 2. Zielerreichung des Systems (Goal- Attainment): [..] seine Ausrichtung auf das Erreichen von Zielen in bezug auf das Milieu (Parsons 1975, S. 17); Talcott Parsons Strukturfunktionalismus 16

3. Innere Einheit und Verhinderung von zu starken Abweichungen (Integration): die innere Integration des Systems (Parsons 1975, S. 17); 4. Erhalten der Grundstruktur und damit Bewahrung von Kontinuität (Latency): [ ] alles was mit der Aufrechterhaltung der höchsten»regierenden«oder kontrollierenden Formen des Systems zu tun hat (Parsons 1975, S. 17) Aus diesen vier Grundfunktionen, besser gesagt aus den Anfangsbuchstaben von Parsons' englischsprachigen Bezeichnungen: Adoption, Goal- Attainment, Integration, Latency, entsteht das Akronym AGIL, das dem Gesamtmodell schließlich den Namen gab: AGIL-Modell (vgl. Schülein, Brunner 2001a, S. 92) Aus diesen Grundfunktionen von Handlungssystemen konstruiert Parsons nun unterschiedliche Subsysteme, die genau diese vier Funktionen - jedes genau eine davon - erfüllen: Der Organismus (Anpassung), die Persönlichkeit (Zielverwirklichung), das soziale System (Integration), das kulturelle System (Strukturerhaltung). Er gibt seiner funktionalistischen Theorie damit auch die Struktur. (vgl. Schülein, Brunner 2001a, S. 93; Parsons 1975, S. 17) Eine Gesellschaft ist ein Typus des Sozialsystems innerhalb eines Universums sozialer Systeme, welches als System den höchsten Grad der Selbständigkeit in bezug auf sein Milieu erreicht. (Parsons 1975, S. 19) Die Gesellschaft ist in Parsons Struktur das soziale System. Diese gliedert sich - ganz im Sinne eines fraktalen Musters - erneut in vier Unterstrukturen, die erneut die vier Grundfunktionen des AGIL-Modells erfüllen müssen: Wirtschaftssystem zur Anpassung, politisches System zur Zielerreichung, Normen und Regeln als Integrationsfunktion und die Kultur und die Werte zur Strukturerhaltung. Natürlich kann man nun das Wirtschaftssystem selbst wieder aus der Perspektive der vier zu erfüllenden Funktionen sehen und erneut strukturieren. Produktionstechnik wäre beispielsweise das Subsystem zur Anpassung, die Wirtschaftspolitik dient der Zielerreichung, das Wirtschaftsrecht der Integration und die Wirtschaftskultur der Strukturerhaltung. (vgl. Schülein, Brunner 2001a, S. 93) Letzte Realität Die unterschiedlichen Teilsysteme bilden für jedes dieser Subsysteme auch das Milieu, von dem sich diese im Sinne der Differenzierung auch abzugrenzen haben. Die so genannte "letzte Realität" bildet ein eigenes Milieu oberhalb sämtlicher Systeme, an dem sich sozusagen alles ausrichten kann. So hat beispielsweise das Sozialsystem fünf verschiedenen Milieus, mit denen es sich austauscht: die letzte Realität, kulturelle Systeme, Persönlichkeitssysteme, Verhaltensor- Letzte Realität 17

ganismen und das physisch-organische Milieu. (vgl. Parsons 1975, S. 19f) Aber welche Stellung ein Legitimationssystem innerhalb dieser Entwicklung auch immer einnimmt, es ist stet angewiesen auf eine - und sinnvoll abhängig von einer - Begründung durch geordnete Beziehungen zu einer letzten Realität. (Parsons 1975, S. 23) Nähere Ausführungen zum Konzept der letzten Realität finden sich nicht, Parsons benützt diesen Notausgang um die Ausrichtung und den Sinn des kulturellen Systems zu begründen, das sozusagen Abbilder und Repräsentationen dieser letzten Realität herstellt. 7 Das heißt, seine Begründung ist immer im gewissen Sinn eine religiöse. (Parsons 1975, S. 23) Gesellschaftsstruktur Die kollektive Organisation bietet den einzelnen Individuen unterschiedliche Rollensets, die mit verschiedenen Rollenerwartungen und -Chancen versehen sind. Diese Rollen werden nun von den Individuen selbstständig eingenommen und ausgefüllt. So wird nach Parsons das Dilemma zwischen Vergesellschaftung und Individualismus der gesellschaftlichen AkteurInnen gelöst. (vgl. Parsons 1975, S. 32f) 7 Möglicherweise ist das für den Pastorensohn Parsons auch die einzige Möglichkeit, seinen eigenen Glauben, oder den in der Amerikanischen Gesellschaft immanenten christlichen Glauben, in seinen Theoriekomplex einzubauen. Das Vorhandensein von Rollen ist hierbei die Schnittstelle der Makrotheorie Parsons in die Mikrotheorien der Rollen, wie sie beispielsweise Dahrendorf in seinem Werk homo sociologicus hinreichend beschrieben hat 8. (vgl. Parsons 1975, S. 33) Nicht das totale, konkrete Individuum, sondern die Person in ihrer Rolle ist das Mitglied eines Kollektivs, auch der gesellschaftlichen Gemeinschaft. [ ] Der pluralistische Charakter der von einer Person beanspruchten Rollen ist eine wichtige Grundlage der soziologischen Theorie und darf nie vergessen werden. (vgl. Parsons 1975, S. 36) Funktionale Differenzierung als Schlüsselkategorie Der Übergang zur Moderne führte zur Steigerung der Komplexität in der Welt. Nicht mehr eine steuernde Zentralinstanz hat das Macht, Interpretations und Wahrheitsmonopol, sondern die Gesellschaft wird multilateral und polyzentrisch. Dadurch verändert sich auch die Perspektive, die ein Beobachter einnimmt, der die Gesellschaft beschreiben möchte. Mit dem Übergang zur Moderne hat sich eine azentrische oder polyzentrische Gesellschaft formiert, die keine bindende, Autorität gebende Instanz mehr zuläßt.»das hat zur Folge, daß sich kein Standpunkt mehr festlegen 8 Vgl. Hierzu auch die Seminararbeit zur LV Sozialwissenschaftliche Mikrotheorien, in der ich die Rollentheorie Dahrendorfs ausgeführt habe. Gesellschaftsstruktur 18

läßt, von dem aus das Ganze, mag man es Staat oder Gesellschaft nennen, richtig beobachtet werden kann«(luhmann,1984:629 zit in Kneer, Nollmann 2000, S. 86) Man kann das Konzept funktionaler Differenzierung als Schlüsselkategorie der fachwissenschaftlichen Bemühung um eine Theorie moderner Gesellschaften ansehen. (Kneer, Nollmann 2000, S. 77) Im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie wird funktionale Differenzierung als Auftrennung der gesellschaftlichen Funktionen auf spezialisierte und voneinander abhängigen Teilsystemen verstanden: Die einzelnen Teilsysteme sind, da sie sich alle auf die Bearbeitung einer gesellschaftlichen Funktion konzentrieren, in einer wesentlichen Hinsicht gleich. Und sie sind zugleich ungleich, da sie jeweils unterschiedliche Funktionen erfüllen (Kneer, Nollmann 2000, S. 84) Luhmann unterscheidet drei unterschiedliche Formen der Differenzierung des Gesellschaftssystems: Segmentäre Differenzierung als Ausdifferenzierung in gleiche Teilsysteme, Stratifikatorische Differenzierung als ungleiche Schichten als Subsysteme und schließlich funktionale Differenzierung als Teilung in Subsysteme entlang spezifischer Funktionen der Teile (vgl. Kneer, Nollmann 2000, S. 83f) Als Systemdifferenzierung versteht man die erneute Differenzierung der Systembildung innerhalb eines Systems. Dabei einstehen Teilsysteme, die für die anderen Teilsysteme jeweils wieder zur Umwelt werden. (vgl. Kneer, Nassehi 2000, S. 116) Systemtheorie Niklas Luhmann übernimmt wesentliche Theoriekonzepte Parsons und berücksichtigt gängige Kritik am Strukturfunktionalismus. Wichtigste Änderung ist die Vorreihung des Funktionsbegriffs über die Kategorie der Struktur. Die funktionale Analyse tritt vor die strukturelle Beschreibung von Systemen. Durch diesen paradigmatischen Perspektivenwechsel geht Luhmann auch nicht länger davon aus, daß soziale Systeme geteilte Normen und Werte haben, der Begriff des "Sozialen" ist daher nicht länger normativ. (vgl. Kneer, Nassehi 2000, S. 37f) Eine weitere wesentliche Erweiterung, die Luhmann selbst erst in den 1980ern in seine Systemtheorie eingeführt hat ist das aus der Biologie übernommene und adaptierte Konzept der Autopoiesis. Als autopoietische Systeme bezeichnet man geschlossene Systeme, die die Elemente, aus denen sie bestehen selbst erzeugen. (vgl. Schülein, Brunner 2001b, S. 105) Der Begriff bezeichnet in der Systemtheorie eine Organisation der Operationen eines Systems, durch welche alle Elemente des Systems durch die selektive Verknüpfung der Elemente dieses Systems erzeugt werden. Der Begriff impliziert, dass nur das System selbst Systemtheorie 19

seine Elemente erzeugen kann und in der Tiefenstruktur seiner Selbststeuerung von seiner Umwelt abhängig ist. (Willke 2006, S. 247) Grundsätzlich unterscheidet Luhmann zwischen psychischen Systemen und sozialen Systemen. Als psychisches System ist beispielsweise das menschliche Bewusstsein zu nennen, als soziales System eine Organisation, wie ein Verein, oder eine Firma. Als Emergenz bezeichnet Luhmann die Tatsache, dass sich auf einer weiteren Ordnungsebene Eigenschaften ausbilden, die aus der darunterliegenden Struktur nicht hervorgehen, also beispielsweise die Gedanken, die nicht aus der banalen Gehirnstruktur zu erklären sind, daher als emergente Ebene dem psychischen System zugeordnet werden. Es existiert zwar eine strukturelle Koppelung und eine Abhängigkeit - ohne Gehirnstruktur kann kein psychisches System Gedanken produzieren, trotzdem ist das System selbst geschlossen, im Beispiel des Gehirns operieren daher Gehirn und Bewußtsein von einander getrennt. (vgl. Kneer, Nassehi 2000, S. 62) Psychische Systeme und konstruktivistische Weltsicht Psychische Systeme sind autopoietische Systeme, deren nicht weiter auflösbare Letzteinheiten Gedanken bzw. Vorstellungen sind. Die Bewußtseinselemente haben ereignischarakter, d.h. sie sind nur von kurzer, momentaner Dauer (Kneer, Nassehi 2000, S. 64) Die als Thomas Theorem 9 bekannte Feststellung, dass Situationen real sind, wenn sie von den Menschen für real gehalten werden, zeigt, dass die Welt selbst nur als Konstruktion einer Welt aufgrund der dort zur Verfügung stehenden Informationen über die Systemumwelt im jeweiligen Bewusstseinssystem des Betrachters darstellt. Gerade der Systemtheoretische Ansatz ist als Radikalkonstruktivistische Theorie bekannt (vgl. Willke 2006, S. 48f) Das psychische System arbeitet nicht mit Abbildungen der Außenwelt, sondern mit Zuordnungen von gefilterten neuronalen Zuordnungen. Es sind daher nicht direkte Wirkungen von Ereignissen in der Systemumwelt, die Eingang in das psychische System finden, sondern die Ereignisse stoßen neuronale Relationen an, was weiter im Bewusstseinssystem mit diesen Relationen passiert, ist vom externen Stimulus unabhängig. (vgl. Willke 2006, S. 64) Soziale Systeme Soziale Systeme sind autopoietische Systeme, die in einem rekursivgeschlossenem Prozeß fortlaufend Kommunikation aus Kommunikation produzieren. Das Soziale bildet diesem Verständnis zufolge eine eigenständige, emergente Ordnungsebene. (Kneer, Nassehi 2000, S. 80) Nach Luhmann meint ein soziales System einen Sinnzusammenhang von 9 If men define situations as real, they are real in their consequences. Psychische Systeme und konstruktivistische Weltsicht 20

sozialen Handlungen die aufeinander verweisen. Diese Begrifflichkeit unterscheidet sich stark von der Weberschen Definition des sozialen Handelns. Dies ist notwendig, weil Systeme mehr sind, als die handelnden AkteurInnen, sie sind emergente Ordnungen. (vgl. Schülein, Brunner 2001b, S. 108) Soziale Systeme reproduzieren sch dadurch, daß sie in einem dynamischen Dauerprozeß ereignishafte Kommunikationen an Kommunikationen anschliessen. Jede Kommunikation erzeugt, mit anderen Worten, fortlaufend neue Folgekommunikationen - oder das System hört auf zu existieren. Soziale Systeme beziehen sich dabei auf sich selbst; sie sind insofern operativ geschlossen, als sie ihre Elemente nicht aus der Systemumwelt beziehen, sondern mittels eigener Operationen selbst herstellen. (Kneer, Nollmann 2000, S. 83) Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass Kommunikation im Sinne der Systemtheorie ein dreistufiger Prozess ist, der aus Information, Mitteilung und Verstehen besteht und daher nicht Personen zuordenbar ist, sondern zum Inhalt des Systemhandelns. (vgl. Kneer, Nassehi 2000, S. 95) Die Funktion von sozialen Systemen ist die Reduktion der Umweltkomplexität: Da der einzelne Mensch nur sehr begrenzte Fähigkeiten zur Erfassung und Reduktion von (Welt)Komplexität besitzt, übernehmen soziale Systeme diese Funktion. Sie vermitteln zwischen der unbestimmten Komplexität der Welt und der menschlichen Kapazität zur Komplexitätsreduktion. (Schülein, Brunner 2001b, S. 109) Ein soziales System bildet eine Struktur, sie entwickeln Regeln zur Reduktion der Umweltkomplexität. Es werden Erwartungen für Systemimmanentes Verhalten generalisiert. Dadurch können soziale Systeme einen stabilen Rahmen bilden und ihren eigenen Bestand über längere Zeit beibehalten. (vgl. Schülein, Brunner 2001b, S. 109) Codes und Programme Nach Luhmann sind Funktionssysteme operativ geschlossen, das heißt, sie operieren im Selbstkontakt ohne direkte Außenbeziehung und stellen alle Systemkomponenten emergent selbst her. Als wesentliches Element der operativen Schließung dienen binäre Codes, beobachtungsleitende Grundunterscheidungen für die Funktion des Systems, die nur zweiwertig, also wahr oder falsch, als Wert annehmen können. Je nach Funktion des Systems unterscheidet sich der jeweilige und ausschließliche Code dieses Systems: Für das Wissenschaftssystem beispielsweise ist es relevant, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, für das Religionssystem, ob etwas dem Heil dient, oder nicht, für das Rechtssystem, ob etwas rechtmäßig ist, oder nicht. (vgl. Kneer, Nollmann 2000, S. 86f) Codes und Programme 21