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Drittes Buch: L Université 10. Magier des Eisens 93
8 Das jetzige Paris hat (...) keinen allgemeinen Stilcharakter. Es ist eine Mustersammlung aus mehreren Jahrhunderten, und die schönsten dieser Muster sind verschwunden. Die Hauptstadt vergrößert sich nur in der Häuserzahl, und in was für Häusern! Wenn es mit Paris so fortgeht, wird es sich alle fünfzig Jahre erneuern. (...) Unsere Väter besaßen ein Paris aus Stein, unsere Kinder werden eins aus Gyps bekommen. (Victor Hugo, Notre-Dame de Paris ) und Gringoire sehen einander an und fragen sich, wo sie als nächstes suchen sollen, als Gringoires Blick auf einmal am Horizont verharrt, wo er den Eiffelturm entdeckt. Pierre Gringoire (den Blick weiterhin gen Süden gerichtet) Vielleicht sollten wir an einem Monument suchen, das Notre-Dame an Bedeutung und Auffälligkeit gleichkommt. Und woran hast du gedacht? Der Eiffelturm? Gringoire zeigt nur mit dem Finger in die besagte Richtung. 94
Pierre Gringoire Ja, der ist mir schon heute Morgen aufgefallen, als ich von Notre-Dame aus Paris überblickte. Was ist das für ein Gebilde? Und wozu dient es? Und wie, um alles in der Welt, ist es den Architekten gelungen, es zu errichten? (lachend) So viele Fragen auf einmal! Leider weiß ich auch nicht auf alle eine Antwort. Gehen wir doch einfach hin. Vielleicht ist Quasimodo ja wirklich dort. Außerdem hat man von der Spitze des Eiffelturms aus einen fantastischen Ausblick auf die Stadt. Pierre Gringoire (staunend) Kann man etwa dort hinaufsteigen? Natürlich! Und die beiden begeben sich erneut zur Seine, überqueren sie aber diesmal, um auf das linke Ufer zu gelangen. Nach längerem Marsch sind sie endlich am Ziel. Sie befinden sich direkt unter dem Eiffelturm, dessen kunstvolle Verstrebungen sich über ihnen mächtig und eindrucksvoll zu großen Bögen formen. Pierre Gringoire (überwältigt) Dass solch eine Konstruktion überhaupt möglich ist... 95
Vor den Aufzügen warten lange Schlangen von Touristen. Aber und Gringoire brauchen nicht zu warten. Da sie als Geister überhaupt keinen Platz einnehmen, stellen sie sich einfach in den überfüllten Aufzug und fahren gratis mit. Die Fahrt dauert eine Weile, und als sie auf der ersten Aussichtsplattform angelangt sind, müssen sie in einen zweiten Fahrstuhl umsteigen, der sie bis ganz nach oben bringt. Früher musste man das letzte Stück über eine eiserne Wendeltreppe nach oben steigen. Da meldet sich ein Herr zu Wort, der ebenfalls zwischen den Touristen steht, dessen Aufzug aber seit etwa 100 Jahren aus der Mode ist. Ganz recht, gnädige Frau. Die vier zusätzlichen Fahrstühle wurden erst 1983 gebaut. Bis dahin mussten die Besucher das letzte Stück zu Fuß erklimmen... was viele davon abgehalten hat, Paris von ganz oben zu betrachten. Aber ich will mich nicht beklagen. Ursprünglich sollte der Turm nämlich nur 20 Jahre hier stehen dürfen und dann wieder abgerissen werden. Aber wegen seines Nutzens, den er aufgrund seiner Höhe für die Kommunikation darstellt, durfte er stehenbleiben. Pierre Gringoire Dann sind Sie wohl der Architekt dieses faszinierenden Bauwerks? 96
Nicht ganz. Aber der Architekt Stephen Sauvestre hat für mich und meine Firma gearbeitet. (Der Fahrstuhl hält an.) So, wir sind da! Wir wollen uns draußen weiter unterhalten., Gringoire und Eiffel steigen zusammen mit den Touristen aus dem Fahrstuhl aus und betreten die Aussichtsplattform. Gringoire läuft sofort zum Geländer und blickt hinunter. Eiffel und stellen sich neben ihn. Pierre Gringoire (aufgeregt) Von hier aus hat man ja eine bessere Sicht als ein Vogel, der über die Stadt fliegt! Wie hoch ist das? 276 Meter. Insgesamt hat der Turm eine Höhe von 300 Metern. Pierre Gringoire 300 Meter? Unfassbar! Das höchste Gebäude, das ich bisher kannte, war Notre-Dame. Notre-Dame stand schon, als Sie gelebt haben? Verzeihen Sie meine Unwissenheit, aber ich war noch nie besonders gut darin, historische Kostüme einzuordnen. Die Kathedrale war eine zeitlang sehr gefährdet. Die Schäden, die während 97
der Revolution von den Gottlosen angerichtet wurden, waren nicht unerheblich und der Bau drohte zu verfallen. Doch der Schriftsteller Victor Hugo schürte mit seinem Roman Notre-Dame de Paris das allgemeine Interesse am Erhalt der schönen Kathedrale, und so wurde sie von Grund auf erneuert. Ja, unser Schöpfer. Davon haben wir schon gehört. (runzelt die Stirn) Schöpfer? Mit wem habe ich denn die Ehre, wenn ich fragen darf? Pierre Gringoire Ich bin Pierre Gringoire und das ist. Wir sind auf der Suche nach dem Glöckner Quasimodo, von dem wir uns Hilfe erhoffen. Ihr habt ihn nicht zufällig in der Nähe gesehen? Tatsächlich? Ihr seid die Figuren aus Hugos berühmtem Roman? Äußerst interessant! Und ihr wisst nicht, wo Quasimodo sich aufhält? Ist er denn nicht in seinem geliebten Glockenturm? Den hat er doch zu Lebzeiten kaum verlassen. Nein, leider nicht. 98
Habt ihr denn auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass er vielleicht gar nicht mehr unter uns weilt? Vielleicht ist er mit seinem Schicksal ins Reine gekommen und hat keinen Grund, auf Erden zu wandeln. Gringoire und sehen sich skeptisch an. Wäre das vorstellbar? Pierre Gringoire Aber warum hat mich die große Glocke dann dazu aufgefordert, ihn zu suchen? Wenn er erlöst ist, können wir doch gar nicht mehr mit ihm in Kontakt treten. Es könnte doch sein, dass ihr herausfinden sollt, wie er sich mit seinem Schicksal versöhnt hat, um von ihm zu lernen. Ich bin kein Experte in Glaubensfragen; damit kennt ihr euch besser aus. Ich bin eher Techniker. Aber soweit ich weiß, ging es doch in Hugos Roman auch um die Inquisition. Und genauso, wie der Eiffelturm heute ein Symbol für den technischen Fortschritt ist, war Notre-Dame zu eurer Zeit ein Symbol für Glauben und Kirche. Ihr müsst bloß herausfinden, was für eine Rolle das für euer Leben gespielt hat. und Gringoire sehen sich an. Wer hätte gedacht, dass sie vom Erbauer des Eiffelturms wertvolle Ratschläge erhalten können? Sie bedanken sich und treten die Rückfahrt auf den festen Boden der Tatsachen an. 99