VERANTWORTUNG FÜR MEIN LEBEN

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340 12 VERANTWORTUNG FÜR MEIN LEBEN Mein Name ist Monika, ich bin Alkoholikerin. Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf. Mein Vater war Alkoholiker, unberechenbar, gewalttätig und aggressiv. Die Mutter war naiv, sie verharmloste und vertuschte alles, was bei uns vorging. Missbrauch und Misshandlungen waren an der Tagesordnung, ich kannte es nicht anders. Ich schämte mich für unser Zuhause und wurde ein sehr zurückgezogenes Kind. Vereinsamt, gehemmt, unglücklich. Mit ca. 14 Jahren entdeckte ich den Alkohol als Mittel, mich kurzfristig besser, selbstsicherer zu fühlen, Hemmungen abzubauen, die häuslichen Probleme zu vergessen. Ich zog mich in eine Scheinwelt zurück und betäubte mich. Meistens heimlich. Wenn ich in der Öffentlichkeit trank, verlor ich oft die Kontrolle, und keiner konnte verstehen, was mit mir los war. Mit 15 lernte ich meinen späteren Mann kennen, und wurde mit 16 schwanger. Wir heirateten viel zu früh, und ich brachte meinen Sohn zur Welt. Ich musste ganztags in einer Fabrik arbeiten und war im Grunde mit der ganzen Situation total überfordert. Den Alkohol benutzte ich, um zu funktionieren, das Elend zu vergessen, die Vergangenheit zu verdrängen. Zu der Zeit waren die Mengen noch nicht so groß, doch ich trank schon damals oft harte Sachen, später wechselte ich hauptsächlich zu Wein und machte mir dadurch vor, es sei nicht so schlimm.

VERANTWORTUNG FÜR MEIN LEBEN Nach zwei Jahren verunglückte mein Mann tödlich mit dem Auto. Aus Angst vor dem Alleinsein und vor einem selbstverantwortlichen Leben, dem ich mich damals nicht gewachsen fühlte, ging ich eine Beziehung mit einem Mann ein, die fünf Jahre dauerte. Wir lebten zusammen und tranken zusammen, und mir war damals nicht klar, dass wir beide Alkoholiker waren. Ich hatte auch große Schwierigkeiten mit der Erziehung meines Sohnes, da ich selbst innerlich nicht richtig erwachsen war. Was ich konnte, war, eine gewisse Fassade aufrechtzuerhalten (das hatte ich ja zu Hause gelernt), die der Wirklichkeit in keiner Weise entsprach. Aus Verzweiflung über mein Leben, in dem ich mich wie eine Marionette und unglaublich schlecht fühlte, trank ich immer mehr. Dass ich damals bereits Alkoholikerin war, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass mir ein Vorrat an Alkohol eine gewisse Sicherheit gab und dass ich ihn als Mittel zum Vergessen einsetzte, nicht etwa aus Genuss trank, wie andere Menschen. Im Laufe dieser Beziehung wurde ich immer verzweifelter und unglücklicher, und schließlich erkannte ich, dass ich diesen Mann im Grunde überhaupt nicht liebte, und trennte mich von ihm. In kurzer Zeit fand ich eine schöne Wohnung für mich und meinen Sohn, zog aus und wollte ein neues Leben beginnen. Doch das neue Leben stellte sich als genauso schwierig heraus wie das alte, wenn auch in anderer Form. Nach einem halben Jahr bat ich das Jugendamt um Hilfe, weil ich mit meinem Sohn überhaupt nicht mehr klarkam. Er war aggressiv und schwierig und kam dann in ein Heim. Es war ein gutes Heim, er nahm aber die Hilfe, die ihm dort geboten wurde, nicht an. Ich machte eine stationäre Therapie. Die Psychologen wollten mich sofort in eine Suchtgruppe stecken, doch dagegen 341

342 ANONYME ALKOHOLIKER wehrte ich mich, weil ich meine Sucht zum damaligen Zeitpunkt nicht zugeben konnte. So lernte ich aus den Gesprächen zwar einiges über mich und meine Vergangenheit, konnte auch ein wenig aufarbeiten, aber vor dem Alkohol konnte ich nicht kapitulieren. Ich brauchte ihn als Hintertür. Am Wochenende trank ich heimlich und unter der Woche nahm ich Tabletten. Später fing ich wieder an zu arbeiten, funktionierte einigermaßen und täuschte mich und mein Umfeld. Ich trank kaum in der Öffentlichkeit, sondern abends und auch öfter tagsüber in meiner Wohnung, die ich nun alleine bewohnte, und fiel auf diese Weise nach außen nicht besonders auf. Schließlich hielt ich es in der alten Umgebung nicht mehr aus und zog in die nächstgrößere Stadt. Meine Probleme nahm ich mit und den Alkoholismus natürlich auch. Dort arbeitete ich, hatte wenig Bekannte, ging aber weiterhin zu einem Therapeuten und später zu einer Therapeutin, die mir auch in vielerlei Hinsicht helfen konnte. Doch den Alkohol verschwieg und verharmloste ich. So vergingen ein paar Jahre. Am Wochenende hatte ich meistens meinen Sohn bei mir, aber unser Verhältnis wurde immer schlechter. Er war jetzt in der Pubertät und es fiel mir furchtbar schwer, mit ihm zurechtzukommen, weil ich ja selbst innerlich total zerrissen war. Ich gab mir trotzdem die größte Mühe, aber sie reichte nicht aus, um das Verhältnis wieder in Ordnung zu bringen. Nacheinander kapitulierten auch die Sozialarbeiter vor ihm, bei denen ich Hilfe suchte. Heute habe ich keinen Kontakt mehr zu ihm, er ist jetzt 23 Jahre alt. Wie in diesem Punkt die Zukunft aussehen wird, weiß ich nicht. Das macht mich manchmal sehr traurig. Aufgrund meiner Minderwertigkeitskomplexe, die ich damals sehr stark hatte, beschloss ich, mit 33 Jah-

VERANTWORTUNG FÜR MEIN LEBEN ren den Realschulabschluss nachzuholen. Ich ging zwei Jahre zur Abendschule und schloss sehr gut ab. Während dieser Zeit trank ich tagsüber nicht viel. Morgens ging ich zur Arbeit in einer Gärtnerei, abends zur Schule. Nach der Schule, wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen, nach Hause zu meinen Flaschen. Ich wusste ungefähr, wie viel ich trinken konnte und wie lang ich dann schlafen musste, um am anderen Tag wieder einigermaßen nüchtern zu sein. Da ich diese Dinge nach außen hin bewältigen konnte, redete ich mir ein, ich könne keine Alkoholikerin sein, denn meiner Meinung nach waren Alkoholiker ständig betrunken und konnten auf keinen Fall arbeiten, geschweige denn lernen. Tief innen wusste ich es aber längst und wagte nicht, ernsthaft darüber nachzudenken. Es machte mir Angst. Als die Schule abgeschlossen war, hatte ich ein halbes Jahr keine Arbeit und fiel in ein tiefes Loch, wahrscheinlich, weil die Struktur, die mich einigermaßen aufrecht gehalten hatte, wegfiel. Ich begann morgens zu trinken, was ich vorher noch geschafft hatte, zu vermeiden. In kurzer Zeit rutschte ich jetzt ab und war kaum noch fähig, meinen Alltag zu bewältigen. Langsam bekam ich es immer mehr mit der Angst zu tun, ich hatte das Gefühl, ich würde, wenn es so weiterginge, ins Bodenlose stürzen. Niemand würde mich auffangen, da ich alleine war. Einen Partner hatte ich nicht, und meine wenigen Bekannten konnten mir auch nicht helfen. Mir wurde klar, dass ich etwas tun musste. So kam ich vor sechs Jahren zu AA. Ich ging aus purer Angst dahin, weil ich nicht wusste, wie ich dauerhaft mit dem Saufen aufhören sollte. Aufgehört hatte ich oft, aber spätestens nach zwei Tagen hatte ich immer wieder angefangen. Länger hielt ich es alleine nicht durch. Außerdem sah ich plötzlich die Gefahr, weiter 343

344 ANONYME ALKOHOLIKER abzustürzen, wenn ich weitermachte, was mir vorher nicht bewusst gewesen war. Der Ernst der Lage wurde mit jetzt (Gott sei Dank) langsam klar. Die Schuldfrage war müßig. Aufhören musste ich selber, es gab keinen anderen Weg. Am Anfang erzählte ich bei AA nur von meinen Problemen. In meiner beschränkten Welt gab es nichts anderes. Es ging mir noch lange nicht gut, aber wie durch ein Wunder musste ich bis heute keinen Tropfen Alkohol mehr trinken. Langsam konnte ich AA auf mich einwirken lassen und auch wieder an Gott glauben. Das geschah in kleinen Schritten, ich begann die AA-Literatur zu lesen und vor allem den Frauen in den Meetings aufmerksam zuzuhören. Sie waren in dieser Zeit eine Orientierung für mich. Ich wollte hören, wie andere Frauen, die oft eine ähnliche Vergangenheit hatten wie ich, im trockenen Zustand ihr Leben gestalteten. Von ihnen lerne ich viel. Sie konnten lachen, trotz der Probleme, und heute kann ich es auch. Niemals hätte ich geglaubt, dass ich einmal so weit kommen würde. Langsam verbesserte sich meine Situation. Ich lernte, mich von meiner Familie abzugrenzen und auf mein eigenes Gefühl zu vertrauen. Heute arbeite ich in Teilzeit im Büro einer Buchhandlung und lebe mit meinem Partner, den ich vor 4 ½ Jahren bei AA kennengelernt habe, in einer schönen Wohnung. Unter dem Dach habe ich sogar ein kleines Atelier, in dem ich malen kann, was ich als Kind schon gerne getan habe, was jedoch mit der Zeit total verschüttet wurde und in Vergessenheit geriet. Bei der Volkshochschule mache ich jedes Semester Kurse und habe in meiner Trockenheit auch verschiedene andere Interessen entwickelt, sodass das Leben ohne Alkohol keineswegs langweilig oder farblos ist, so wie ich es mir am Anfang vorgestellt hatte.

VERANTWORTUNG FÜR MEIN LEBEN Als ich mich entschied, eine furchtlose Inventur zu machen, war ich schon fünf Jahre trocken. Ich muss dazu sagen, dass ich einmal in der Woche ein Blaues- Buch-Meeting besuche, wo wir uns ernsthaft mit den Schritten der AA auseinandersetzen. Ich machte eine Inventurliste, wie es das Blaue Buch vorschlägt, überlegte lange, wem ich Schaden zugefügt hatte, und stellte fest, dass es immer die gleichen Personen waren, die mir einfielen, und diese Dinge viele Jahre zurückliegen. Viele Fehler hatte ich gemacht, ohne es zu bemerken, also nicht in böswilliger Absicht. Seit ich trocken bin, versuche ich, mein Leben bewusst zu führen, also die Verantwortung für mein Leben selbst zu übernehmen. Aber nur für mein Leben und nicht für das anderer Menschen. Ich habe auch die Überzeugung gewonnen, dass ich in vielen Dingen machtlos bin und das Verhalten anderer nicht steuern oder kontrollieren kann. Dass ich einzig und allein mich selbst ändern kann und dies eine viel größere Aufgabe ist, als ich mir vorgestellt habe. Die alten Verhaltensmuster sind beängstigend schnell wieder da, wenn ich nicht ständig am Ball bleibe. Das gilt auch für die Bereiche Essen und Rauchen, wo ich wegen meiner Suchtstruktur auch öfters dazu neige, zu kompensieren. Es hält sich aber, wenn ich trocken bleibe, in akzeptablen Grenzen. Würde ich aber wieder trinken, hätte ich mit Sicherheit wieder das gleiche unerträgliche, innere Chaos wie früher in meiner nassen Zeit, und auf das innere Chaos folgt dann bald das äußere. Je länger ich trocken bin, desto mehr weiß ich, dass ich das auf keinen Fall mehr will. Meine Lebensqualität damals war ja gleich null. Vor allem bin ich dankbar, dass ich ziemlich schnell kapitulieren konnte, als ich zu AA kam und bis jetzt keinen Rückfall hatte. Mit der Zeit 345

ANONYME ALKOHOLIKER konnte ich auch langsam wieder Gefühle spüren, gute und schlechte. Sie waren vorher wie eingefroren, und das Einzige, was mich ständig begleitet hatte, war Angst und Verzweiflung gewesen. Übrigens hat sich durch die Trockenheit meine Wesensart nicht so komplett geändert, wie ich das zu Anfang erwartet hatte. Ich bin weiterhin ein eher ruhiger Mensch und nicht sehr extrovertiert. Das kann ich aber heute akzeptieren und will aus mir nicht mehr etwas machen, das ich nicht bin und in Wirklichkeit auch nie war. AA hat mir also ermöglicht, mich besser kennenzulernen. Das ist die Voraussetzung, um das Leben selbstständig gestalten zu können, und ich möchte vor allem jungen Frauen, die in den Alkoholismus abgerutscht sind, Mut machen, zu AA zu kommen und es damit zu versuchen. 346