Gottgefällige Tat oder Kritik eines Abweichlers?

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Transkript:

Gottgefällige Tat oder Kritik eines Abweichlers? Ein Gespräch mit Rolf Verleger ZgK: Du hast die Politik der israelischen Regierung und den Libanon-Krieg kritisiert und dabei heftige Reaktionen aus den jüdischen Gemeinschaften und seitens des Zentralrats geerntet. Rolf Verleger: Ich habe nicht den Zentralrat als solchen kritisiert. Dazu bin ich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft mit meiner Kritik am Libanon- Krieg viel zu sehr in der Minderheit. Mir ging es darum, meine Meinung in einer Zeit zu sagen, in der mir das geboten erscheint. ZgK: Inhaltlich sagtest Du, dass Israel mit seiner Politik im Libanon und gegenüber der palästinensischen Regierung in eine Sackgasse laufen und dass das Judentum mit hinein gezogen würde. R.V.: Wer die jeweilige israelische Regierungspolitik mitträgt und sich in keiner Weise von dieser distanziert, der wird auch mit der jeweiligen israelischen Regierungspolitik identifiziert. In dem Sinne wird man auch mit hineingezogen. Das Wesentliche ist: Israel schafft mit dieser Politik keinen Frieden und keine Existenzsicherung. Stattdessen schürt es in der Region immer neu Hass und Gewalt. Das führt dazu, dass die Gegner je nach politischer Kultur mit Terrorakten auch gegen jüdische Einrichtungen auf der ganzen Welt vorgehen. Im übrigen ist Judentum eine Religion mit moralischen Werten. Doch diese moralischen Werte sind nur noch mit der Lupe aufzufinden, wenn man sich im aktuellen Geschehen mit Gewaltmaßnahmen identifiziert und diese für alternativlos erklärt. ZgK: Zwei Direktoriumsmitglieder des Zentralrats der Juden, Elvira Noa und Grigori Pantijelew, kritisieren das breite Echo, das Deine Meinungsäußerungen fanden. Sie schrieben: Die tapferen Journalisten beschäftigen sich mit der Suche nach dem guten Juden R.V.: Um was es eigentlich geht, hat einer der vielen Anrufer auf den Punkt gebracht: Das war der wichtigste Beitrag gegen Antisemitismus seit langem. Das war die wesentliche Motivation, weswegen ich überhaupt an die Öffentlichkeit ging. Die Mehrheit der Juden, die mich kritisieren, scheint das nicht zu begreifen. Sie sehen nicht, wie wichtig es ist, deutlich zu machen, dass in der jüdischen Gemeinschaft auch offen diskutiert wird.

Immer wieder wird gesagt, dass man einen Unterschied machen müsste zwischen einer Kritik an der Politik Israels und einer Gegnerschaft gegen die Juden als solche, dem Antisemitismus. Tatsächlich aber ist es so, dass die große Mehrheit der Juden in Deutschland und der Zentralrat als die politische Vertretung keinen Spaltbreit frei lässt zwischen sich und der aktuellen Politik des Staates Israel. Das führt dazu, dass so wie in Trier jüngst geschehen jüdische Kulturveranstaltungen in diesen Zeiten als nicht opportun angesehen werden. Als ich das las, sagte ich zu mir: Da läuft etwas falsch. Hier wird Judentum mit der Politik des Staates Israel identifiziert. Vor einigen Monaten diskutierte ich auf einer interkonfessionellen Veranstaltung als einziger Jude zusammen mit fünf Christen und zwanzig türkischen Muslimen. Es ging um die Mohamed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung. Ich sagte damals, man würde von außen wenig merken, dass der Islam wirklich den Terrorismus, der in seinem Namen ausgeübt wird, verurteilt und dass man gerne mal mitbekommen würde, dass zu dem Thema ernste Diskussionen geführt würden. Ich möchte jetzt die Politik Israels nicht gleichsetzen mit den Taten von Selbstmord-Terrorristen. Im Prinzip gilt aber natürlich: Was ich von anderen verlange, muss ich auch selbst einlösen. Und Außenstehenden deutlich machen, dass es auch zum Thema der konkreten Politik der israelischen Regierung Diskussionen innerhalb des Judentums gibt. ZgK: Der Vorsitzende der sächsischen jüdischen Gemeinden, Heinz Joachim Aris, erklärte in einer Reaktion auf Deine Positionen: Die Solidarität mit Israel gehört zu unserer heiligen Pflicht, die in keiner Situation von Juden zur Disposition gestellt werden darf. R.V.: Ich achte Herrn Aris sehr. Und ich stimme seiner Aussage zu. Er sagt ja nicht, dass es nicht auch noch andere Pflichten geben würde. Es ist auch mir ein tiefes Bedürfnis, den Staat Israel zu verteidigen. Doch ich denke, dass diejenigen, die die israelische Militärpolitik verteidigen, dieser Idee schaden. Es wäre vielmehr in Sinne dieses Ziels, ein friedliches Übereinkommen mit seinen Nachbarn zu suchen anstatt auf die militärische Stärke zu vertrauen. ZgK: Wie waren die Reaktionen insgesamt? R.V.: Von den weit über hundert Reaktionen überwiegend E-Mails, waren die meisten positiv. Auch bei den Reaktionen, die von Juden kamen, überwog die Zustimmung. Letzteres ist allerdings sicher nicht repräsentativ. Diejenigen Jüdinnen und Juden, die mir auf Grundlage der

Mehrheitsmeinung in den jüdischen Gemeinschaften schrieben, waren sehr emotional, voller Wut, auch voll von Hass gegenüber dem Abweichler. Aus den Reaktionen derjenigen, die positiv reagierten, geht hervor, dass sehr gut verstanden wurde, worum es mir geht. Es waren fast ausschließlich Menschen, die differenziert argumentierten, Menschen, für die Moral, Werte, ja auch Freundschaft zu Israel eine wichtige Rolle spielt. Es gab viel Dankbarkeit dafür, dass einmal gesagt wird, dass mit dieser Politik die Existenz des Staates Israel nicht gesichert, sondern eher gefährdet wird. Da wurde oft das Gefühl zum Ausdruck gebracht, dass meine Stellungnahme von einem Zwang befreit, in dieser Frage nicht zu den Werten stehen zu können, die im sonstigen Leben Gültigkeit haben: dass Frieden besser ist als Krieg, dass Konflikte besser friedlich und durch Verhandlungen als mit Krieg und Gewalt zu lösen sind. ZgK: Uri Avnery hat Deine offen geäußerte Kritik an der Militärpolitik der israelischen Regierung in einer Mail an Dich als eine Mitzwa, als ein gottgefälliges Werk, bezeichnet. Das ist dann aber doch ein ganz anderer Akzent. Gibt es eine Begründung der Friedensliebe aus der jüdischen Tradition? R.V.: Es gibt eine Geschichte aus dem Talmud, Traktat vom Schabbat. In ihr wird erzählt, dass ein römischer Besatzungssoldat im damaligen Israel zu den Hohen Gelehrten kam und sagte, er wolle zum Judentum übertreten. Er kam dann zu Hillel. Das ist nicht irgendwer. Das ist derjenige, dessen Lehrhaus praktisch immer Recht erhielt und dessen Auslegung der meisten religiösen Gebote sich durchsetzte. Der Besatzungssoldat kam also zu Hillel und sagte, er wolle übertreten, wobei ihm das Judentum in der Zeit beigebracht werden müsse, in der er auf einem Bein stehen könne. Er stellte also die Frage nach dem Wesen des Judentums. Hillel sagte: Das ist keine Schwierigkeit: Was Dir verhasst ist, tue Deinem Nächsten nicht an. Das ist das Wesentliche. Der ganze Rest ist Auslegung. Geh hin und lerne! Es gibt in der Debatte um meine kritische Position oft die Aussage, das Volk Israel habe in Stunden der Not immer zusammen gestanden. Ich hätte mich mit meiner öffentlichen Kritik darüber hinweggesetzt. Ich kann dazu nur sagen: Die Bibel ist voll davon, dass es Außenseiter gab, die sich von einem eigenen moralischen Standpunkt aus gegen die jeweilige Mehrheitsmeinung wandten. Diese Propheten sollen uns ja ein Vorbild sein. Und in diesem Sinne kann man nur sagen: Es ist keine jüdische Tradition, mit dem Strom zu schwimmen. Tradition der Propheten war es, ihre Meinung klar und deutlich zu sagen, auch wenn sie dem jeweiligen König von Israel überhaupt

nicht gefiel. ZgK: Du hast Dich vor drei Jahren in eine Debatte eingeschaltet, die in Attac geführt wurde und von Deiner Position aus die Forderung gerechtfertigt, dass Waren aus den von Israel besetzten Gebieten zu boykottieren sind. Das mag in Frankreich und für Dich als aktives Mitglied der jüdischen Gemeinschaft vertretbar sein. Für die deutsche Linke taucht aber sofort das Problem auf, dass eine Kampagne, die mit der alten NS- Parole Kauft nicht bei Juden! in Verbindung gebracht werden kann, untauglich ist und die spezifische deutsche Verantwortung für den Holocaust nicht reflektiert. R.V.: Wir zwei führen die Debatte sicherlich von zwei verschiedenen Polen aus. Es mag sein, dass eine solche Kampagne in Deutschland und für eine deutsche Linke nicht führbar ist. Allerdings wurde die Debatte damals in attac nicht mit dem Argument der spezifischen deutschen Verantwortung geführt. Es wurden damals seitens des Kritikers dieser Losung des DGB- Kreisvorsitzenden von Göttingen prinzipielle Argumente ins Feld geführt. Prinzipiell meine ich jedoch, dass Israel Druck von außen braucht, um sich dem Weg des Friedens zuzuwenden. Derzeit ist eine Friedenspolitik in Israel kaum mehrheitsfähig. ZgK: Es ist allerdings ein Fortschritt, dass die deutsche Linke ihre spezifische Verantwortung gegenüber der jüdischen Bevölkerung zumindest in großen Teilen zur Kenntnis nimmt. Das war in meiner Jugend nicht der Fall. Ich werde heute noch schamrot, wenn ich daran denke, dass ich Mitte der sechziger Jahre als 15- und 16jähriger oft in Eurem Haus in Ravensburg zu Gast und mit Deinem Bruder Peter gut befreundet war. Doch die deutsche Verantwortung für die Shoa, ja der Holocaust als solcher, waren für mich bzw. mein Elternhaus schlicht kein Thema; nicht existent. R.V.: Meine Eltern waren damals sicher tief verletzt. Auf der anderen Seite wollte mein Vater eine neue Familie aufbauen und ein neues Leben gründen. Und er wollte seine Kinder mit der Vergangenheit nicht belasten. Für die Juden selbst war dieses Schweigen damals ebenso von Nachteil wie vorteilhaft. Eine öffentliche Anerkennung des Leidens wäre natürlich richtig gewesen. Auf der anderen Seite wollten wir Juden damals endlich wieder ein normales Leben führen. Es hätte allen gut getan, wenn das Thema damals bereits behandelt worden wäre. 1982 hatte ich diesbezüglich in Mannheim, in der Innenstadt ein

interessantes Erlebnis. Ich hatte meinen kleinen Sohn auf dem Fahrrad und wir stießen auf eine Demonstration gegen die israelische Invasion im Libanon und das Massaker an den Flüchtlingen in den Lagern Sabra und Shatila. Da der Protest von mir geteilt wurde, schloss ich mich mit dem Rad der Demo an. Bis ein Demoteilnehmer direkt neben mir zu einem Passanten, der am Straßenrand stand, brüllte: Schick Deinen Begin doch nach Auschwitz. Da gehört er hin. Ich bin ausgerastet und dem Demoteilnehmer mit dem Fahrrad ans Bein gefahren. Der versuchte dann, das zu erklären. Aber die Erklärung machte alles noch schlimmer. Er habe nicht gemeint, dass (der israelische Ministerpräsident) Begin als Opfer nach Auschwitz gehöre. Vielmehr führe sich Begin wie ein KZ-Aufseher auf. Deshalb passe er gut dorthin. Ich habe den Demozug verlassen. ZgK: Avneri vertrat mach der jüngsten Wahl die These, dass es in der israelischen Bevölkerung eine Friedenssehnsucht geben würde. Dieser Optimismus scheint sich nicht bestätigt zu haben. R.V.: Man muss unterscheiden zwischen der praktizierten Politik und den Stimmungen in der Bevölkerung. In der offiziellen Politik Israels geht es seit Yitzak Rabin nur noch bergab. Es zählt fast ausschließlich die Politik der militärischen Stärke. Gleichzeitig gibt es in der Bevölkerung durchaus den Willen zum Frieden. Zumindest war dies vor dem jüngsten Libanon- Krieg so. ZgK: Kann es sein, dass die Bilanz dieses neuen Kriegs in der israelischen Bevölkerung zu einem Nachdenken führt? R.V.: Offensichtlich wurden die Kriegsziele nicht erreicht. Der Einfluss der Hisbollah im Libanon, in Palästina und in der arabischen Welt hat sich enorm vergrößert. Und selbst wenn es für den Norden Israels mit Hilfe einer Friedenstruppe im Südlibanon eine Entspannung geben sollte, so reicht das natürlich bei weitem nicht für eine friedliche Zukunft aus. Der Kern des Problems liegt woanders. Israels Regierung muss in ernsthafte Verhandlungen mit der Regierung der Palästinenser treten. Das heißt, in Verhandlungen mit der demokratisch gewählten Hamas-Regierung. Man kann nur mit seinen Feinden Übereinkünfte für den Frieden treffen. Mit seinen Freunden braucht man darüber nicht zu verhandeln. ZgK: Du bist Vorsitzender des Landesverbands der jüdischen Gemeinschaften Schleswig-Holsteins. Möglicherweise wirst Du wegen

Deiner Kritik dieses Amt verlieren. Wie groß ist Deine Identifikation mit diesem Job? R.V.: Die ist sehr groß, auch weil ich sehr viel dafür gearbeitet habe. In Lübeck gab es bis Mitte der neunziger Jahre kein jüdisches Leben mehr. Mit der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion stellten sich neue Aufgaben. Ignaz Bubis, der mir ein großes Vorbild ist, erklärte es zur Aufgabe der jüdischen Gemeinschaften in Deutschland, die Menschen, die nun neu zu uns kamen, zu integrieren und die jüdischen Gemeinden neu aufzubauen. Ich fühlte mich da gerufen. In Lübeck gab es zusätzlich das Problem, dass es vor Ort keine Ansprechpartner gab und dass damals alles von Hamburg aus geregelt wurde. Als es 1994 und 1995 die Anschläge auf die Synagoge in Lübeck gab, da reisten hier immer jüdische Vertreter aus Hamburg ein, um die wirklich beeindruckenden Solidaritätsbekundungen der Lübecker Bürger huldvoll entgegenzunehmen. Doch danach waren sie wieder weg. Es gab keinen lokalen Ansprechpartner. Das war kein akzeptabler Zustand. Ich habe mich damals maßgeblich mit engagiert, in Lübeck autonome Strukturen aufzubauen, ohne die Gemeinde zu spalten. 2001 konnte in Lübeck die Jüdische Gemeinde e.v. gegründet werden; 2005 hat dieser Verein die gesamte Verantwortung für das jüdische Leben in Lübeck übernommen, was dann auch zu einem Landesverband Schleswig- Holstein der Jüdischen Gemeinschaften führte. In diesen Prozess floss sehr viel Energie von mir. ZgK: Irgendwo sagst Du, das Judentum sei für Dich ein Stück Heimat. R.V.: Das Judentum ist für mich manchmal meine enge Heimat, aus der ich in die weite Welt ausbrechen will. Es ist zugleich die warme Heimat, in der ich viel gelernt habe, die mir viel emotionale Sicherheit gibt, in die ich immer wieder gern zurückkehre. Das hängt wesentlich mit meinem Elternhaus zusammen. Meine Eltern haben mir in der Provinz, in Ravensburg, wo es ja kaum andere Juden gab, all dies vermittelt. Das Gespräch wurde am 16. August in Lübeck geführt. abgedruckt in Zeitung gegen den Krieg (ZgK), September 2006 Für ZgK: Winfried Wolf;