Hauptstudium-Linguistik: Syntaxtheorie (DGA 32) WS 2016-17 / A. Tsokoglou Satzstruktur und Wortstellung im Deutschen 2. Satzstruktur und Wortstellung in den deskriptiven Grammatiken Relativ freie Wortstellung im Deutschen (1) a. Der Mann hat der Frau den Ring geschenkt. b. Den Ring hat der Mann der Frau geschenkt. c. Hans weiß, dass der Mann der Frau den Ring geschenkt hat. * d. Der Mann der Frau hat den Ring geschenkt. 2.1 Grundlegende Begriffe zur Bestimmung der Satzstruktur und Wortstellung a) grammatische Regeln (syntaktische und morphologische Regeln bzw. Bedingungen) b) kommunikative Faktoren (Informationsstruktur: Absicht des Sprechers) 2.1.1 Grammatische bzw. syntaktische Regeln A) Satztypen und Satzklammer (finites Verb infinite Verbform) Typ 1 (Verb-zweit) (2) a. Der Schüler schreibt ein Diktat. b. Der Schüler hat den Lehrer gefragt. c. Was hat der Schüler geschrieben? Typ 2 (Verb-erst) (3) a. Schreibt er das Diktat? b. Hat der Schüler den Lehrer gefragt? Typ 3 (Verb-letzt) (4) a. Der Lehrer weiß, dass der Schüler ein Diktat schreibt. b. Ich weiß, dass er den Lehrer gefragt hat. B) Topologische Felder: Vorfeld Mittelfeld Nachfeld 1) Vorfeld (eine Position vor dem finiten Verb) (5) a. Hans hat dem Freund das Bild gestern gezeigt. b. Dem Freund hat Hans das Bild gestern gezeigt. c. Das Bild hat Hans dem Freund gestern gezeigt. d. Gestern hat Hans dem Freund das Bild gezeigt. e. Gezeigt hat Hans dem Freund das Bild gestern. 1
2) Mittelfeld (Konstituenten zw. der linken und der rechten Klammer) (6) a. Hans hat gestern dem Lehrer das Buch gegeben. b. Gestern hat Hans dem Lehrer das Buch gegeben. c. Gestern hat Hans das Buch dem Lehrer gegeben. d. Gestern hat das Buch Hans dem Lehrer gegeben. e. Gestern hat dem Lehrer Hans das Buch gegeben. f. Gestern hat dem Lehrer das Buch Hans gegeben. Syntaktische Bedingungen a) Notwendige (obligatorische und fakultative) Ergänzungen stehen hinter den freien Adverbialbestimmungen (7) Er besucht in diesem Sommer (PP-Adv.) keine Freunde (DO). b) Nominativ Dativ Akkusativ bei NPs (8) Gestern hat der Schüler (ΝΟΜ) dem Lehrer (DΑΤ) das Buch (AKK) gegeben. Morphologische Bedingungen a) NP vs Pronomen: Pronomen vor NPs (9) Gestern hat er ihm das Buch gegeben. b) Kasus: reiner Kasus vor präpositionalem Kasus (10) Heute schreibt er einen Brief an seinen Bruder. c) Artikel: NP mit bestimmtem Artikel vor NP mit unbestimmtem (11) Er hat das Buch einem Studenten gegeben. 3) Nachfeld (Extraposition / Αusklammerung / Ausrahmung und Nachtrag) grammatische Ausrahmung (12) a. Du hast dich benommen wie ein kleines Kind. (Vergleichsätze) b. Wir sind (deshalb) nicht gefahren, weil das Wetter so schlecht war. (NS) c. Es hat aufgehört zu regnen. (Infinitivkonstruktionen) stylistische Ausrahmung (13) Ihr einziger Sohn ist gefallen, in diesem furchtbaren Krieg. (14) Eine vierte Volksschicht wurde geschaffen, der sogenannte Pöbel. (Apposition) (15) * a. Ich habe getroffen den Chef. * b. Wir haben nicht gesehen sie. c. Wir haben ihn gestern getroffen, den Chef. (16) a. Keiner hat mehr gerechnet mit dieser Entwicklung. b. Sie werden keinen Urlaub machen in diesem Sommer. 2
2.1.2 Informationsstruktur 1) Neutrale vs. markierte Wortstellung grammatische Regeln vs. kommunikative Faktoren Intonation (emphatische Betonung, Kontrast), Hervorhebung, Umstellung (17) a. Er wird morgen den Brief schreiben. (neutral) b. Morgen wird er den Brief schreiben. (neutral) c. Den Brief wird er morgen schreiben. (markiert) (18) Die Schüler haben ein Diktat geschrieben? (Verletzung der syntaktischen Regel) 2) Bekannte vs. neue Information Neutrale Wortstellung: bekannte vor neuer Information (19) Ich habe einen neuen Mantel gekauft. Markierte Wortstellung: neue vor bekannter Information (20) Einen neuen Mantel habe ich gekauft. 3) Informationsstruktur: Thema Rhema Fokus Neutrale Wortstellung: Thema (bekannte Info) Rhema (neue Infos)... Fokus (neueste Info) (21) Hans (Thema) [Rhema hat seiner Freundin einen Ring (Fokus) geschenkt]. 2.2 Basisstruktur, Topikalisierung, Fokussierung, Extraposition 2.2.1 Basisstruktur / Neutrale Wortstellung (22) Die Schüler / Sie schreiben ein Diktat. (S-V-O) (23) Susanne (S) hat gestern ihrem Freund (IO) ein Geschenk (DO) gekauft. (24) Heute schreiben die Schüler ein Diktat. (Adv-V-S-O) (25) a. Er hat dem Freund das Buch geschenkt. (S-V-IO-DO) b. Er hat es ihm geschenkt. c. Er hat es dem Freund geschenkt. d. Er hat ihm das Buch geschenkt. Reihenfolge der unmarkierten Wortstellung (Engel 1991: 323): (26) subj/subj akk dat SUBJ ObjDat ObjAkk DAT AKK pronomen bestimmter Artikel + Nomen UNBEST. ART.+Nomen 3
2.2.2 Topikalisierung / Thematisierung: Vorfeld als Thema-Position Subjekt als Thema (27) Susanne hat gestern ihrem Freund ein Buch geschenkt. (28) Sie hat gestern ihrem Freund ein Buch geschenkt. Thematisierung des DO oder des IO (Voraussetzung: bekannte Information) (29) Der große Bruder hat dem Frank die Eisenbahn geschenkt. (S-V-O: neutral) (30) Die Eisenbahn (Thema) hat ein großer Junge einem Mädchen geschenkt. (31) * a. Dem Frank hat der große Bruder die Eisenbahn geschenkt. * b. Die Eisenbahn hat der große Bruder Frank geschenkt. 2.2.3 Fokussierung (markierte Wortstellung) Unmarkierte Struktur: Vom Thema zum Rhema / Vom Bekannten zum Neuen (32) Thema>Lissy [ Rhema>holte am Donnerstag ihrer Mutter Fokus>einen Strauß. 1) Vorfeld als Fokus-Position (33) a. Der Vater erzählt den Kindern das Märchen. (S-V-IO-DO: unmarkiert) b. Das Märchen erzählt der Vater den Kindern. (DO-V-S-IO: markiert) c. Den Kindern erzält der Vater das Märchen. (IO-V-S-DO: markiert) 2) Fokussierung im Mittelfeld (Markierte Wortstellungen: Umstellungen) (34) a. Gestern hat Hans dem Lehrer das Buch gegeben (neutral). b. Gestern hat Hans das Buch dem Lehrer gegeben. c. Gestern hat das Buch Hans dem Lehrer gegeben. d. Gestern hat dem Lehrer Hans das Buch gegeben. e. Gestern hat dem Lehrer das Buch Hans gegeben. (35) * a. Er hat ihm es gegeben. * b. Es hat dem Lehrer er gegeben. 3) Fokussierung durch Prosodie (36) a. Der Opa hat dem Jungen die Geschichte erzählt. b. Der Opa hat dem Jungen die Geschichte erzählt. c. Der Opa hat dem Jungen die Geschichte erzählt. d. Der Opa hat dem Jungen die Geschichte erzählt. 4
2.2.4 Extraposition: Linksversetzung und Rechtsversetzung 1) Rechtsversetzung (PP, NP) Ausrahmung (+ Wirkung des verbalen Rahmens) (37) a. Sie haben leider damit nicht gerechnet mit dieser Entwicklung. (PP) b. Sie haben leider nicht gerechnet mit dieser Entwicklung. (PP) Nachtrag ( -Wirkung des verbalen Rahmens) (38) Ich werde nicht verreisen in diesem Sommer. (PP) (39) a. Wir haben ihn heute getroffen, den Chef. (NP) b. * Ich habe getroffen den Chef. / * Den Chef habe getroffen ich. 2) Linksversetzung: Vor-Vorfeld / Obligatorische Pro-Form (40) a. Die Irene, die hat ihm den Stern gezeigt. b. Dem Paul, dem hat Irene den Stern gezeigt. c. Den Stern, den hat Irene ihm gezeigt. d. Heute morgen, da hat Irene ihm den Stern gezeigt. 3) Linksversetzung und Rechtsversetzung von NP Kongruenz zw. extraponierter Konstituente (NP) und Pro-Form (41) a. Der Schüler, der hat den Lehrer nie gefragt. b. Der Schüler, er hat den Lehrer nie gefragt. c. Er / Der hat den Lehrer nie gefragt, der Schüler. (42) a. Den Lehrer, den hat Hans nie gefragt. b. Den Lehrer, Hans hat ihn nie gefragt. c. Den hat Hans nie gefragt, den Lehrer. (43) a. Dem Lehrer, dem hat Hans das Bild gezeigt. b. Dem Lehrer, Hans hat ihm das Bild gezeigt. c. Dem hat Hans das Bild gezeigt, dem Lehrer. Extraposition ohne Kongruenz (NP im Nominativ) (44) a. Der Lehrer, dem hat Hans das Bild gezeigt. b. Der Lehrer, Hans hat ihm das Bild gezeigt. 5
2.3 Schlussfolgerungen: Satzstruktur und Wortstellung im Rahmen der deskriptiven Grammatiken relativ freie Wortstellung (syntaktische und morphologische Regeln semantische und kommunikativ-pragmatische Faktoren) 2.3.1 Syntaktische Regeln a) Satztypen: V2-, V1- und V-letzt- Strukturen (Position des finiten Verbs) b) Verbaler Rahmen Satzklammer (Position der finiten und infiniten Verbform) c) Topologische Felder: Vorfeld Mittelfeld Nachfeld 2.3.2 Kommunikativ-pragmatische Faktoren a) Informationsstruktur: Thema Rhema (Fokus) b) Unterscheidung in neutrale Basisstruktur und markierte Struktur c) Kommunikative Funktion wird mittels syntaktischer Mechanismen (Voranstellung, Nachstellung), semantischer Faktoren (Hervorhebung / emphatische Betonung), Prosodie (Intonation) realisiert. 2.3.3 Relation zw. Satzstruktur und Informationsstruktur a) Basisstruktur / neutrale Wortstellung (Anwendung von grammatischen Regeln): S-V-O oder Adv-V-S-O b) Thematisierung / Topikalisierung (Thema im Vorfeld) c) Fokussierung (Endposition, durch Voranstellung ins Vorfeld oder durch Prosodie in situ) d) Extraposition / Extraponierung (Rechtsversetzung: Nachstellung ins Nachfeld= Nachtrag oder Linksversetzung: Voranstellung ins Vor-Vorfeld=Topikalisierung) Kritik: 1) lineare Darstellung der Satzstruktur (Beziehungen zw. den Elementen?) 2) verbaler Rahmen und topologische Felder (?) 3) Basisstruktur (?) nach welchen Faktoren? Fragestellung: a) Struktur des Satzes und syntaktische Positionen b) Basisstruktur und Bestimmungskriterien c) Erklärung der Wortstellungsvariationen d) Relation zw. syntaktischer Struktur und Informationsstruktur 6