Kinderschutz-Zentrum Berlin e.v. Jahresbericht 2013 / 14



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Transkript:

Kinderschutz-Zentrum Berlin e.v. Jahresbericht 2013 / 14

Liebe Freunde und Förderer, wir freuen uns, Ihnen den Jahresbericht 2013/2014 präsentieren zu können, der Ihnen Einblicke in die Arbeitsfelder des Kinderschutz- Zentrums geben soll. Im Mittelpunkt beider Jahre standen Prävention, Hilfe und Schutz bei Kindeswohlgefährdung und die Unterstützung von Fachkräften unterschiedlicher Bereiche. Kinder, Jugendliche, Eltern und nahe Bezugspersonen von Kindern benötigen in gewaltsam ausgetragenen Konfliktsituationen sofortige, niedrigschwellige Hilfen in Form von Beratung und Therapie. Die MitarbeiterInnen beider Beratungsstellen und der Kinderwohngruppe verwirklichen diesen hohen fachlichen Anspruch mit besonderem Engagement. Die Problematiken, mit denen die Familien zu uns kommen, haben sich kaum verändert. Nach wie vor sind eskalierte Familienkonflikte Hauptanlass für Eltern, sich in den Beratungsstellen zu melden. Wenn Eltern wegen Kindeswohlgefährdung Rat und Hilfe suchen, ist dies meist wegen der vermuteten sexuellen Misshandlung eine Kindes. Durch Beteiligung des Kinderschutz-Zentrums an der Landeskoordinierungs- und Servicestelle Netzwerke Frühe Hilfen im Rahmen der Umsetzung der Bundesinitiative Netzwerke frühe Hilfen und Familienhebammen 2012-2015 konnten wir Impulse für die Weiterentwicklung der bezirklichen Netzwerke und von Angeboten der Frühen Hilfen geben. Der im Bundeskinderschutzgesetz festgelegte Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft bei Anzeichen von Kindeswohlgefährdung auch für Berufsgruppen wie ÄrztInnen, andere Gesundheitsberufe und LehrerInnen hat dazu geführt, dass sich die Arbeitsfelder des Kinderschutz-Zentrums 2014 in Richtung Fachberatung und Fortbildung von Fachkräften der Jugendhilfe, des Gesundheitswesens und der Schulen erweitert haben. Im Herbst 2015 feiert das Kinderschutz-Zentrum sein 40-jähriges Bestehen. Dazu laden wir Sie an dieser Stelle herzlich ein. Ihnen allen ganz herzlichen Dank für Ihre motivierende Unterstützung! Im Namen des Vorstandes Elisabeth-Charlotte Knoller und Dr. Elke Nowotny Jahresbericht 2013/14 1

2 Kinderschutz-Zentrum Berlin

Inhalt Aufgaben und Angebote 4 Hilfen für Kinder, Jugendliche und Eltern 6 ` Beratung per Telefon und E-Mail, Krisenintervention ` Problemlagen von Familien 2014 ` ` Unsere Angebote Früher Hilfen Schutz für Kinder und Entwicklung von Perspektiven: Die Kinderwohngruppe Wo kann ich bleiben? Jessicas langer Weg durch 12 die Jugendhilfe Beratung und Fortbildung von Fachkräften 16 Gefahren für Kinder Risiken für Fachkräfte 18 Auswertung eines schwierigen Fallverlaufs mit Todesfolge Landeskoordinierungs- und Servicestelle Netzwerke 26 Frühen Hilfen Netzwerkeln im Sozialraum am Beispiel einer Familie 28 Partizipation von Kindern und Eltern an Hilfeprozessen 32 Die Beteiligung von Pratikantinnen und Pratikanten 35 Kunstauktionen 36 Weihnachtliche Spende der Späth schen Baumschulen 38 Nachruf Dr. med. Christiane Witzgall 40 Chronologie 42 Dank 48 Der Verein stellt sich vor 50 Wenn Sie uns unterstützen möchten... 50 Kinderschutz-Zentrum Berlin e.v., Berlin 2015 Jahresbericht 2013/14 3

Aufgaben und Angebote Das Kinderschutz-Zentrum ist eine spezialisierte Einrichtung, die sich an Kinder, Jugendliche, deren Eltern und Bezugspersonen sowie an die Fachöffentlichkeit wendet. Alle Formen von Gewalt gegen Kinder sind Gegenstand der Arbeit des Kinderschutz-Zentrums. Aufgabe des Kinderschutz-Zentrums ist es, physische, psychische und sexuelle Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zu vermindern und deren Folgen zu lindern. Dies geschieht durch konsequente Entwicklung, Anwendung und Weitervermittlung von spezifischen, an den Ursachen von Gewalt ansetzenden Hilfen. Unsere Einrichtung bietet konkrete Hilfe im Einzelfall und wirkt im gesamtgesellschaftlichen Kontext auf sozialpolitische Verbesserungen für Kinder und Eltern hin. Bei Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern ist ein niedrigschwelliges Angebot notwendig. Familien brauchen in Krisen fachlich gute Unterstützung außerhalb üblicher Öffnungszeiten von Beratungsstellen und Behörden. Mobile Einsätze unseres Krisendienstes, um Familien in Krisen zu Hause aufzusuchen oder Kinder und Jugendliche dort zu treffen, wo sie gerade sind, sichern die schnelle Erreichbarkeit unserer Hilfen und verhindern, dass Kinder noch mehr verletzt oder geschädigt werden. In den beiden Beratungsstellen des Kinderschutz-Zentrums in Hohenschönhausen und Neukölln können Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Bezugspersonen von Kindern über ein erstes Krisengespräch hinaus auch eine längerfristige Beratung in Anspruch nehmen. Ein Angebot, das längere Beratungsprozesse und mehrere Termine sehr kurzfristig zulässt, ist bei schwierigen Konflikten in Familien, die mit Misshandlung von Kindern einhergehen, unerlässlich. Die meisten Eltern und Kinder bzw. Jugendliche suchen uns auf, wenn es bereits zu Misshandlungen kam. Existentielle Ängste vor Bestrafung und Trennung der Familie sowie Verstrickungen in Schuld, Scham und Wut werden im ersten Kontakt mit den Eltern deutlich. Sie gehen den Weg ins Kinderschutz-Zentrum gegen viele innere Widerstände und haben ihn geradeso geschafft. Unsere sofortigen und unbürokratischen Angebote stärken ihr Vertrauen in umgehende Hilfe und in Fachkräfte. Wenn die Konflikte in Familien so eskaliert sind, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr selbst schützen können, steht mit der Kinderwohngruppe in Steglitz eine Einrichtung zur vorübergehenden Unterbringung von Kindern zur Verfügung. Während der Zeit der Unterbringung wird mit Eltern und Kindern intensiv an der Entwicklung einer Perspektive für die gesamte Familie gearbeitet. 4 Kinderschutz-Zentrum Berlin

Intervention im Kinderschutz und Prävention gehören zusammen. Insbesondere Frühe Hilfen, die biographisch belastete Eltern von Anfang an unterstützen, sind wichtige und gut nachgefragte Angebote. Krisenintervention, Familienberatung, Kinder- und Jugendlichentherapie, die Möglichkeit des vorübergehenden stationären Aufenthalts von Kindern in der Kinderwohngruppe sowie präventive Angebote wirken als ein Verbund von Hilfen bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Mit diesem Hilfeverbund unterscheidet sich das Kinderschutz-Zentrum von anderen Hilfeeinrichtungen in der Stadt. Aufgaben und Angebote des Kinderschutz-Zentrums ` Beratung und Therapie für Familien, Elternpaare, Alleinerziehende, Einzelklienten ` Kinder- und Jugendlichentherapie ` Therapie mit misshandelnden Erwachsenen ` Pädagogisch-therapeutische Arbeit mit Kindern in der Kinderwohngruppe und Klärung der Perspektive der Kinder in Zusammenarbeit mit den Eltern ` Krisenintervention und Krisengespräche vor Ort ` Telefonberatung ` Beratung und Supervision von Fachkräften ` Ausbildung ehrenamtlicher Mitarbeiter für die Krisenhilfe am Telefon ` Präventiver Kinderschutz: Projekte Traumkind, Von Anfang an und Von Eins bis Drei ` Präventive Angebote für Lehrer, Erzieher und Eltern ` Präventive Arbeit mit Schulklassen ` Aufklärung der Öffentlichkeit durch Informationsveranstaltungen mit Eltern, Lehrern, Schülern, Erziehern, Sozialarbeitern, Ärzten, Studenten, Auszubildenden ` Publikationen ` Zusammenarbeit mit Medien Jahresbericht 2013/14 5

Hilfen für Kinder, Jugendliche und Eltern Beratung per Telefon und E-Mail, Krisenintervention Die telefonische Beratung ist für Eltern, Kinder, Jugendliche und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen trotz Internet noch immer die am meisten in Anspruch genommene Möglichkeit, Kontakt zu uns aufzunehmen. Hier können sie sich über unsere Angebote informieren und die erste Erfahrung machen, dass jemand sich für ihr Anliegen Zeit nimmt. Das Sortieren der Befürchtungen oder realen Ereignisse ist für etliche Anrufer schon eine Beruhigung. Kinder und Jugendliche nutzen die telefonische Beratung manchmal auch, um zu testen, wie ernst fremde Personen ihre (erfundenen) Geschichten nehmen. 13 (2013: 22) Kindern und Jugendlichen, die am Telefon über physische oder psychische Gewalterfahrungen innerhalb oder außerhalb der Familie berichteten, wurde ein persönliches Gespräch angeboten, das in der Schule, in einer Freizeiteinrichtung oder in einer der Beratungsstellen stattfand. Diese Kinder waren teilweise Opfer von Mobbing in der Schule bzw. von Handy-Terror geworden. 51 (60) Jugendliche nahmen Kontakt zum Kinderschutz-Zentrum per E-Mail auf. Ein für Internet-Beratung besonders geschulter Kollege beantwortete die Mails. Die Beratung per Mail erfordert Fingerspitzengefühl. Anders als bei der telefonischen Beratung lässt sich bei diesem Medium nur schwer prüfen, ob die geschilderten Probleme selbst erlebt sind. Darüber hinaus melden sich die Jugendlichen häufig unter Pseudonymen aus verschiedenen Städten in Deutschland. Das erschwert es, den Jugendlichen ein über die Antwort per Mail hinausgehendes Angebot zu machen. 374 (362) Eltern(teile) suchten unseren Rat bei akuten Familienkonflikten, die zu eskalieren drohten. Mit konkreten Fragen und praktischen Anweisungen versuchten wir die Situation zu beruhigen. Oft hilft den anrufenden Eltern, wenn sie ihre Wut und Hilflosigkeit gegenüber den Kindern in Worte fassen können. Durch gezielte Fragen werden die AnruferInnen ermuntert, ihren Konflikt aus einer anderen Perspektive zu sehen. Dies bewirkt häufig, dass die Eltern selbst auf neue Ideen zur Lösung der Konflikte kommen. Vor allem bei Berichten über häusliche Gewalt war es wichtig zu klären, ob die Wohnung für Mutter und Kinder noch ein sicherer Ort war. Die am häufigsten genannten Problemlagen der anrufenden Elternteile waren in 98 (87) Fällen physische, psychische oder sexuelle Misshandlung und in 87 (101) Konflikte nach Trennung und Scheidung. 6 Kinderschutz-Zentrum Berlin

140 (141) Bezugspersonen aus dem nahen Umfeld der Familie (Nachbarn, Bekannte, Verwandte) wandten sich mit Beobachtungen und Befürchtungen an unsere Beratungsstelle. Mit ihnen wurde das Gefährdungsrisiko abgeschätzt und überlegt, wie sie der Familie eine Brücke zu uns bauen können. Die Beratung in Krisensituationen nahmen vor allem Familien in Anspruch, in denen das Wohl der Kinder bzw. Jugendlichen akut oder latent gefährdet war. Die Beratung wurde von Familien mit Kindern aller Altersstufen wahrgenommen. 378 Familien begannen 2014 eine Beratung im Kinderschutz-Zentrum, 239 Familien setzten den Beratungsprozess fort, den Sie 2013 begonnen hatten. Problemlagen von Familien 2014 (Erstanmeldungen) 1. Familien, die sich selbst meldeten 283 Familien meldeten sich selbst an. 39 Eltern(teile) fanden die Beratungsstelle durch ihre Suche im Internet, 42 Eltern(teile) erhielten Hinweise auf das Kinderschutz-Zentrum im Bekanntenkreis, 40 Eltern(teile) wurden von LehrernInnen, ErzieherInnen oder anderen Beratungsstellen auf unser Angebot aufmerksam gemacht. Das Jugendamt empfahl 63 Eltern(teilen) eine Beratung im Kinderschutz- Zentrum. 10 Eltern(teile) fanden unsere Faltblätter in der Kinderarztpraxis, 17 Eltern(teile) hatten die Empfehlung von ihren Anwälten bekommen. Häufige Gründe für die Anmeldung sind Auffälligkeiten im Verhalten der Kinder oder Jugendlichen (53 Eltern) und eskalierte Familienkonflikte (29 Eltern). Die Eltern sind hilflos und wünschen sich Rat, wie sie die Verhaltensweisen ihrer Kinder deuten und die Konflikte gewaltfrei lösen können. Eltern mit Jugendlichen bitten um Hilfe, weil es ihnen nicht mehr gelingt, ihre jugendlichen Kinder zu erreichen. Bisherige Grenzsetzungen funktionieren scheinbar nicht mehr. Die Konflikte waren teilweise soweit eskaliert, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern gekommen war. 97 Eltern(teile) suchten Hilfe, weil sie sich mit dem anderen Elternteil nicht auf eine für das Kind sinnvolle Umgangsregelung einigen konnten. Einige dieser Eltern kamen durch eine Auflage des Familiengerichts zu uns. Besonders in Familien, in denen häusliche Gewalt (5 Eltern) der entscheidende Trennungsgrund gewesen war, befanden sich die Kinder in starken Loyalitätskonflikten. Jahresbericht 2013/14 7

Hilfen für Kinder, Jugendliche und Eltern In 18 Fällen war zusätzlich zur Beratung der Eltern eine Betreuung des Umgangs zwischen dem getrennten Elternteil (meist der Vater) und den Kindern notwendig. 2. Familien, die durch andere Institutionen angemeldet wurden 75 Familien wurden uns von Kinderärzten, Schulen, Kindergärten, dem Jugendamt und anderen Diensten überwiesen. 22 Familien wurden direkt durch das Jugendamt angemeldet, 19 Familien von Beratungsstellen, ÄrztInnen oder Kliniken, 27 Familien kamen durch die Vermittlung von Kitas, Schulen oder anderen Institutionen, in denen sich die Kinder aufhielten. Die Jugendämter überweisen Familien bei allen Formen von Kindeswohlgefährdung und bei häuslicher Gewalt. Die Eltern erhalten die Auflage zur Beratung oft schon mit dem Hinweis, dass das Jugendamt sonst das Familiengericht einschalten muss. Im Berichtszeitraum erhielten 32 Kinder und Jugendliche, die die Beratungsstellen aufsuchten (häufig in Begleitung erwachsener Bezugspersonen) eine Krisenberatung. Bei Bedarf gab es Gespräche mit den Eltern oder Betreuungspersonen der Kinder und Jugendlichen. Auszug aus der Statistik 2014 Beratung und Therapie von Familien Anzahl der Erstkontakte 786 davon telefonisch persönlich schriftlich 43 28 Über den Erstkontakt hinaus beraten 378 Übernahmen aus dem Vorjahr 239 Gesamt 617 Anzahl der abgeschlossenen Fälle 357 davon einmalige Beratung 87 2-5 Termine 118 6-15 Termine 103 16-30 Termine 29 31 und mehr Termine 24 715 Eine Weitervermittlung nach der Krisenberatung erfolgte in 41 Fällen aus inhaltlichen Gründen. 8 Kinderschutz-Zentrum Berlin

Unsere Angebote Früher Hilfen Rechtzeitige Hilfe von Anfang an, damit Eltern mit ihren Säuglingen einen guten Start haben und die Kinder vor Gefährdungen geschützt sind, ist das Motto der Frühen Hilfen im Kinderschutz-Zentrum. Für Eltern in belastenden Lebenslagen mit Säuglingen und Kleinkindern bieten wir spezifische Eltern-Kind-Gruppen, in denen die Eltern beim Bindungsaufbau zu ihrem Säugling unterstützt werden. Die Gruppenangebote werden durch individuelle entwicklungspsychologische Beratungen ergänzt, bei denen auch auf Video aufgezeichnete Situationen mit den Eltern besprochen werden. Dieses präventive Angebot erreicht Eltern in der sensiblen Phase am Beginn der Elternschaft, in der vor allem junge Eltern oft überfordert sind. Sie möchten ihren Kindern mehr Zuwendung geben, als sie von den eigenen Eltern bekommen haben und erhoffen sich insgeheim, dass die Säuglinge ihnen die Zuwendung und Liebe geben, die sie selbst als Kinder vermisst haben. Jede Äußerung von Unwohlsein des Säuglings kann von derart bedürftigen Eltern missverstanden werden und ungewollte Aggressionen auslösen. Ziel ist, den Eltern einen gelingenden Bindungsaufbau zu ihrem Kind zu ermöglichen. Eltern, die selbst Gewalt erfahren haben, verfügen häufig über eine niedrige Frustrationstoleranz, so dass ein hohes Risiko der Kindeswohlgefährdung besteht, wenn die Eltern das Schreien des Babys nicht ertragen können. In beiden Beratungsstellen (Hohenschönhausen und Neukölln) trifft sich die Eltern-Kind-Gruppe jeweils am Donnerstagvormittag. Regelmäßig nehmen acht Eltern mit ihren Säuglingen teil. Das Ritual des gemeinsamen Frühstücks hilft den Eltern, mit einander vertraut zu werden und nebenbei Fragen und Probleme anzusprechen. Wichtig ist, dass die Gruppe jede Woche stattfindet, und damit einen festen Platz in der Wochenplanung der Familien hat. Damit wird die Gruppe zum Anker in einem manchmal noch unregelmäßigen Leben. Schutz für Kinder und Entwicklung von Perspektiven: Die Kinderwohngruppe In unserer Kinderwohngruppe fanden 2013 21 Kinder einen sicheren Ort in der Krise, 2014 waren es 29 Kinder. Sie waren in einer Krisensituation von MitarbeiterInnen der Jugendämter in Obhut genommen worden. Jahresbericht 2013/14 9

Hilfen für Kinder, Jugendliche und Eltern Bei einem Teil der Kinder musste die Unterbringung anonym erfolgen, da die Eltern mit der Trennung von ihren Kindern nicht einverstanden waren. Wir befürchteten daher, dass die Eltern bei Kenntnis der Adresse der Kinderwohngruppe vor Ort großen Druck auf ihre Kinder und die MitarbeiterInnen ausüben. In einigen Fällen konnte die Möglichkeit einer Entführung der Kinder nicht ausgeschlossen werden. Zum Erhalt des Kontaktes von Eltern und Kindern fanden wöchentliche Treffen in den Räumen der Beratungsstellen statt. Die Familie begegnete sich an einem neutralen Ort mit der Chance, bisherige Verhaltensmuster zu überwinden. Acht Kinder konnten 2013 mit Hilfe von intensiver Elternberatung und Betreuung der Besuche nach Hause entlassen werden. 2014 waren es sieben Kinder. Für ein Drittel der Kinder zog sich der Klärungsprozess über mehr als sechs Monate hin, was für Eltern und Kinder eine große Belastung darstellt. In fast allen Fällen waren längere Verfahren vor dem Familiengericht und/oder dem Kammergericht der Grund für die lange Aufenthaltsdauer der Kinder bei uns. Besonders wenn die Kinder aufgrund psychischer Probleme der Eltern und der damit in Verbindung gebrachten Vernachlässigung oder seelischen Misshandlung in Obhut genommen worden waren, mussten psychologische Gutachten über die Erziehungsfähigkeit erstellt werden. Die psychisch kranken Elternteile hatten teilweise keine Krankheitseinsicht, so dass sie die Begutachtung als Zumutung empfanden und nur eingeschränkt 10 Kinderschutz-Zentrum Berlin

mitarbeiteten. Die Kinder dieser Familien hatten oft in einem familiären System gelebt, in dem die Rollenzuschreibungen durcheinander geraten waren. In der Kinderwohngruppe erfuhren sie andere Kommunikationsstile und klarere Regeln als zu Hause, so dass sie begannen, sich mehr mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich als eigenständige Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Gleichzeitig distanzierten sie sich damit auch von den Eltern. Dies wiederum erlebten die Eltern als sehr schmerzhaft und beschuldigten z.b. die BetreuerInnen, die Kinder zu entfremden. Auszug aus der Statistik 2014 2013 Anzahl der neu aufgenommenen Kinder: 14 Aufenthalt w m zus. Alter w m zus. bis 28 Tage 4 4 2 3 6 7 1 bis 3 1 1 1 3 2 4 bis 3 Monate 4 1 3 3 7 4 4 bis 6 3 2 5 2 8 4 bis 6 Monate 6 1 3 2 9 3 7 bis 10 6 7 7 5 13 12 länger 4 4 3 3 7 7 11 bis 13 1 0 0 1 1 1 Verbleib der Kinder nach dem Aufenthalt Zu den Eltern 7 8 / Pflegefamilie 0 0 / Heim 13 5 Neun acht Kinder blieben über den Jahreswechsel. Jahresbericht 2013/14 11

Wo kann ich bleiben? Jessicas langer Weg durch die Jugendhilfe Jessica, zwölf Jahre alt, kam Anfang 2013 zu uns in die Wohngruppe. Sie war aus der vorhergehenden Einrichtung rausgeflogen. Als sie acht Jahre alt war, wandte sich ihre Mutter an das Jugendamt. Sie sei am Ende und wisse nicht mehr weiter, in der Schule gäbe es jeden Tag Probleme und der Hort würde sich jeden zweiten Tag bei ihr melden. Schnell wurde klar, dass ambulante Maßnahmen der Familie nicht helfen konnten und so kam Jessica zunächst in eine Clearinggruppe. Nach einigen Wochen stabilisierte sich Jessica in der Schule und konnte wieder nach Hause entlassen werden. Dies ging aber nicht lange gut. Nach einem Monat war die Situation genauso schwierig wie am Anfang. Das Mädchen musste wieder in ein Heim gebracht werden in eine neue Gruppe, die bisherige hatte keinen Platz mehr für sie. Ihr Leidensweg begann. Mehrere Male wurde sie nach Hause entlassen und wieder untergebracht. Die Mutter zog in dieser Zeit öffters um, wodurch die Zuständigkeit der Jugendämter wechselte. Mit immer neuen Herangehensweisen, Beratungsangeboten und pädagogischen Konzepten versuchten SozialarbeiterInnen eine Lösung für Jessica und ihre Mutter zu finden. Doch es gelang nicht. Viele Schulwechsel führten dazu, dass sie nicht richtig Fuß fassen konnte und immer auffälliger wurde. MitarbeiterInnen der letzten Clearinggruppe mussten Jessica in die Kinder- und Jugendpsychiatrie bringen, weil sie ihr Zimmer zerlegte. Kein Bild hing mehr an der Wand, ihr Kleiderschrank war umgeworfen, der Schreibtisch kaputt und ihre Kleidung lag in der ganzen Wohnung verstreut. Sie galt als nicht beschulbar. Diese Informationen bekamen wir von der nun zuständigen Sozialarbeiterin, als sie bei uns anfragte, ob wir Jessica aufnehmen können, denn am nächsten Tag würde sie aus der Psychiatrie entlassen werden. Das Team des Kinderschutz-Zentrums setzte sich zusammen und überlegte, ob wir eine Hilfe sein könnten. Es war klar, dass es nicht einfach sein würde, eine tragfähige Beziehung anzubieten, auf die sie sich einlassen könnte. Jessica hat die im Folgenden benannten Prozesse schon sehr häufig erlebt: Kinder, die bei uns aufgenommen werden, sind meist nicht vorbereitet. Sie werden plötzlich aus ihrer Familie heraus in Obhut genommen und meist sofort danach in die Krisengruppe gebracht. Dieser 12 Kinderschutz-Zentrum Berlin

Vorgang löst in der Regel mit unterschiedlichen Gefühlen bei allen Beteiligten aus. Angst auf Seiten der Eltern, ihr Kind für immer zu verlieren, Angst bei den Kindern, was auf sie zukommen wird und Sorge bei den zuständigen SozialarbeiterInnen, ob ihre Entscheidung, das Kind unterzubringen, die richtige war. Aber auch Erleichterung bei den Kindern, endlich Hilfe zu bekommen, Erleichterung bei den SozialarbeiterInnen nicht mehr gewartet zu haben und Erleichterung bei den Eltern, dass endlich etwas passiert auch wenn sie es sich oft nicht eingestehen wollen. Mit all diesen Gefühlen kommen Kinder wie Jessica in die Wohngruppe. Aber auch bei Kindern, die bereits bei uns in der Gruppe leben, gibt es gibt es immer wieder Ängste. Ein neues Kind kommt: wird es ein Freund oder ein Feind, ein Spielkamerad oder ein Konkurrent sein? Viele Fragen sollen nun geklärt werden: ` Wo wird der zukünftige Lebensmittelpunkt des Kindes sein? ` Haben die Eltern genug Ressourcen, um ihr Kind wieder zu sich zu nehmen? ` Lassen sich die Eltern auf einen Hilfeprozess ein? ` Gibt es ausreichend zusätzliche Hilfen, um die Kindeswohlgefährdung aufzuheben? ` Wie ist der Entwicklungsstand des Kindes? ` Welche Auffälligkeiten zeigt das Kind? ` Wie tief sitzen Traumata und Belastungen aus der Vergangenheit? ` Was braucht das Kind um seine zukünftigen Lebensschritte zu bewältigen? ` Können Kindeswohl und Kindeswille in Einklang gebracht werden? Um diese Fragen zu klären müssen sich die Kinder mit ihren Eltern auf einen schwierigen Prozess einlassen. Dieser Prozess ist sowohl für die Eltern als auch für die Kinder oft etwas Neues, etwas Ungewohntes. Plötzlich gibt es regelmäßige Termine bei Beratern, bei SozialarbeiterInnen, bei GutachterInnen und möglicherweise sogar beim Familiengericht. Jahresbericht 2013/14 13

Wo kann ich bleiben? Die Kinder leben von nun an in einer Kinderwohngruppe. Ihr Alltag findet in einer Gruppe mit anderen Kindern statt, die ebenso wie sie selbst starke Belastungen und Auffälligkeiten haben. Dies ist eine ungewohnte Situation und eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Wie wird das mit Jessica sein? Sie und ihre Mutter haben diese Erfahrung schon viele Male gemacht und ihre Situation hat sich nicht verbessert sondern verschlechtert. Warum sollte es uns gelingen mit ihrer Familie eine positive Entwicklung einzuleiten? Gefährden wir die Stabilität unserer Kindergruppe durch Jessicas massive Verhaltensauffälligkeiten, die sie wahrscheinlich auch bei uns zeigen wird? Wir haben uns dennoch darauf eingelassen. Mit viel personellem Aufwand, Supervisionsstunden und intensiver Teamarbeit ist es uns gelungen, Jessica zu stabilisieren. Unsere Beratungsarbeit mit der Mutter führte nicht dazu, sie wieder aufzunehmen. Obwohl Jessica gerne wieder zuhause leben würde, gibt es dort keinen Platz für sie. Schnell würde sie mit ihrer Mutter in ein altes Muster zurückfallen, was unserer Meinung nach unausweichlich zu einer erneuten Unterbringung in einer Krisengruppe führen würde. Nach einem halben Jahr Aufenthalt bei uns ist es gelungen eine passende Heimgruppe zu finden, in der sie bis zu ihrer Volljährigkeit bleiben kann. Jessica hat sich so stabilisiert, dass wir guter Dinge 14 Kinderschutz-Zentrum Berlin

sind und glauben, dass sie einen guten Weg gehen wird. Ob sie mit ihrer Mutter in Zukunft eine tragfähigere Beziehung entwickeln kann, bleibt weiterhin unklar. Jahresbericht 2013/14 15

Beratung und Fortbildung von Fachkräften 2014 nahmen 621 (2013: 593) Fachkräfte eine Fachberatung zur Einschätzung der Gefährdungssituation eines Kindes gemäß 8a SGB VIII in Anspruch. Durch das neue Bundeskinderschutzgesetz hat sich der Personenkreis, der Anspruch auf eine Fachberatung hat, beträchtlich erweitert. Neben Ärzten und anderen Berufsgeheimnisträgern wie Psychotherapeuten oder Fachkräfte anderer Heilberufe, Fachkräften der Schwangerschaftskonflikt- und Suchtberatungsstellen sollen auch LehrerInnen auf Anzeichen von Kindeswohlgefährdung achten und dann entsprechend tätig werden. Bei vielen Fachkräften dieser unterschiedlichen Berufsgruppen bestehen große Unsicherheiten, wie sie Eltern und Kinder in die Gefährdungseinschätzung einbeziehen können. Besonders die neu hinzugekommenen Berufsgruppen brauchen Begleitung, um sich über ihre Rolle gegenüber der Familie klar zu werden. Sie benötigen Informationen, wie sie mit Eltern und Kindern über die heiklen Themen sprechen und welche Hilfen sie den Eltern vorschlagen können. Einige haben auch die Erfahrung gemacht, dass ihre Einschätzung der Gefährdung eines Kindes von den Fachkräften des Jugendamtes nicht geteilt wurde. Sie haben daher Bedenken, sich intensiv mit den Eltern zu besprechen und sie zu einer Beantragung von Hilfe beim Jugendamt zu ermutigen. Bei Kita-Erzieherinnen ist vor allem die Befürchtung stark ausgeprägt, die Eltern würden nach einem konfrontierenden Gespräch ihre Kinder aus der Kita nehmen. Die ErzieherInnen besitzen häufig hohe Kompetenz im Führen von Elterngesprächen zum Entwicklungsstand der Kinder. Wenn sie allerdings mit Eltern Auffälligkeiten der Kinder besprechen sollen, die eventuell aus gewaltsamen Handlungen oder Unterlassungen der Eltern resultieren, stellt sich oft eine starke Befangenheit ein. Die ErzieherInnen identifizieren sich mit den Kindern, was sie mitunter dazu verführt, den Eltern mit Vorwürfen zu begegnen. Insgeheim hegen sie auch den Wunsch, dass Eltern sofort einsichtig sein sollen. Dies kann zu einem unproduktiven Tauziehen führen. Im Rahmen der Fachberatung bereiten wir mit den Rat suchenden ErzieherInnen die einzelnen Schritte des Gesprächs vor. Sozialpädagogische FamilienhelferInnen benötigten unsere Unterstützung für Gespräche u. a. mit psychisch kranken Eltern. Sie wollten wissen, wie die Gefährdung der Kinder so formuliert werden kann, dass die erkrankten Eltern verstehen, was den Fachkräften Sorgen bereitet. Besonders Eltern mit Wahnsymptomen nehmen die Realität anders wahr als die Personen in ihrem Umfeld. Sie sind davon überzeugt, dass ihre Rituale und ihre Erziehung dem Wohle des Kindes dient und die Fachkräfte ihnen nur Böses wollen. In der 16 Kinderschutz-Zentrum Berlin

Fachberatung wird die Veränderungsfähigkeit der Eltern eingeschätzt und überlegt, ob die Arbeit der Familienhelfer ausreicht, um den Schutz der Kinder gewährleisten zu können. MitarbeiterInnen der regionalen sozialpädagogischen Dienste suchten unseren Rat bei der Einschätzung des Risikos einer erneuten Gefährdung des Kindes sowie des Hilfebedarfs von Kindern und Eltern. Ferner wurde die Fachberatung von allen Fachkräftegruppen vor allem bei Vermutungen emotionaler Vernachlässigung, sexueller Misshandlung oder diffuser Auffälligkeiten von Kindern, die schwer gedeutet werden können, in Anspruch genommen. Hier waren die Fachkräfte oft emotional so betroffen, dass Polarisierungen und Verstrickungen im Hilfesystem eine objektive Einschätzung der Gefährdung verhinderten. In solchen Fällen bewährte sich unsere Herangehensweise, neben der kriteriengestützten Gefährdungseinschätzung auch die emotionale Beziehung der Fachkräfte zum Klientel (im Sinne persönlicher Risiken) zu berücksichtigen. Neben der Fachberatung waren wir sehr häufig als Referenten für Fortbildungen von Fachkräften zum Kinderschutz gefragt. Die Anfragen nach Fortbildung nahmen über die letzten Jahre kontinuierlich zu, so dass unsere Kapazitätsgrenze erreicht wurde. Thematisch waren vor allem Fortbildungen zum Erkennen und Einschätzen von Kindeswohlgefährdung, zur Kooperation mit dem Jugendamt und zu den Aufgaben der Freien Träger gemäß 8a SGB VIII gewünscht. Gerade diese Themen erfordern viel praktische Erfahrung, um den Fachkräften Handlungsanleitungen vermitteln zu können. Für uns ist daher wichtig, dass alle, die als Referenten tätig sind auch selbst mit Eltern und Kindern arbeiten und somit wissen, welche Schwierigkeiten in der Einschätzung der Gefährdung und beim Gespräch mit den Betroffenen auftreten können. Auszug aus der Statistik 2014 Beratung für Fachkräfte Anzahl der Beratungen insgesamt 522 Anzahl der einmalig Beratenen 330 Anzahl der mehrmalig Beratenen 291 Fortbildungsveranstaltungen bzgl. 8a SGB VIII 84 Jahresbericht 2013/14 17

Gefahren für Kinder Risiken für Fachkräfte Gefahren für Kinder Risiken für Fachkräfte: Auswertung eines schwierigen Fallverlaufs mit Todesfolge * Ein neun Monate altes Mädchen stirbt im Herbst 2012 nach schweren Verletzungen, zurückzuführen auf körperliche Misshandlung durch den Kindesvater. Mutter und Baby lebten in einer Mutter-Kind- Einrichtung, der Vater war oft dort. Dieser Fall hinterlässt Bestürzung und Ratlosigkeit. Eine Expertengruppe analysiert im Auftrag des zuständigen Stadtrats die Fallgeschichte und Verantwortlichkeiten, um Schlussfolgerungen für die Struktur des betroffenen Jugendamts, Kooperation unterschiedlicher Fachkräfte und Qualitätsstandards in Mutter-Kind-Einrichtungen abzuleiten. Vorbemerkung Unsere Anmerkungen, Eindrücke und Fragen entstanden nach Sichtung von Unterlagen und unter Verwendung der Protokolle von Sitzungen des Auswertungsgremiums. Sie beziehen sich auf Aspekte einer notwendigen komplexen Fallanalyse und sind im Nachhinein entstanden ohne Interviews direkt beteiligter Fachkräfte bzw. Familienmitglieder. Wie kann das Problem der Familie und ihre Dynamik verstanden werden? Die vorliegenden Hilfeplanunterlagen bis September 2012 lassen nur ein sehr unvollständiges Bild der Familie entstehen. Eine achtzehnjährige schwangere Frau meldet sich selbst beim Jugendamt und bittet um Unterstützung, weil der Wohnraum für sie, ihre Mutter mit neuem Mann und dessen Söhnen nicht ausreicht. Weiterhin ist bekannt, dass ihre Eltern geschieden sind, sie zwei Brüder hat, die Familie häufig umzog. Sie habe keine Beziehung zum Vater des Kindes, das sie erwartet, aber eine innige Beziehung zur eigenen Mutter, ihrem Mann und dessen Kindern. Über einen Schulabschluss verfügt sie nicht. Im Oktober 2011 berichtet sie der fallzuständigen Fachkraft im Jugendamt über die Drohung ihres leiblichen Vaters, die Familie umzubringen, wenn sie ihm nicht den Namen des künftigen Vaters nenne. Es findet sich kein Hinweis darauf, ob diese gewaltsame Drohung mit den Beteiligten thematisiert wurde, ob die Achtzehnjährige solche * Dieser Text basiert auf einer Analyse von Elke Nowotny und Frank Roll (Mitarbeiter der Fachsteuerung im Jugendamt Lichtenberg), die Teil eines Berichts der Expertengruppe vom September 2013 zum Fall Lena im Auftrag des Bezirksstadtrates für Jugend und Gesundheit im Bezirksamt Neukölln ist. 18 Kinderschutz-Zentrum Berlin

Drohungen evtl. kennt oder ob ihre Mutter etwas zu Gewalt in der früheren Familie sagen kann. Fragen, z.b. wie Was bedeuten die Morddrohungen des Vaters der Kindesmutter für die Schwangere?, Was sagt sie über die Familiensituation in ihrer Herkunftsfamilie und über Erziehungshaltungen ihrer Eltern aus?, Warum reagiert der Vater der Achtzehnjährigen so wütend und gewaltsam auf die Schwangerschaft seiner Tochter?, Was steckt hinter seiner Forderung, das Kind zur Adoption frei zu geben und der Drohung, dass er sich ansonsten von seiner Tochter lossagt? sind nicht dokumentiert, vielleicht auch nicht besprochen. Vermutlich ist die Drohung für die Familie nichts Neues gewesen, vielleicht hat sie die Erfahrung gemacht, dass nichts daraus folgt. Eine junge Frau ist voller Hoffnung, dass sie für ihr Kind eine verantwortliche Mutter sein kann. Sie möchte unabhängig von der eigenen Familie leben, bittet um Anleitung und Unterstützung bei der Versorgung und im Umgang mit dem Säugling (Hilfeplan vom 13.10.11). Mögliche Konflikte im Umgang mit dem erwarteten Baby, Schwierigkeiten, die ein ungenannter Kindesvater mit sich bringen könnte, Konflikte mit der Herkunftsfamilie, möglicherweise Gewalterfahrungen werden nicht benannt. Das Baby wird geboren und in den ersten Wochen von der Mutter in liebevollem Kontakt (Hilfeplanungsraster Ende Febr. 2012) versorgt. Sie findet es schön, Mutter zu sein (Hilfekonferenz März), benennt, dass das Baby nicht so gut schläft und zwei eigene Rheumatismusschübe. Alles wird sachlich aufgelistet, über Nachfragen oder Reflexionen bzw. innere Beteiligung ist nichts zu lesen. Auch nicht darüber, wie es der Mutter mit dem unruhigen Kind geht. Am- Berliner Zeitung 12.3.13 Jahresbericht 2013/14 19

Gefahren für Kinder Risiken für Fachkräfte bivalenzen und Unsicherheiten spielen keine Rolle. Möglicherweise kann die 18jährige Mutter sich selbst kaum spüren und damit auch nicht die Bedürfnisse ihres Babys. Zum Vater des Kindes gibt es bislang keinen Kontakt. Erneut entstehen Fragen, wie Welche Gründe gab es, dass die junge Mutter den Kindesvater verschwieg?, Wollte sie ihn schützen oder gab es eine tiefe Enttäuschung? Als sich die Eltern im Mai zufällig treffen, beschließen sie gemeinsam für das Kind zu sorgen. Motivationen und Gründe bleiben im Dunkeln. Es wäre zu fragen gewesen, warum der Vater plötzlich in diese Rolle schlüpft bzw. warum sich die Mutter so rasch in diese gemeinsame Verantwortung begibt, so als ob ein Schalter umgelegt würde. Können sich die jungen Eltern in die Bedürfnisse des anderen hineinversetzen und in die ihres Babys? Hat der junge Vater Einfühlung gegenüber einem Baby? Diese oder andere Fragen finden sich in den Unterlagen nicht. Kriterien wie Empathie, Zurückstellen eigener Bedürfnisse gegenüber denen des Kindes, realistische Einschätzung des Entwicklungsstands und der Fähigkeiten des Babys usw. könnten bei der Beantwortung dieser Fragen hilfreich sein. Diese Fragen wurden möglicherweise nicht gestellt oder sind nicht dokumentiert. Der Vater betreut das Baby häufig und gleichzeitig beginnt die Mutter ein Praktikum in der Gastronomie und entwickelt den Plan, ab August 2012 eine Ausbildung zu beginnen. Zu diesem Zeitpunkt ist das Baby fünf Monate alt. Es fällt auf, dass wenig über die Geschichte der Eltern des Babys bekannt wurde. Beeindruckend bei der Kindesmutter ist, dass Widersprüche in ihrer Haltung zur Herkunftsfamilie ( innige Beziehung zur Mutter vs. Hilfe in einer Einrichtung der Jugendhilfe suchen; nicht kommentierte Morddrohung des leiblichen Vaters), in der Einstellung ihrem Kind gegenüber (anfangs liebevoll, oft in Betreuung ihrer Mutter auf engem Raum der Laube, zeitiges Praktikum nach der Geburt und Besorgen einer Ausbildung), bezogen auf die Haltung dem Kindesvater gegenüber (kein Kontaktwunsch vs. sehr dichte Beziehung) nicht differenziert werden konnten. Es scheint möglich, dass die Bedürfnisse des Kindes nach stabilen Beziehungen und empathischem Umgang von beiden Eltern und von der Großmutter mütterlicherseits zu wenig wahrgenommen wurden, denn das Kind wechselte häufig die Umgebung und die vorrangigen Beziehungspersonen. Es könnte vermutet werden, dass bei der Kindesmutter eine emotionale Beziehungsstörung vorliegt, eine 20 Kinderschutz-Zentrum Berlin

Störung ihrer eigenen Identitätsentwicklung, die sich nun in mangelnder Einfühlung in die Bedürfnisse ihres eigenen Kindes äußert. Möglicherweise gab es zusätzlich eine psychische Misshandlung durch ihren gewaltsam agierenden Vater. Wenn das zuträfe, bestünde aufgrund der Geschichte der Mutter (eigene Vernachlässigungsund Misshandlungserfahrung) ein erhöhtes Risiko für Gefährdung ihres kleinen Kindes. Was fällt auf beim Blick auf das Fachkräftesystem? Die Hilfegeschichte ab Oktober 2011 erscheint harmonisch und glatt, Widersprüche im Verhalten von Mutter, weiterer Familie und Vater des Babys werden nicht deutlich. Wir haben es scheinbar mit einer Familie zu tun, der es gelang, alle Fachkräfte zu benebeln, so dass keine Neugier entstand und nachgefragt wurde. Auffälligkeiten und Widersprüche beim Blick auf das Hilfesystem (nicht vollständig): ` Hilfeplanziele sind sehr allgemein formuliert, z.b. Erlernen von Haushaltsführung, Hygiene und Versorgung des Babys, Geburtsvorbereitung, Einkommen einteilen lernen usw. ` Ziele, wie kennen lernen von Bedürfnissen von Neugeborenen sowie ihrer Verletzlichkeit sind nicht benannt. ` Beratungsgespräche über frühkindliche Entwicklung und die Teilnahme an einer PEKIP-Gruppe werden als Ziel genannt, aber nicht hinsichtlich der Ergebnisse beschrieben. ` Die junge Mutter wird positiv als freundlich, aufgeschlossen und nie klagend trotz ihrer Erkrankung charakterisiert. Anstrengung und die Unruhe des Säuglings werden benannt, aber nicht vertieft. ` Das Auftauchen des Kindesvaters wird erwähnt, im Hilfeplan Juli 2012 sind Beistandschaft und Vaterschaftsanerkennung dokumentiert. Folgende Fragen sind im Nachhinein zu stellen: ` Warum konnten Ambivalenzen nicht gesehen oder nicht bearbeitet werden? ` Wie gelingt es, dass Fragen zur Familie, zu Rollen, zu Überzeugungen, zur Familiengeschichte nicht gestellt werden? Und dies für die Perspektivklärung kaum eine Rolle spielt? ` Wie kam es, dass trotz umfangreicher Abwesenheit (Juli/August 2012) die Hilfe weiter gewährt wurde? Jahresbericht 2013/14 21

Gefahren für Kinder Risiken für Fachkräfte ` Wie ist es der Familie gelungen, dass ein auffallender Widerspruch nicht bearbeitet wurde: Einer der Hauptgründe für die Unterbringung in einer Mutter-Kind-Einrichtung war der Platzmangel, aber im o. g. Zeitraum ist die Kindesmutter mit dem Baby oft und viel bei ihrer Mutter in der engen Laube! War die Hilfe noch notwendig und geeignet? ` Was ist konkret passiert, dass das plötzliche Auftauchen des Vaters und seines plötzlichen Willens Vater und Partner zu sein, sowie seine Geschichte keine Fragen und Beratungsangebote nach sich zogen? Familiale Dynamiken von Misshandlung und Vernachlässigung bergen immer die Gefahr der Ansteckung. Im vorliegenden Fall schien es sich um eine Mutter zu handeln, die von sich aus Hilfe gesucht hat und im Verlauf des Hilfeprozesses als lernbereit und kooperationsfähig bewertet wurde. Ambivalenzen in der Einschätzung tauchten nicht auf, wurden zumindest nicht dokumentiert. Deshalb war Hilfe und Unterstützung angesagt, keinesfalls Kontrolle. Bedrohliche Szenarien werden wahrscheinlich abgespalten. Es entsteht der Eindruck, dass Nachfragen zur Entwicklung von Mutter und Vater, zu ihren Herkunftsfamilien und Erziehungshaltungen von der Familie als Neugier, Misstrauen und Kontrolle bewertet wurden. Die junge Mutter hatte einen oberflächlichen Kontakt zu Fachkräften, eine tiefer gehende vertrauensvolle Beziehung war nicht möglich. Die Fachkräfte könnten mit ihren Bemühungen am Widerstand der Familie abgetropft sein. Die Leugnung der Konflikte auf Seiten der Familie führte womöglich zur Sprachlosigkeit der Fachkräfte. Diese Sprachlosigkeit fand ihren Höhepunkt darin, dass Signale der Mutter, die Tochter habe blaue Flecke, nicht aufgenommen, sondern beiseite geschoben wurden. Die Vermutung einer Kindeswohlgefährdung schien zunächst bei einer Fachkraft des Trägers nicht durchzudringen (August 2012). Über einen für ein Baby gefährlich langen Zeitraum von hinsichtlich ihrer Entstehung unklar beschriebenen Hämatomen, Schürfwunden, einer Beule und eines nicht stattgefunden Arztbesuchs wird keine Gefährdung festgestellt und demgemäß auch kein Verfahren in Gang gesetzt. Wie gelang es der Familie im Konfrontationsgespräch Ende August beim Träger trotz der Hinweise auf die Gefährdung des Babys unklar und verweigernd zu bleiben? Und wie schaffte es die Familie, dass trotz des Themas Kindeswohlgefährdung die Hilfekonferenz am 3.9.2012 sich schwerpunktmäßig mit der Beendigung der Ausbildung und der Absicht der Mutter, das Kind wieder selbst zu betreuen, beschäftigte? 22 Kinderschutz-Zentrum Berlin

Wieso wurden Abwehr, Unklarheiten, Vertuschung und mangelnde Kooperation nicht thematisiert? Es scheint, dass der positive Gesamteindruck (Auftreten, Kooperationswillen, Ziele / Vorstellungen) von Kindesmutter und deren Mutter die Fragen nach Familiengeschichte und -dynamik, nach den Rollen der männlichen Familienmitglieder (besonders des Kindesvaters) und damit eine vielleicht andere Bewertung der Situation verschleierten bzw. nicht zuließen: ` Erklärungen der Eltern und Familie wurde lange geglaubt. Kontrolle kam über weite Strecken nicht in den Sinn, weil die Integrität hoch bewertet wurde. Es gab lange Zeit ein hohes Vertrauen in die Selbstregulation. ` Die Philosophie der Familie Wir machen das! Wir haben das immer so gemacht, fragt nicht zuviel!, die die Grundlage unreflektierten Handelns darstellt, überträgt sich auf die Fachkräfte. Die Abwehr der gesamten Familie führte zu Sprachlosigkeit und Lähmung im Fachkräftesystem, gefolgt von Ungenauigkeiten und Unklarheiten beim Erkennen und Einschätzen der Kindeswohlgefährdung. Das Kind blieb in der Mutter-Kind-Einrichtung, bei den Eltern und der weiteren Familie im Vertrauen auf deren erzieherische Kompetenz und Einfühlung. ` Die zu Beginn der Hilfe erfolgte Zuordnung zum Leistungsbereich (Arbeitsbereich in der Jugendhilfe neben dem Gefährdungs- und Klärungsbereich einer vermuteten Kindeswohlgefährdung) wurde beibehalten und erst spät überprüft. ` Die Verfahren und Standards zur Kindeswohlgefährdung wurden nur z.t. angewendet. Schlussfolgerungen / Thesen These 1 Der positive Gesamteindruck von der Familie, besonders von der jungen Mutter und ihrer Mutter, das Anliegen und die vereinbarten Ziele sorgten über einen langen Zeitraum dafür, dass Hinweise zum schwierigen familiären Hintergrund (u.a. Gewalterfahrungen) kaum wahrgenommen und in der Hilfeplanung wenig berücksichtigt wurden. These 2 Mangelndes Wissen über Biografien und Dynamiken in den Herkunftsfamilien von jungen Kindeseltern in der Jugendhilfe bewirken Unklarheiten und Unsicherheiten im Verstehen der Problem- Jahresbericht 2013/14 23

Gefahren für Kinder Risiken für Fachkräfte lagen und Konflikte von Familien, ihrer Beziehungskonflikte und der elterlichen Kompetenz. These 3: Familiendynamiken wie Sprachlosigkeit und Leugnung finden sich im Fachkräftesystem wieder. Fragen zu biografischen Kontexten und Gewalterfahrungen werden wenig gestellt. Differenzierte Überlegungen zur Beziehungsdynamik und Hypothesen zum Problem der Familie bzw. des jungen Elternpaares werden nicht deutlich. Das Hilfesystem agiert analog des Familiensystems unklar, widersprüchlich, reagierend statt aktivierend und zum Teil unstrukturiert. Dies hat Klarheit im Erkennen und Einschätzen des Risikos einer Kindeswohlgefährdung verhindert. These 4 Die nur teilweise angewendeten fachlichen Standards bzw. Verfahren zur Gefährdungseinschätzung erhöhten das Risiko der Kindeswohlgefährdung der Zuordnung zum Klärungs- bzw. Überprüfungsbereich folgte nicht die entsprechende und notwendige Veränderung der vorgegebenen Arbeitsweise. Anmerkung Die Arbeit mit Familien, in denen es zu Misshandlung und Vernachlässigung kommt, ist kompliziert und riskant. Trotz Qualifizierung der Einschätzungspraxis durch kriteriengestützte Verfahren, kann es zu schwerwiegenden Verläufen kommen. In Fortbildungen und Supervisionen setzen sich SozialarbeiterInnen getreu dem Motto Aus Fehlern lernen mit diesen Verläufen auseinander. Perspektivisch ist zu fordern, dass eine Reduktion der Fallzahlen bei Fallzuständigen in den Jugendämtern stattfindet und Supervision endlich zum Qualitätsstandard wird. 24 Kinderschutz-Zentrum Berlin

Berliner Zeitung 20.11.13 Jahresbericht 2013/14 25

Landeskoordinierungs- und Servicestelle Landeskoordinierungs- und Servicestelle Netzwerke Frühe Hilfen ein Kooperationsprojekt mit dem Berliner Notdienst Kinderschutz Im Rahmen der Bundesinitiative Netzwerke Frühe Hilfen und Familienhebammen 2012-2015 wurde in jedem Bundesland eine Landeskoordinierungsstelle (LKS) Netzwerke Frühe Hilfen eingerichtet. Aufgabe dieser Koordinierungsstellen ist die Begleitung des Aufbaus von Netzwerken Früher Hilfen, die Beförderung der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Gesundheitswesen sowie die bedarfsgerechte Entwicklung von Unterstützungsangeboten für (werdende) Familien. In Berlin ist das Netzwerk Frühe Hilfen als Teil des Netzwerkes Kinderschutz konzipiert. Von daher war es konsequent, den Berliner Notdienst Kinderschutz mit dem Aufbau der Landeskoordinierungsstelle zu beauftragen. Das Kinderschutz-Zentrum wurde aufgrund seiner reichen Erfahrung in der Qualifizierung von Fachkräften als Kooperationspartner gewählt. Im Januar 2013 hat die Landeskoordinierungs- und Servicestelle Netzwerke Frühe Hilfen die Arbeit aufgenommen. Die erste große Herausforderung bestand in der Durchführung einer berlinweiten Fachtagung als Auftaktveranstaltung. Mit 130 TeilnehmerInnen war die Veranstaltung sehr gelungen. Sie diente zum einen als Standortbestimmung der Akteure in den Bezirken, zum anderen auch als Wegweiser, welche Strukturen noch geschaffen werden sollten. Es wurde deutlich, dass die Bezirke bei Frühen Hilfen sehr unterschiedlich aufgestellt sind. Einige hatten bereits große Anstrengungen unternommen, die Jugendhilfe mehr in Richtung Prävention umzusteuern, andere standen erst am Anfang. In einigen Bezirken waren bereits Familienhebammen etabliert und bei manchen gab es auch schon eine gut funktionierende Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Gesundheitswesen. Als Ergebnis des Fachtags konnte festgehalten werden, dass die Fachkräfte hoch motiviert sind, die Netzwerke Frühe Hilfen in den Bezirken zu gestalten. In den einzelnen Berufsgruppen ist ein immenses Wissen vorhanden, das für die Arbeit im Netzwerk genutzt werden kann. Es kommt darauf an, ob es gelingt durch eine sorgfältige Koordination der Vernetzung die Motivation der Akteure aufrechtzuerhalten. Ausgehend von diesem Resümee entwickelte die LKS eine Qualifizierungsreihe für die NetzwerkkoordinatorInnen der Bezirke, damit diese ihr Netzwerk weiter ausbauen sowie Konflikten im Netzwerk 26 Kinderschutz-Zentrum Berlin

rechtzeitig begegnen können. Hier konnte die große Erfahrung des Kinderschutz-Zentrums in der Fortbildung von Fachkräften einfließen. Im Herbst 2013 fand ein zweiter Fachtag statt, der sich anlässlich der tragischen Todesfälle zweier Säuglinge dem Zugang zu schwer erreichbaren Familien widmete. In Vorträgen und Workshop wurde darüber reflektiert, wie Schwangere, die nicht in ein soziales Netz eingebunden sind bzw. ihre Schwangerschaft verleugnen, erreicht werden können. Auch an dieser Fachtagung nahmen über 120 Personen teil. 2014 erarbeitet die Landeskoordinierungsstelle gemeinsam mit NetzwerkkoordinatorInnen, Familienhebammen und KoordinatorInnen von Ehrenamtsprojekten Leitfäden, die eine Orientierung über Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Akteure in den Frühen Hilfen geben. Ferner stand die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Akteuren aus der Jugendhilfe mit Fachkräften der Geburtskliniken, Hebammen und KinderärztInnen im Focus. Unsere Mitarbeiterin Lotte Knoller hat dabei die Rolle der Moderation und Prozessbegleitung. Die Beteiligung des Kinderschutz-Zentrums am berlinweiten Aufbau der Netzwerke Frühe Hilfen gab auch für unsere Beratungsstellen wichtige Impulse, die Angebote Früher Hilfen weiterzuentwickeln. Jahresbericht 2013/14 27

Netzwerkeln im Sozialraum am Beispiel einer Familie Die Begriffe Vernetzung und Netzwerkarbeit sind in aller Munde. Insbesondere im Zusammenhang mit den Frühen Hilfen wird Netzwerkarbeit von der Bundesregierung gefordert und mit Geldern nach dem neuen Bundeskinderschutzgesetz gefördert ( 3 des Bundeskinderschutzgesetzes vom Januar 2012). Was ist mit Netzwerken gemeint und welchen Sinn haben sie in der Praxis? Anhand eines Fallverlaufs soll dies betrachtet werden. Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes Hohenschönhausen/Lichtenberg meldet sich telefonisch, um gemeinsam darüber nachzudenken, ob unser Projekt von Anfang an eine geeignete Hilfe für eine von ihr betreute junge Frau sein könnte. Sie ist der Sozialarbeiterin schon lange bekannt, da diese sie bereits seit deren Jugendzeit begleitet. Frau V. ist im sechsten Monat schwanger und sucht Unterstützung für die anstehende neue Lebensphase. Der Vater des Kindes, Albaner mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus, sei oft nicht da und die Partnerschaft schwer belastet. Frau V. selbst habe schwierige Erfahrungen in ihrer Herkunftsfamilie gemacht, viele Trennungen erlebt und sei sehr unsicher, ob sie den Aufgaben als Mutter gewachsen ist. Wir vereinbaren einen Termin zu dem die Sozialarbeiterin Frau V. in unsere Beratungsstelle begleitet und es zu einem Erstkontakt und einer Auftragsklärung kommt. In den ersten Beratungsgesprächen wird deutlich, wie sehr die schwierige Partnerschaft Frau V. belastet. Versuche, mit dem Kindesvater ins Gespräch zu kommen, scheitern. Um Geld zu verdienen arbeitet er bei Verwandten in Stuttgart. Der ungeklärte Aufenthalt bewirkt, dass er sich nicht mit den Themen des Vaterwerdens auseinandersetzen möchte, da das Risiko sein Kind nicht groß werden zu sehen, hoch ist. Um emotionalen Verletzungen aus dem Weg zu gehen, ergreift er die Flucht. Es wird klar, dass die Mutter allein die Hauptsorge für das Kind tragen wird. Neben der Trauer um den Verlust des Partners wird Frau V. zu Themen ihrer Schwangerschaft beraten und erhält durch die Gruppe Tipps zu Gynäkologen, Entbindungskliniken, Hebammenpraxen und notwendiger, aber auch unnötiger Babyausstattungen etc. Vieles kann Frau V. selbständig bewerkstelligen, in manchem benötigt sie aber Unterstützung. So erweist sich die Suche nach einer Hebamme als fast aussichtslos, die Kinderärzte haben ihre Kapazitäten bereits überschritten und nehmen keine Patienten mehr auf, die Zahlungen vom Jobcenter lassen auf sich warten und reichen nicht aus, um notwendige Anschaffungen für das Kind tätigen zu können. Frau V. fühlt sich abgewimmelt und sie resigniert. Gemeinsam ma- 28 Kinderschutz-Zentrum Berlin