2.3 Dissoziative Störungen 105 2.3 Dissoziative Störungen Was ist Dissoziation eigentlich? Dissoziation ist gewissermaßen die krankhafte Variante des Tagträumens. Im Klassenraum haben wir alle als Kinder schon einmal geträumt und aus dem Fenster geschaut, bis uns die Lehrerin empört in die raue Wirklichkeit zurückholte. Bei Traumapatienten ist dies jedoch viel ausgeprägter: Sie verträumen mitunter einen Großteil des Tages, sind in sich versunken, bekommen nicht mehr mit, was um sie herum vor sich geht, schalten ihr Erleben in wesentlichen Teilen ab. Dissoziative Symptome kommen bei Traumapatienten sehr häufig vor und sind ein komplizierender Faktor in der Behandlung, denn wenn wir etwas in der Therapiestunde vereinbart haben, kann es sein, dass der Patient sich später an nichts erinnert, weil er die ganze Stunde»verträumt«hat. Auch werden viele dissoziative Symptome vom Patienten gar nicht berichtet, sodass wir sie erst aktiv erfragen müssen. Der Begrif f der»dissoziation«geht auf den französischen Psychiater Pierre Janet zurück (1894). Eine einheitliche Einteilung gibt es nicht. Es geht um zum Teil normale Vorgänge (wie etwa das Tagträumen), die beim Traumatisierten in erheblich stärkerer Ausprägung vorhanden sind. Allerdings gibt es auch hier durchaus Unklarheit, ob dies wirklich nur ein bezüglich der Quantität unterschiedlicher Zustand ist. Auch kann die Dissoziation bei vielen anderen psychiatrischen Erkrankungen vorkommen, ist letztlich nicht allein für das Trauma typisch. Insbesondere gibt es bei der PTBS wohl einen dissoziativen Verlaufstyp (Lanius et al. 2012), betrof fen sind ca. 30 % der Frauen und 15 % der Männer mit PTBS, die dann besonders ausgeprägte dissoziative Symptomatik zeigen (Wolf et al. 2012). Zur individuellen Neigung zur Dissoziation trägt auch die Genetik bei (Pieper et al. 2011). Dissoziative Symptome treten auch verstärkt bei schlechtem körperlichen Allgemeinzustand auf oder bei zu geringer Trinkmenge (Hoeschel et al. 2008, van der Kloet et al. 2012). Ein hohes af fektives
106 2 Spezielle Störungsbilder Erregungsniveau fördert ebenfalls Dissoziation (Stiglmayr et al. 2008). Neurobiologisch zeigt sich bei der Dissoziation eine Überaktivierung des anterioren Cingulums, während die Amygdala herunterreguliert ist (Krause-Utz et al. 2012). Dissoziation während der Therapiesitzung ist fatal, insofern Lernvorgänge behindert werden (Kleindienst et al. 2016, Ebner-Priemer et al. 2009), sodass alles unternommen werden muss, um Dissoziation während der Therapie zu begrenzen. Es geht bei der Dissoziation um eine Art der Ich-Fragmentierung, d. h. eine Unterbrechung der normalen Integration psychischer Fähigkeiten, auch bezüglich des Selbstgefühls (APA 2000). Dies kann begleitet sein von Distanzierungsgefühlen gegenüber dem eigenen Erleben. Neben der Dissoziation als Vorgang an sich kommt noch das Phänomen der Multiplizität vor: Man hat den Eindruck, es existierten verschiedene Selbst in einer Person, was auch als»compartmentalization«bezeichnet wird, hierbei geht teilweise auch die willkürliche Kontrolle verloren (Mattheß und Schüepp 2013). Eine Patientin, die als Kind missbraucht worden war, saß plötzlich mit einem scharfen Gegenstand in der Hand zitternd im Zimmer und wirkte völlig abwesend. Irrtümlich wurde dieses Verhalten von Teilen des Personals mangels Kenntnis als»psychotischer Anfall«verkannt, also wurde der Patientin ein Antipsychotikum verabreicht. Dies ist aber in diesem Fall gänzlich überflüssig. Ein einfaches reorientierendes Gespräch mit Versicherungen wie»sie sind hier sicher, es kann Ihnen nichts passieren«und beruhigendem Zusprechen hätte ausgereicht. Dies kostet allerdings Zeit, man muss sich oft länger zum Patienten setzen. Nicht selten glauben Psychiater jedoch, sich diese Zeit im hektischen Klinikalltag nicht nehmen zu können. Einteilung Die dissoziativen Störungen kann man grundsätzlich in 2 verschiedene Gruppen einteilen, nämlich einerseits dissoziative Bewusstseinsstörungen, also Dissoziation auf psychischer Ebene (Eckhardt-
2.3 Dissoziative Störungen 107 Henn und Hof fmann 2004), andererseits Konversionsstörungen, hierbei erfolgt die Dissoziation auch auf der Körperebene (Kössler und Scheidt 1997, Spitzer und Freyberger 2011). Allerdings findet man hier oft Mischzustände. Dissoziative Bewusstseinsstörungen Dissoziative Bewusstseinsstörungen kann man unterscheiden in Amnesie, Fugue, Depersonalisationsstörung, Stupor, Trance- und Besessenheitszustände, Ganser-Syndrom, nicht näher bezeichnete dissoziative Störungen und die Multiple Persönlichkeitsstörung, heute meist als Dissoziative Identitätsstörung bezeichnet (Spitzer und Freyberger 2011). Bei der dissoziativen Amnesie werden Einzelereignisse oder ganze Zeiträume, meist aus dem Zeitraum, in dem das Trauma geschah, scheinbar vergessen. Eine Patientin wurde vom 4. bis 7. Lebensjahr vom Vater missbraucht. Sie kann sich an diese Zeit, etwa an den Tag der Einschulung, in keiner Weise erinnern. Dies ist zunächst einmal als sinnvolle Abwehr zu verstehen und sollte nicht gewaltsam durchbrochen werden. Im Zuge der Therapie, vor allem durch ein gewachsenes Vertrauensverhältnis zum Therapeuten und durch das Gefühl, bei diesem sicher aufgehoben zu sein, lassen die Patienten dann später oft zu, dass Ihnen einige Details wieder einfallen. Bei der dissoziativen Fugue hingegen kommt es zu einem zielgerichteten Ortswechsel. Eine Frau, die früher über längere Zeiträume missbraucht wurde, steigt nach einem Streit mit dem Partner in einen Zug in München ein. In Holzkirchen steigt sie wieder aus und kann sich nicht daran erinnern, wie sie dorthin gelangt ist. Dies ist ein typisches dissoziatives Symptom. Die Patienten haben oft in der Kindheit durch schwere Traumatisierung die Dis-
108 2 Spezielle Störungsbilder soziation als Abwehrmechanismus erlernt. Bei akutem Stress greifen sie dann auf diese Weise wieder auf das alte Verhalten zurück. Die Dissoziationsneigung bleibt oft selbst unter Therapie noch jahrelang bestehen. Eine Faustregel lautet: so lange wie die Traumatisierung andauert, dauert auch mindestens die Therapie. Bei der Depersonalisationsstörung fühlt sich der Betrof fene nicht mehr im Kontakt zu sich selbst, hat beispielsweise das Gefühl, wie neben sich zu stehen oder sich gar von außen zu betrachten. Das eigene Selbst wird als seltsam verändert und unwirklich wahrgenommen. Auch Gedanken, Gefühle und Aktionen scheinen nicht mehr zu einem selbst zu gehören. Körperteile können sich verändert, größer oder kleiner anfühlen. Auch Borderline-Patienten können solche Symptome aufweisen, die sie dann durch Selbstverletzung zu durchbrechen versuchen. Das Symptom, dass Körperteile sich anders anfühlen, kann zu Verwechslungen mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Spektrum Anlass geben (Verwechslung mit Coenaesthesien). Beim dissoziativen Stupor werden Bewegungen reduziert oder völlig eingefroren, auch die Sprache kann reduziert werden. Dennoch gibt es keine neurologischen Auf fälligkeiten, der Muskeltonus ist normal (Spitzer und Freyberger 2011). Auch hier kann es Verwechslungen mit Schizophrenien geben. Dissoziative Trance- und Besessenheitszustände kommen vor allem in fremden Ländern vor, so etwa die Überzeugung, man sei von einem Geist oder einer besonderen Kraft beherrscht. Auch hier ist die Unterscheidung zur Schizophrenie mitunter schwierig. Beim Ganser-Syndrom kommt es zum knappen Vorbeiantworten an gestellten Fragen. Wird zum Beispiel die Frage»Wie viel ist 2 plus 2?«gestellt, wird mit»5«geantwortet (Spitzer und Freyberger 2011). Ich selbst habe in ca. 16 Jahren psychiatrischer Erfahrung noch nie einen solchen Fall erlebt.
2.3 Dissoziative Störungen 109 Bei nicht näher bezeichneten dissoziativen Störungen zeigt sich ein dissoziatives Symptom, das jedoch nicht die Kriterien für eine der bisher besprochenen Störungen erfüllt. Bei der Multiplen Persönlichkeitsstörung kann man 2 oder mehrere verschiedene Persönlichkeitsanteile identifizieren, es tritt aber jeweils nur einer hervor und übernimmt gewissermaßen das Kommando. Meist hat die jeweils aktive Persönlichkeit keinen Zugang zu der Erlebniswelt der anderen Anteile. Der Begrif f»dissoziative Identitätsstörung«ist deshalb weniger irreführend. Es handelt sich hier nur um»states«, d. h. verschiedene aktiv gewordene Aktionssysteme der Person, also durchaus normale Anteile der Person, nur sind sie eben strikt voneinander getrennt und mitunter aus verschiedenen Lebensepochen stammend. Es handelt sich sozusagen um»dissoziative Barrieren«, die zwischen den einzelnen Anteilen bestehen, sodass die traumatischen Erinnerungen gerade eben noch unter Kontrolle und abgespalten bleiben. Durch Triggerung kann ein State in einen anderen kippen. Manchmal geben die Patienten den einzelnen States Namen, als wären es andere Personen. Die folgende Grafik zeigt ein Beispiel einer Dissoziativen Identitätsstörung ( Abb. 2-4). Eine erwachsene Frau, die früher traumatisiert wurde, arbeitet stabil in ihrem Beruf. Dann kommt plötzlich ein Kunde herein, welcher sie an den Vater erinnert, der sie als Kind missbrauchte. Daraufhin kommt es zu einem»switch«in einen kindlichen State, beispielsweise den eines 4-jährigen Mädchens. Auf einmal verhält sich die erwachsene Frau hilflos wie ein Kind, spricht wie ein kleines Mädchen, kann eine Dose nicht mehr öffnen, krakelt mit Kinderschrift usw. Hierbei handelt es sich um normale Aktionssysteme, die aber scharf dissoziativ voneinander getrennt sind und nach Triggerung jeweils zu abrupten Wechseln in andere Handlungsstränge Anlass geben. Im Rahmen der Therapie muss dann das Ziel sein, die verschiedenen Aktionssysteme vorsichtig wieder miteinander in Kontakt zu bringen und damit ein Stück weit wieder reintegrierbar zu machen.
110 2 Spezielle Störungsbilder 2-jähriges glückliches Kind 28 Jahre Getrennt vom neuen Partner; wurde kürzlich vergewaltigt 4-jähriges Mädchen, vom Stiefvater missbraucht Patientin Anne 30 Jahre 24 Jahre Verheiratet, erwartet erstes Kind 8-jähriges Kind, Suizidgedanken, traumatisches Spiel (spielt Trauma nach) 16-jähriges Mädchen Probleme mit Freund Beinaheübergriffe Abb. 2-4 Dissoziative Identitätsstörung Auch bei der Multiplen Persönlichkeitsstörung ist es mitunter extrem schwierig, diese von schizophrenen Erkrankungen abzugrenzen. Die Multiple Persönlichkeitsstörung war seit jeher umstritten bezüglich ihrer diagnostischen Wertigkeit, und dies wird sich wohl auf absehbare Zeit kaum ändern. Für mich handelt es sich um eine eigenständige Erkrankung, verursacht durch schwerste Traumata im engeren Familienkreis, die langwieriger Behandlung bedarf.