Dr. Michael Kilchling. M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 1

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Transkript:

Dr. Michael Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 1

Inhalt Einleitung: Opferbezogene Reformen seit 1986 Exkurs: Das Opfer im Strafrecht Das Opfer und seine Bedürfnisse im Spiegel der empirischen Opferforschung Opferbeteiligung im Strafprozess Opferbeteiligung jenseits des Strafverfahrens Ausblick M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 2

Einleitung M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 3

Ausgangslage Seit 1986 weitreichende opferbezogene Reformen Opferschutzgesetz 1986 Zeugenschutzgesetz 1998 Gewaltschutzgesetz 2001 (Erstes) Opferrechtsreformgesetz 2004 37. Strafrechtsänderungsgesetz 2005 Justizmodernisierungsgesetz 2006 Anti-Stalking-Gesetz 2007 Zweites Opferrechtsreformgesetz 2009 EU-Opferrechtsrichtlinie 2012 Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs 2013 Drittes Opferrechtsreformgesetz 2014 (Entwurf) M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 4

Ausgangslage Klare Entwicklungslinie: vom 'personalen Beweismittel' zum Verfahrenssubjekt, das mit einer Vielzahl von originären Rechtspositionen ausgestattet wurde Informationsrechte Schutzrechte Beistandsrechte (aktive) Beteiligungsrechte (Nebenklage) Der konkrete Umfang dieser Rechte hängt ganz wesentlich von der Opferkategorie ab Nebenklageberechtigte Opfer Sonstige Opfer bzw. Opferzeugen M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 5

Viktimologischer Opferbegriff Opfereigenschaft als faktische Größe Enge/weite Auffassung» reale Opfer (Opfer im strafrechtlichen Sinne)» Selbstwahrnehmung als Opfer (nicht nur strafrechtlich relevante Viktimisierungen; Opfer als originär viktimologische Kategorie) Erweiterungen nach Viktimisierungsdimensionen» primäre, sekundäre, tertiäre Viktimisierung nach Opfertypologien» direkte, indirekte Opfer» personale, kollektive Opfer M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 6

Viktimologischer Opferbegriff Opfereigenschaft als faktische Größe Konsequenzen für das Strafprozessrecht Opfer kann nicht als 'Nichtopfer' behandelt werden Verletztenstatus wird vorgreifend anerkannt» vom Vorverfahren» bis zur rechtkräftigen Feststellung des Gegenteils (vgl. 171ff., 401 StPO) Fragen der strafrechtlichen Bewertung, insbes. der strafrechtlichen Verantwortung des Beschuldigten können das vom Opfer wahrgenommene Viktimisierungsgeschehen selbst nicht in Frage stellen Keine Kollision mit der Unschuldsvermutung M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 7

Exkurs: Das Opfer im Strafrecht M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 8

Opfer in der Strafrechtstheorie Anders als im Strafverfahrensrecht ist das Opfer in der Strafrechtstheorie immer noch eine Randfigur Absolute Straftheorien: Opfer spielt keine Rolle Relative Straftheorien: Prävention als wesentl. Zielbestimmung Generalprävention:» potenzielle Opfer Spezialprävention:» ausschließlich täterbezogen» h.m.: präventionsbezogenes Strafrecht kann das Opfer nicht berücksichtigen und muss es sogar neutralisieren (W. Hassemer)» Reflexwirkung zugunsten des potenziellen Opfers» Resozialisierung des tatsächlichen Opfers? M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 9

Opferbezogene Strafzwecke? Resozialisierung des Opfers Anknüpfungspunkte: Reintegrationsprävention Minimierung der mit der öffentlichen Strafverfolgung verbundenen Belastungen Vermeidung von sekundärer Viktimisierung Verbeugung gegen Reviktimisierung (Prävention durch Opferprävention ) Feststellung des Unrechtscharakters des Tatgeschehens Wiedergutmachung/Schadensausgleich Wiederherstellung des durch die Viktimisierung gestörten Normvertrauens Prävention von Opfer-Täter-Karrieren M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 10

Das Opfer und seine Bedürfnisse im Spiegel der empirischen Opferforschung M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 11

Opfertypologien Opfereigenschaft als solche ist keine wissenschaftlich relevante Erklärungsgröße Einzelne Opfermerkmale sind bestimmend für Bedürfnisse und Erwartungen von Opfern Deliktsbetroffenheit: Nichtkontakt-/Kontakt-/Einbruchsopfer Schadensart: materielle/nichtmaterielle Schäden Anzeigeverhalten und Anzeige-/Nichtanzeigemotive Nähe zwischen Täter und Opfer Entschädigung bzw. subjektives Entschädigungsgefühl Indirekte Opfer (Angehörige, Hinterbliebene) als besondere Kategorie Das 'typische Opfer' gibt es ebenso wenig wie typisierbare Opferinteressen und Opfererwartungen M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 12

Verfahrensstadien Opfererwartungen und Opferbedürfnisse unterscheiden sich ferner entlang der verschiedenen Verfahrensstadien Unmittelbar nach der Tat Ermittlungsstadium Prozessstadium Verfahrenserledigung und Sanktionierung Strafvollstreckung und ggf. Strafvollzug Tatverarbeitung endet nicht notwendigerweise mit der strafprozessualen Erledigung M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 13

Opfererwartungen Im Hinblick auf justizbezogene Opfererwartungen unterscheidet die internationale Viktimologie zwei wesentliche Bereiche Opfer wünschen sich Verfahrensgerechtigkeit ('procedural justice') Ergebnisgerechtigkeit M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 14

Opfererwartungen Ergebnisbezogene Erwartungen "Ergebnisgerechtigkeit" Feststellung des Unrechts Angemessene täterbezogene Reaktion (konkrete Straferwartungen meist moderat) Im oberen Kriminalitäts- und Sanktionsbereich decken sich Strafpraxis und Opfererwartungen weitgehend Freiheitsstrafe am ehesten gewünscht von Einbruchs-, Raubund Sexualopfern, Opfern mit körperlichen und psychischen Schäden und Täter-Opfer-Beziehungen Frauen haben per se weniger punitive Straferwartungen Geldstrafe wenig populär Wiedergutmachungsbedürfnis ist zentrales Element, und zwar in allen Segmenten strafrechtlicher Reaktion, einschließlich Täter-Opfer-Ausgleich M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 15

Opfererwartungen Verfahrensbezogene Erwartungen "Verfahrensgerechtigkeit" Information möglichst opferschonende Strafverfolgungspraxis (Opferschutz) Opferstärkung ('victim empowerment') Bereitstellung verschiedener aktiver wie passiver Partizipationsoptionen einschl. Recht 'in Ruhe gelassen' zu werden M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 16

Opferbeteiligung im Strafprozess M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 17

Opferbeteiligung im Strafprozess Weltweit im wesentlichen zwei unterschiedliche Modelle Indirekte Beteiligung» angelsächsisches Modell» adversarischer Prozess» VIS, VPS Direkte Beteiligung» kontinentaleuropäische Prozesstradition» inquisitorischer Prozess» Nebenklage, Privatbeteiligung, partie civile, acusación particular, etc. M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 18

Opferbeteiligung im Strafprozess Adversatorisches Modell: Zweistufiges Verfahren (Schuld-Interlokut): getrennte Rechtsfolgenverhandlung Bipolare Struktur (Zweiparteienprozess): Anklage gegen Verteidigung Horizontale Interaktion Adressaten: Jury, Richter Ziel: faires Verfahren Passive Opferrolle ("Stimme"), zumeist beschränkt auf die Rechtsfolgenverhandlung (VIS, VPS) M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 19

Opferbeteiligung im Strafprozess Inquisitorisches Modell: Verfahrenseinheit Multipolare Struktur (Mehrparteienprozess) möglich: Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Opfer Vertikale Interaktion Adressat: Gericht Ziel: Wahrheitsfindung Aktive Opferrolle möglich (Nebenklage, partie civile, acusación particular, etc.) M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 20

Common Law: Adversatorisches Verfahren V 'Victim Impact Statement', 'Victim Personal Statement', etc. A R S M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 21

Kontinentale Rechtssysteme: Inquisitorisches Verfahren R A S M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 22

Kontinentale Rechtssysteme: Inquisitorisches Verfahren R A S V M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 23

Kontinentale Rechtssysteme: Inquisitorisches Verfahren RRR 2 1 S 1 2 3 x M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 24

Nebenklage 395 ff. StPO: Verletzter kann sich in jedem Verfahrensstadium der Anklage anschließen Sehr viel weitergehende Rechte als die sonstigen Opfer bzw. Opferzeugen Quasi-Parteistellung neben Staatsanwaltschaft und Verteidigung Herausgehobene Platzierung im Gerichtssaal Im wesentlichen dieselben Rechte wie die Staatsanwaltschaft Bestimmte Rechte stehen dem nebenklagebefugten Opfer auch dann zu, wenn es gar nicht als Nebenkläger auftreten möchte Beschränkung auf bestimmte Katalogdelikte Konsequenz: zwei- bzw. drei 'Klassen' von Opfern (privilegierte Opfergruppen) M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 25

Nebenklage Rechte der Nebenkläger: Vorverfahren:» Akteneinsicht Hauptverfahren/Hauptverhandlung:» Herausgehobene Platzierung im Gerichtssaal» Rechtliche Vertretung, u.u. Beiordnung ( 397a)» Ununterbrochene Anwesenheit» Fragen (Angeklagte, Zeugen, Sachverständige)» Anträge» Erklärungen» Plädoyer (einschl. Erwiderung) Nach der Hauptverhandlung:» (eingeschränkte) Rechtsmittelbefugnis (vgl. 401) M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 26

Nebenklage Keine Mitwirkungsrechte des Nebenklägers: Bei Opportunitätseinstellungen ( 153, 153a) Bei Absprachen ( 257c)» Nebenkläger erhält lediglich Gelegenheit zur Stellungnahme M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 27

Opferbeteiligung im Strafprozess Positive Wahrnehmung der Nebenklage bei Opfern Symbolisches Setting» Offizieller Status als (Quasi-) Partei» Anerkennung als legitimer Teilnehmer am Verfahren Geschützter Aktionsraum» Opfer kann agieren, reagieren, aktiv "mit-wirken"» Nebenklagevertreter als Unterstützer» Permanenter Ansprechpartner für Information und Erklärung über Verfahrensregeln, Verfahrensablauf und gerichtliche Entscheidungen» Emotionale Unterstützung gegenüber Gericht und Verteidigung (situative Sicherheitsvermittlung, Vorbeugung gegen tatsächlichen oder bloß gefühlten Kontrollverlust) M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 28

Nebenklage Das Potenzial der Nebenklage zeigt sich besonders exemplarisch in großen Strafprozessen (erster) Contergan-Prozess (1968-1971):» 312 Opfer als Nebenkläger John Demianjuk-Verfahren (2009-2011):» 40 Opfer als Nebenkläger NSU-Prozess (seit 2013):» aktuell mehr als 80 Opfer als Nebenkläger (mit mehr als 60 anwaltlichen Nebenklage-Vertretern) M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 29

Nebenklage im NSU-Prozess Platzanordnung im Verhandlungssaal Nebenkläger u. Nebenkl.- Vertreter Presse Öffentl. Sachverst. Bundesanwälte Technik, Schriftfüh. Zeugen Empore Gericht (einschl. Ersatzrichter Beamte Angeklagte mit Verteidigern M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 30

Opferbeteiligung jenseits des Strafverfahrens M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 31

Täter-Opfer-Ausgleich Deutschland verfügt im internationalen Vergleich über einen der weitesten Rechtsrahmen für Restorative Justice Universale Anwendbarkeit Keine fallbezogenen Beschränkungen» Straftaten» Personen (Verdächtige, Opfer) Keine prozessualen Beschränkungen Offener Zugang» vor, während und nach dem Strafverfahren» keine gesetzl. Beschränkung auf (amtlich) zugewiesene Fälle» einzelne Beschränkungen aufgrund interner Standards der Anbieter M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 32

Täter-Opfer-Ausgleich Deutschland verfügt im internationalen Vergleich über einen der weitesten Rechtsrahmen für Restorative Justice Grundsätzlich modelloffen StGB, JGG u. StPO verweisen zwar auf Täter-Opfer-Ausgleich Funktionaler Ansatz Kommunikationsprozess erforderlich (st. Rspr. des BGH) Darüber hinaus zahlreiche Doppelregelungen, die alternativ zu einem Täter-Opfer-Ausgleich i.e.s. ausschließlich auf die materielle Wiedergutmachung abstellen Grundsätzlich hohe Ausgleichsbereitschaft bei Opfern Insbes. bei Einbeziehung indirekter Formen M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 33

Täter-Opfer-Ausgleich Rechtliche Anreizmöglichkeiten für eine Teilnahme am Täter- Opfer-Ausgleich u./o. Wiedergutmachung: Ersatz für förmliches Strafverfahren u./o. (öffentliche) Hauptverhandlung Strafersatz Strafmilderung Strafbegleitung Strafverkürzung M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 34

Opferbezug im Strafvollzug StVollzG 1977 reflektiert die (straf-) rechtspolitische Entwicklung zur Stärkung von Opferschutz und Opferrechten, die erst Mitte der 1980er Jahre eingesetzt hat, nicht hinreichend Der Strafvollzug war traditionell durch eine weitreichende Exklusion des Opfers geprägt» Ausnahme 1: Schuldenregulierung» Ausnahme 2: Opfersensibilisierungs-/Opferempathieprogramme für bestimmte Gefangenengruppen (indirekter Opferbezug)» im Übrigen keine systematische Förderung von direkten (persönlichen) Begegnungen» Begegnungswünsche von Opfern teilweise sogar explizit zurückgewiesen» Resozialisierungskonzepte lange Zeit ausschließlich gefangenenorientiert (Neutralisierung des Opfers) M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 35

Opferbezug im Strafvollzug Nach der Förderalismusreform wird die Opferorientierung von den Landesgesetzgebern verstärkt aufgegriffen» Einfühlung in das Opfer als wichtiges Element in der Behandlungskonzeption zur Vermittlung von Einsicht und sozialer Kompetenz» Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich als Lernfeld sozialer Verantwortung Opferbezogene Bemühungen der Gefangenen können gem. 57 Abs. 1 StGB ("Verhalten im Vollzug") bzw. 56b Abs. 2 Nr. 1 StGB (Wiedergutmachungsauflage) honoriert bzw. gefördert werden Im Wesentlichen zwei Modelle der Implementation» als explizites Behandlungselement» als übergeordnetes Gestaltungsprinzip Modellprojekt Täter-Opfer-Ausgleich im Vollzug (Ba.-Wü.) M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 36

Ausblick M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 37

Ausblick In dem Moment, in dem ich dem Täter im Gerichtssaal gegenübersaß und er meinem Blick nicht ausweichen konnte, waren die Machtverhältnisse wiederhergestellt [und ich konnte] die Opferrolle verlassen.» Susanne Preusker, FAS vom 13.9.2011 M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 38

Literaturhinweise Barton, S.: Nebenklagevertretung im Strafverfahren, StraFo 2011, S. 161ff. Baurmann, M. & Schädler, W.: Das Opfer nach der Straftat seine Erwartungen und Perspektiven. Wiesbaden 1991 Erez, E., Kilchling, M. & Wemmers, J.A.M. (Hg.): Therapeutic Jurisprudence and Victim Participation in Justice. International Perspectives. Durham 2011 Hörnle, T.: Die Rolle des Opfers in der Straftheorie und im materiellen Strafrecht, JZ 2006, S. 950ff. Kilchling, M.: Empirische Erkenntnisse zur Lage von Opfern, DVJJ-Journal 2002, S. 14 ff. Kilchling, M.: Opferinteressen und Strafverfolgung. Freiburg 1995 Kilchling, M.: Opferschutz und der Strafanspruch des Staates ein Widerspruch? NStZ 2002, S. 57 ff. Kury, H. & Kilchling, M.: Accessory Prosecution in Germany: Legislation and Implementation, in: Erez/Kilchling/Wemmers 2011, S. 41ff. Reemtsma, J.-P.: Die Gewalt spricht nicht. Reclam-Universalbibliothek Bd. 18192 (2002), S. 47ff. Sautner, L.: Viktimologie. Wien 2014. Schneider, H.J.: Viktimologie, in: ders. (Hg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Band 1, 2. Aufl. 2007, S. 395ff. Van Camp, T.: Victims of Violence and Restorative Practices. London/New York 2014 Wemmers, J.A.M.: Victims in the Criminal Justice System. Amsterdam/New York 1996 M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 39

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Dr. Michael Kilchling Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Abteilung Kriminologie Günterstalstr. 73 79100 Freiburg i.br. Tel.: +49-761-7081-230 Fax: +49-761-7081-294 m.kilchling@mpicc.de www.mpicc.de www.euforumrj.org M. Kilchling Opferbezogene Strafrechtspflege Seehaus Leonberg Januar 2015 40