Peter-Ulrich Merz-Benz Proseminar: Zur Soziologie der Identität Modul: Veranstaltung: Lehrpersonen: Theorien und Debatten Proseminar Prof. Dr. Peter-Ulrich Merz-Benz Zeit: Donnerstag, 17.15-19.00 Uhr Raum: MIS03 3013 1. Abstract Ärgerlich aber wahr: Wir sind als Individuen Tatsache und als Individuen sind wir gleichzeitig Tatsache der Gesellschaft. Mit dieser einfachen Feststellung bezeichnet Ralf Dahrendorf auch und gerade den Kontext, innerhalb dessen Identität als soziologische Kategorie ausgearbeitet werden muss. Das Individuum steckt in einem Zwiespalt, aus dem es kein Entrinnen gibt: In seinem Zusammenhandeln mit anderen, in seiner Teilnahme an Interaktionsprozessen sucht es sich in seiner Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit zu präsentieren, ganz selbstverständlich entsprechend der bekannten Aussage Baron Ochs von Lerchenau in Richard Strauss Oper Der Rosenkavalier : Man ist halt, was man ist, und braucht s nicht zu beweisen, und es kann dies doch nur, indem es gleichzeitig den Anforderungen der anderen,
den von den anderen gehegten Vorstellungen, was,es als Gegenstand von Typisierungen, als Objekt von Rollenerwartungen,zu sein hat, zu entsprechen sucht. Individualität ist etwas, das es in sozialen Verhältnissen und durch diese zu realisieren, durch den Wechsel des sozialen Geschehens hindurch zu wahren und angesichts inkonsistenter, mitunter sogar widersprüchlicher Erwartungen zu bewahren gilt. Dies ist die Realität, welche mittels der soziologischen Kategorie der Identität denkbar und darstellbar gemacht werden soll. Identität als Begriff für das, was an der Tatsache des Individuums als Tatsache der Gesellschaft Dasselbe ist. Der Weg beginnt bei den Anfängen der soziologischen Theorie, Emile Durkheims Vermittlung von Individualität und Ordnung am Leitfaden der sozialen Arbeitsteilung und Georg Simmels Begriff von Persönlichkeit als individuelle Kreuzung der sozialen Kreise, und erreicht in der amerikanischen Soziologie der 1950er und 1960er Jahre, näherhin in der Rollentheorie, einen ersten,höhepunkt. Hier sind vor allem die Theorien von Talcott Parsons, Erving Goffman und heute leider kaum mehr bekannt, doch unter systematischen Gesichtspunkten noch immer aktuell Ralph H. Turner und Gregory P. Stone zu nennen. Mit diesen Theorien wird gleichsam das gesamte Spektrum vom,role-taking zum,role-making eröffnet, von der Identität als bloße Erfüllung von Rollenerwartungen bis hin zur Identität als kreative (Aus-)Gestaltung der Rollenerwartungen durch das Individuum mitsamt den dazwischen liegenden,nuancierungen. Mindestens ebenso bedeutend wie die Rollentheorie ist schließlich die Interaktionstheorie, wobei selbstverständlich an erster Stelle George Herbert Mead mit seinem Konzept von I und me und erneut Erving Goffman zu erwähnen sind, aber auch Anselm Strauss und Tamotsu Shibutani sowie für den deutschen Sprachraum Lothar Krappmann. Identität ist für die Interaktionstheorien um nur die bedeutendste Kennzeichnung zu erwähnen ein fortdauernder Prozess der Identitätsfindung. Sich mit diesen Theorien auseinanderzusetzen, im Bemühen, nach und nach die Grundzüge einer soziologischen Kategorie der Identität herauszuarbeiten, ist das Ziel dieses Proseminars. 2. Anspruch auf ECTS-Punkte Leistungskontrolle:
Pflichtlektüre Kursbesuch Aktive Teilnahme Präsentation Handout Lesen der Pflichtlektüre (ein Text pro thematische Sitzung) Regelmäßige Teilnahme an der Veranstaltung (Absenzen sind zu entschuldigen) Aktive Mitarbeit während der Veranstaltung (Diskussionen) Mündliche Präsentation eines Vergleichstextes (Einzeloder Gruppenarbeit, 20-30 Minuten) Abgabe eines Handouts zur mündlichen Präsentation 3 ECTS
3. Programm 23. Februar 2017: Identität als Gegenstand der Sozialwissenschaften Einführung/Vorstellung des Programms I Spuren eines soziologischen Identitätsverständnisses ein Blick auf die Klassiker 2. März 2017: Georg Simmel: Persönlichkeit als Kreuzungspunkt sozialer Kreise - Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen [5. Kapitel: Über die Kreuzung socialer Kreise]. In: Georg Simmel: Gesamtausgabe, Band 2. Aufsätze 1887 bis 1890; Über sociale Differenzierung; Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 237-257. 9. März 2017: Emile Durkheim: Persönlichkeit als Bestandteil sozialer Solidarität - Durkheim, Emile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, [S. 109-117, 155-184]. II Zur Soziologie der Identität theoretische Grundlagen 16. März 2017: George Herbert Mead I: Die gesellschaftlichen Grundlagen der Identität und die Unterscheidung von I und me - Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Teil III: Identität [18.-22.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 177-221.
23. März 2017: George Herbert Mead II: Die Verwirklichung von Identität als gesellschaftlicher Prozess im Individuum - Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Teil III: Identität [23.-29.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 222-271. 30. März 2017: Talcott Parsons: Die gegenseitige Durchdringung von Persönlichkeit und Gesellschaftsstruktur und der Begriff der Rolle - Parsons: Sozialstruktur und Persönlichkeitsentwicklung: Freuds Beitrag zur Integration von Psychologie und Soziologie. In: Talcott Parsons: Sozialstruktur und Persönlichkeit. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1964, S. 99-139. III Rollenhandeln als Verwirklichung von Identität 6. April 2017: Ralph H. Turner: Rollenübernahme als ein Prozess, in dem die Handelnden ihre Interaktion organisieren - Turner, Ralph H.: Rollenübernahme: Prozeß versus Konformität. In: Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität. Herausgegeben von Manfred Auwärter, Edit Kirsch und Klaus Schröter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 115-139. 13. April 2017: Edward Gross und Gregory P. Stone: Die soziale Transaktion von Identitäten als Voraussetzung des Rollenhandelns - Gross, Edward/Stone, Gregory P.: Verlegenheit und die Analyse der Voraussetzungen des Rollenhandelns. In: Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität. Herausgegeben von Manfred Auwärter, Edit Kirsch und Klaus Schröter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 275-306. 27. April 2017: Erving Goffmann: Das Selbst als Selbstdarstellung des Einzelnen im Rollenhandeln - Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper 1969, S. 19-71.
III Verwirklichung von Identität in Interaktionsprozessen 11. Mai 2017: Anselm Strauss: Sprache und Identität oder die Konstruktion und Revision von Identität durch Benennung - Strauss, Anselm: Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 13-44. 18. Mai 2017: Lothar Krappmann: Herstellung von Identität durch Beteiligung an Interaktionsprozessen - Krappmann, Lothar: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart: Klett 1969, S. 32-70. 25. Mai 2017: Eine vorläufige Bilanz: Das Zusammenkommen von Rollenhandeln und Interaktion im Prozess der Sozialisation - Krappmann, Lothar: Neuer Rollenkonzepte als Erklärungsmöglichkeit für Sozialisationsprozesse. In: Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität. Herausgegeben von Manfred Auwärter, Edit Kirsch und Klaus Schröter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 307-331.