Strafrecht Erfordert das Beschleunigungsgebot eine Umgestaltung des Strafverfahrens? Verständigung Fristsetzung für Beweisanträge Beschränkung der Geltendmachung von Verfahrensgarantien Thesen zum Referat von Vors. Richter am LG Peter Faust, Berlin 1. Wichtigste Voraussetzung für die Beschleunigung von Strafverfahren ist eine ausreichende personelle und materielle Ausstattung der Justiz. Dazu gehört auch die nachhaltige Fort bildung des richterlichen und nichtrichterlichen Personals. Änderungen der Strafprozessordnung sind zu diesem Zweck nur bedingt und allenfalls punktuell geeignet. 2. Eine gesetzliche Regelung, die bei überlanger Verfahrensdauer Entschädigungsansprüche gewährt, kann der schleichenden Auszehrung der Justiz durch Einsparungen bei der personellen und materiellen Ausstattung entgegenwirken und ist daher zu begrüßen. 3. Vorhandene und bewährte Instrumente wie die Beschränkung des Verfahrensstoffes und klare und sinnvolle Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten dienen der Verfahrensbeschleunigung mehr als Änderungen an prozessualen Einzelregelungen. 4. Das Beweisantragsrecht muss grundsätzlich unbefristet bleiben. Die Fristsetzung für die Stellung von Beweisanträgen ist nur in (selten) Einzelfällen der Prozessverschleppung ein brauchbares und sinnvolles Instrument. 5. Absprachen sind in schwierigen Umfangsverfahren zur Entlastung der Gerichte dienlich und bei Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben sinnvoll. 6. Die Verdrängung von Nichthaftsachen bedarf besonderer Aufmerksamkeit; sie ist nur durch bessere Ausstattung der Justiz zu vermeiden. 26
Thesen zum Strafrecht Thesen zum Referat von Generalbundesanwältin Prof. Monika Harms, Karlsruhe/Halle 1. Das Beschleunigungsgebot rechtfertigt keine weite Anwendung der Absprachen im Strafverfahren und erst recht keinen Systemwechsel zu einem adversatorischen Verfahren. 2. Die Absprachenpraxis führt zur Auflösung der Ordnungsfunktion des Strafprozessrechts. 3. Diese Systemverschiebung ist mit wesentlichen Verfassungsgrundsätzen und verbürgungen unvereinbar; namentlich mit der Pflicht zur Sachaufklärung, der Gewährleistung schützender Formen des Strafverfahrens, den Grundsätzen der Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und des gesetzlichen Richters sowie dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. 4. Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verteidiger werden von Funktionsträgern innerhalb eines gewachsenen und ausgewogenen Systems und Organen der Rechtspflege zu bloßen Verhandlungspartnern degradiert. Dies beeinträchtigt dauerhaft Aufgabe, Selbstverständnis und öffentliches Ansehen der Strafjustiz. 5. Auch wegen ihrer Eingriffstiefe erfordert die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion grundsätzlich die Einhaltung des herkömmlichen Strafverfahrens. 6. Absprachen betreffen in erster Linie Verfahren, die tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten aufweisen; dies verstärkt die Tendenz hin zu einem Zwei-Klassen-Strafprozessrecht. 7. Die gesetzliche Regelung zur Verständigung im Strafverfahren beschleunigt den Prozess hin zu einer Ersetzung des Regelverfahrens durch das Absprachenverfahren. 8. Einer solchen Entwicklung ist dringend Einhalt zu gebieten; die gesetzliche Einführung eines adversatorischen Verfahrens als deren Endpunkt ist abzulehnen. 9. Als unmittelbare Maßnahme bedarf 257c StPO einer verfassungskonformen, stark einschränkenden Auslegung: a) Voraussetzung einer Verständigung muss ein Geständnis sein, das qualifiziert ist und dem Gericht die Möglichkeiten der Überprüfung bietet; b) Das Merkmal der geeigneten Fälle bedarf der Präzisierung und Restriktion; c) Informelle Verständigungen, welche die Vorgaben von 257c StPO nicht erfüllen, und Umgehungen sind unzulässig; d) Ein Rechtsmittelverzicht ist auch bei informellen Verständigungen unzulässig und unwirksam. 27
10. Darüber hinaus ist zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ein neutrales Kontrollinstrument notwendig, welches die Einhaltung der Voraussetzungen des 257c StPO, insbesondere die vorgeschriebene Form, die Geeignetheit des Falles für eine Verständigung und die hinreichende Einhaltung der Verpflichtung zur Sachaufklärung, sichert. 11. Zur Eindämmung der Verständigungspraxis und zur Beseitigung ihrer Ursachen sind weitere flankierende Maßnahmen notwendig: a) Über die vorhandenen Weisungsbefugnisse ist eine Beschränkung der Absprachenpraxis bei den Staatsanwaltschaften herzustellen; b) Einheitlichkeit und Berechenbarkeit der Rechtsprechung ist verstärkt Rechnung zu tragen; c) Vorhandenen Missbrauchsmöglichkeiten im Verfahrensrecht ist effektiv entgegenzuwirken; d) Anwendungsbreite und Komplexität des materiellen Strafrechts sind einzuschränken; e) Die Justiz ist personell und sachlich so auszustatten, dass ihre Funktionsfähigkeit gesichert ist; f) Die Fort- und Weiterbildung der Justiz ist auszubauen; g) Spezialisierungen in der Justiz sind unumgänglich. Thesen zum Referat von Rechtsanwalt Dr. Sven Thomas, Düsseldorf 1. Im Strafverfahren soll nach der Bejahung des Anfangsverdachts einer Straftat ( 152 II StPO) ein Sachverhalt in den jeweiligen Verdachts- oder Überzeugungsstufen mit dem Ziel aufgeklärt werden, ob er die Merkmale einer strafbarkeitskonstituierenden Norm erfüllt. Diese Suche nach der so begrenzten Wahrheit hat im Rahmen limitierender strafprozessualer Vorschriften zu erfolgen. Die Ermittlung der prozessualen Wahrheit ist Aufgabe des Strafprozesses. 2. Weil der Unschuldige so früh wie möglich aus einem Verdacht zu entlassen ist und für jeden Bürger, der dem Sonderopfer eines Strafverfahrens ausgesetzt ist, bis zur rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung gilt, hat er einen Anspruch auf Durchführung eines Verfahrens und der Ausübung ihm eingeräumter Abwehr- und Teilhaberechte. 3. Der Strafprozess dient der Um- und Durchsetzung des materiellen Strafrechts gegenüber dem, der für schuldig befunden wird. Dies soll durch den Grundsatz der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege verbürgt werden. Eine nur noch selektiv operierende Strafrechtspflege sieht sich dem Einwand der objektiven Willkür ausgesetzt. 28
Thesen zum Strafrecht 4. Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege unterliegt in zunehmendem Maße normativen und faktischen Einschränkungen. 4.1 Angesichts der Überproduktion von strafbarkeitsbegründenden Vorschriften Stichwort: symbolisches Strafrecht durch den Gesetzgeber ist das prozessuale System einer dauerhaften Überforderung ausgesetzt. 4.2 Das beeindruckende Dunkelfeld in vielen Deliktsbereichen (Steuerhinterziehung, Straßenverkehrsvergehen etc.) beinhaltet, dass nur ein Bruchteil von Straftaten Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren werden. 4.3 Sowohl wegen des selektiven Charakters der Verfolgung (Dunkelfeld) als auch wegen der Komplexität von Sachverhalten und Rechtsnormen und der Überlastung des strafprozessualen Systems sind Verfahrenseinstellungen nach 153, 153 a StPO die beiderseits oft gewählte Folge sie werden auch von jenen akzeptiert, die eine berechtigte Freispruchsoption geltend machen könnten. 4.4 Tendenzen zur Privatisierung der Strafverfolgung sind unverkennbar. Die Forderung nach flächendeckenden Compliance-Systemen nicht nur für große Unternehmen hat nicht allein präventiven Charakter. Vielmehr wird die Aufklärung von etwaigem strafrechtlich relevanten Verhalten in Unternehmen auf private Ermittler verlagert. Den Ermittlungsbehörden werden Erkenntnisse präsentiert, die nicht nach den Regeln der StPO gewonnen werden. 4.5 All diesen Befunden und Entwicklungen ist eigen, dass sie nicht am Ziel der Gewinnung prozessualer Wahrheit ausgerichtet sind und der Topos der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege seine Legitimationswirkung zunehmend verliert. 5. Die Installation der Verständigung im Strafverfahren ist ein weiterer Schritt zur Reduktion früher als unantastbar angesehener Verfahrensgrundsätze. Die prozessuale Wahrheit wird damit zur Disposition der Verfahrensbeteiligen gestellt. 5.1 Ziel der Regelungen der 160 b, 202 a, 212, 257 c StPO ist die Abkürzung und Beschleunigung von Verfahren und damit die Schonung der begrenzten Ressourcen des Rechtssystems. Ohne Verkürzung des Prinzips der prozessualen Wahrheit ist diese Effektivität indes nicht zu erreichen. 29
5.2 Die Beibehaltung der Aufklärungspflicht bei einem Geständnis nach 257 c StPO ist weitgehend fiktiv. Das von dem Streben nach einem kurzen Prozess und der Kalkulierbarkeit des Urteils getragene Geständnis ist allemal zweckorientiert und wäre daher überprüfungsbedürftig. Eine solche Überprüfung durch eine weitreichende Beweisaufnahme kollidiert aber mit dem Normzweck des 257 c StPO. 5.3 In der Praxis zeichnet sich bereits jetzt eine Verfahrensweise nach der Dispositionsmaxime ab. Bei einer eine Vielzahl von Vorwürfen umfassenden Anklage wird pauschal gestanden, obwohl allen Verfahrensbeteiligten klar ist, dass die Durchführung einer Beweisaufnahme zu einem differenzierten Ergebnis führen wird. Dieser Prozessgang erfährt eine Legitimation aus der Sicht der Beteiligten durch das als gerecht empfundene Gesamtergebnis. 5.4 Das Geständnis führt zu artifiziellen Sacherklärungen des Angeklagten, insbesondere hinsichtlich der subjektiven Tatseite. In Wirtschaftsstrafverfahren die in besonderem Maße einem Zwang nach Abkürzung unterliegen wird die höchst komplexe Zuschreibung des Vorsatzes (z.b. bei der Untreue) durch abgezirkelte Erklärungen ersetzt. 5.5 Das Wissen um die Abkehr vom Aufklärungsgrundsatz und den Scheincharakter einer nach der Regelung des 257 c StPO geführten Hauptverhandlung wird zur Folge haben, dass weiterhin der intransparente Weg des Deals im Beratungszimmer präferiert wird. 6. Die Vollstreckungslösung des Großen Senats des BGH (BGHSt 52, 124) hat in der Praxis der Instanzgerichte eine Ausblendung der Konsequenzen langjährig verschleppter Verfahren bewirkt. Die kosmetischen Korrekturen (2 ½ Jahre Freiheitsstrafe, von denen 4 Monate als verbüßt gelten bei 10 Jahre zurückliegenden Sachverhalten) schaffen eine Legitimationsbasis für klare Verstöße gegen den Beschleunigungsgrundsatz im Ermittlungs- und Zwischenverfahren. Die Verständigungsregelung ergänzt das Bild einer Justiz, die sich in weiten Feldern nicht mehr in der Lage sieht, den Grundsätzen des Strafprozesses Rechnung zu tragen. 30