Cordula Löffler Jens Korfkamp (Hg.) Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener

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Transkript:

Cordula Löffler Jens Korfkamp (Hg.) Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener

Erwachsenenalphabetisierung in Deutschland 19 tisierungsbewegung dar. Die Zusammenkunft von Wissenschaftlern und Praktikern und die im Folgejahr veröffentlichte Dokumentation dazu ( Für ein Recht auf Lesen, Drecoll & Müller, 1981) machten die Dimension der Problematik erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt und aktivierten die Diskussion darüber in Fachkreisen. Durch die Einbeziehung von Experten aus Großbritannien, Italien und den Niederlanden konnte zum einen die Tragweite des Problems verdeutlicht werden, zum anderen gelang durch die breit angelegte Themenstellung (Entstehung des Analphabetismus, Zielgruppen, Arbeitsfelder, Methoden, ) eine Verbindung von Theorie und Praxis, die für die weitere Entwicklung und Ausdifferenzierung der Erwachsenenalphabetisierung in Deutschland in hohem Maße impulsgebend war. Ein fünfzehn Punkte umfassender Entwurf eines Memorandums (Drecoll & Müller, 1981) setzte Maßstäbe für bildungspolitische Notwendigkeiten und praktische Erfordernisse zur Realisierung eines einlösbaren Rechts auf Lesen, die bis heute ihre Berechtigung nicht verloren haben. 1981 erschien auch die vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft beim AOB Berlin in Auftrag gegebene Studie über Alphabetisierung in der Bundesrepublik Deutschland. Aus ihr ging ein Jahr später das Buch Deutschsprachige Analphabeten. Lebensgeschichten und Lerninteressen von erwachsenen Analphabeten hervor. Die Autoren Marie-Luise Oswald und Horst-Manfred Müller griffen darin auf ihre mehrjährige Erfahrung in der Arbeit mit erwachsenen Analphabeten zurück. Ihre Darstellungen der Entstehungsbedingungen von Analphabetismus und ihre Beschreibungen der Lebensbedingungen von Analphabet/inn/en stützen sich auf Interviews mit zwölf 22 65 Jahre alten Frauen und Männern. Die Studie gewährte einen realistischen Einblick in die Lebenswirklichkeit der Betroffenen, indem sie erstmals den Aspekt der Stigmatisierung ausführlich thematisierte (Oswald & Müller, 1982). Als eine konkrete Auswirkung der Bremer Tagung kann das von 1982 bis 1985 von der Pädagogischen Arbeitsstelle (PAS) des Deutschen Volkshochschulverbandes (DVV) durchgeführte Projekt Entwicklung und Unterstützung von Maßnahmen zur muttersprachlichen Alphabetisierung an Volkshochschulen angesehen werden. Seine stark praxisorientierte Zugangsweise widmete sich zum einen der Dozentenqualifizierung und Entwicklung von Unterrichtsmaterialien. Zum anderen beförderte es das Zusammenwirken von relevanten Institutionen (Schulen, Hochschulen, soziale Dienste, Beratungsstellen, Entscheidungsträgern aus der Politik) für die Erwachsenenalphabetisierung und schuf damit in der Folge ein neues Problembewusstsein für die Situation der Betroffenen. Die Projektförderung, erneut durch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, bewirkte laut Bastian (1991, S. 7) eine öffentliche und politische Anerkennung der Alphabetisierung als Aufgabe der Erwachsenenbildung. Die genannten Anstrengungen für die Zielgruppe der nur gering alphabetisierten Menschen in Deutschland führten zu Erfolgen. Ihre Problematik wurde zunehmend bekannt und ernstgenommen, die Zahl der Lese- und Schreibkurse anbietenden Institutionen (einschließlich JVA) stieg bis 1985 auf 273 an (Fuchs-Brünning & Kreft, 1986); ca. 5.700 Teilnehmende lernten an Volkshochschulen und anderen Einrichtungen lesen und schreiben.

20 Ulrich Steuten 2.2 Die Institutionalisierung der Erwachsenenalphabetisierung (1984 1989) Am 26. Mai 1984 gründeten neun engagierte Pädagog/inn/en in Krefeld die Schreibwerkstatt für neue Leser und Schreiber. In der Satzung des im November des gleichen Jahres eingetragenen Vereins wurde als Vereinszweck die Förderung des Schreibens in der Alphabetisierung Erwachsener (Alfa-Rundbrief Nr. 1, 1985, S. 2) festgelegt. Gefördert werden sollte die Produktion und Verbreitung von schriftlichem Material, das Personen erstellt haben, die das Lesen und Schreiben lernen wollen. Darüber hinaus galt die Förderung genauso dem zugrundeliegenden pädagogischen und technischen Wissens für alle, die in der Alphabetisierung zusammenarbeiten (Alfa-Rundbrief Nr. 1, 1985, S. 2). Den ersten Vorstand des Vereins bildeten Karin André, Frank Drecoll, Ingrid Schmidt-Berberich, Roswitha Stenzel und Annette Stock. Sie fungierten auch als Herausgeber des Alfa-Rundbrief der Schreibwerkstatt für neue Leser und Schreiber e.v., der erstmals im Juni 1985 erschien. Zu den redaktionellen Mitarbeitern der ersten Ausgabe gehörte auch Peter Hubertus. In den Folgejahren arbeitete er wie auch Marion Döbert-Nauert maßgeblich im Redaktionsteam mit. Beide werden die Erwachsenenalphabetisierung in Deutschland in den folgenden Jahrzehnten entscheidend mitgestalten. Als zentrale Arbeitsfelder nannten die Herausgeber zuerst die Ausweitung des Vereins, das Einschalten in die schriftliche Diskussion um Alphabetisierung und den Schwerpunkt Unterrichtspraxis. Letzterer sollte Tips und Rezepte für die Unterrichtsvorbereitung und die Erstellung von Materialien, Hinweise auf neue Lesehefte und Teilnehmerzeitungen sowie Nachrichten aus der Alphabetisierer-Scene (sic!) beinhalten. Der Alfa-Rundbrief erschien bis 1997 in 36 Ausgaben, ab der Heftnummer 37 ging er im Frühjahr 1998 in das Alfa-Forum über, das bis heute besteht. Es ist nach wie vor die einzige regelmäßig erscheinende deutschsprachige Zeitschrift zur Thematik der Erwachsenenalphabetisierung und Grundbildung. Mit der Gründung der Schreibwerkstatt und der Herausgabe des Alfa-Rundbriefes erhielt das Engagement für die Alphabetisierung entscheidende neue Impulse. Das Wissen um nicht hinreichend alphabetisierte Menschen stieg in der Öffentlichkeit und wurde zunehmend auch in wissenschaftlichen Kreisen diskutiert. Die Vernetzung im Land wuchs über die Landesgrenzen hinaus. Über einen Beitrag in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT wurden die Aktivitäten der Schreibwerkstatt auch in Belgien und den Niederlanden bekannt. 1985 fand eine internationale Tagung zum Analphabetismus in westeuropäischen Ländern an der Universität Oldenburg statt, im Folgejahr veranstaltete das UNESCO-Institut für Pädagogik in Hamburg einen internationalen Expertenworkshop zum Thema Prävention von funktionalem Analfabetismus (sic!) in Industrieländern. In Berlin ermöglichte die Freie Universität 1985/86 ein Projekt zur Erforschung unzureichender Fähigkeiten bei Lernschwierigkeiten im Schriftspracherwerb. Die Projektergebnisse wurden 1987 auf einer Expertenkonferenz diskutiert und von Gertrud Kamper in den zwei Bänden Elementare Fähigkeiten in der Alphabetisierung (1987) veröffentlicht. Verstärkt brachten sich in dieser Zeit auch neue Akteure in die Thematik ein, bereits aktive konnten nicht zuletzt auch aufgrund der durch Schreibwerkstatt und

Erwachsenenalphabetisierung in Deutschland 21 Alfa-Rundbrief erzeugten öffentlichen Sensibilisierung für die Thematik ihre Aktivitäten erweitern. Auf das 1985 von der UNESCO ausgezeichnete PAS-Projekt konnte ab 1986 ein erneut vom Bundesbildungsministerium gefördertes Projekt (Vermittlung elementarer Qualifikationen 1986 1988) folgen. Aus dem ersten gingen die Heftreihen Zur Theorie und Praxis der Alphabetisierung (1984/85, acht Hefte) und Informationen zur Alphabetisierung in der Erwachsenenbildung (1985, zehn Hefte) hervor. Die Publikationen boten Organisationen und Kursleitenden grundlegende Informationen und Hilfestellungen. Mit den Themen Institutionelle Bedingungen, Beratung, Teilnehmermotivation, Methoden, Materialien, Öffentlichkeitsarbeit wurden alle (bis heute) relevanten Aspekte der Erwachsenenalphabetisierung hier bereits behandelt. Das Grimme Institut widmet sich seit 1984 der Alphabetisierung im Medienverbund und richtete 1988 zum zehnjährigen Bestehen der Alphabetisierungsbewegung in der BRD und anlässlich des Weltalphabetisierungsjahres 1990 Tagungen aus. Der Norddeutsche Rundfunk sendete ab 1986 erstmals, der WDR ab 1987, Bayern 3 ab 1988 Aufklärungs- und Motivationsspots zum Lesen- und Schreibenlernen, die eine unerwartet hohe Resonanz auslösten. Ab 1986 schaltete sich der Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e.v. in die Alphabetisierung ein und ermöglichte Migrant/inn/en die Lese- und Schreibförderung im Rahmen von Deutschkursen (Szablewski-Cavus, 1991). Zu einem wichtigen und dauerhaften Unterstützer der Alphabetisierung Erwachsener wurde ab 1988 der Ernst Klett Verlag. Dieser war der erste deutsche Verlag, der sich insbesondere in der Person des Redakteurs Jürgen Genuneit der Zielgruppe der funktionalen Analphabeten annahm. Zunächst durch die Entwicklung von Unterrichtsmaterialen zu Grundbildung und Schriftspracherwerb, später auch durch Medienarbeit und Sponsoring von Projekten, Tagungen, Fortbildungen und Schreibwettbewerben leistet er bis heute einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Wahrnehmung und Behebung des Funktionalen Analphabetismus. Zunehmend wurden (wissenschaftliche) Fortbildungen für Kursleitende initiiert, die deutsche Sektion der International Reading Association änderte ihren Namen in Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS) und nahm nun auch die Problematik des Analphabetismus in den Blick. Freiarbeitsmittel, Lesehefte und die vielerorts an Volkshochschulen (bspw. Bielefeld) neu entstehenden Teilnehmerzeitungen fanden über den Alfa-Rundbrief größere Verbreitung. An der Universität Frankfurt am Main fand im Sommersemester 1988 ein Seminar zum Thema Analphabetismus in Industrie- und Entwicklungsgesellschaften statt. Im gleichen Jahr wurde die Stiftung Lesen gegründet, die sich vornehmlich der Leseförderung von Kindern und Jugendlichen widmet.

22 Ulrich Steuten 2.3 Professionalisierung und Etablierung (1990 2002) Das Jahr 1990 wurde von der UNO-Vollversammlung zum Internationalen Alphabetisierungsjahr ausgerufen, die UNESCO mit der Koordination weltweiter Aktivitäten beauftragt. Zum selbst ernannten Ziel gehört die drastische Verringerung des An alphabetismus in Entwicklungsländern und der komplette Abbau des funktionalen Analphabetismus in Industrieländern. Erstmals befasste sich in der Folge das deutsche UNESCO-Institut in Hamburg auch mit dem Analphabetismus in Deutschland. Zu den Vorarbeiten des Internationalen Alphabetisierungsjahres entstand unter anderem auch eine Publikation, die Institutionen Organisationen Verbände benannte, die sich in der bundesdeutschen Alphabetisierung und Grundbildung praktisch engagierten. Das offizielle Interesse an der Thematik innerhalb der Bundesrepublik ( ) war lange mehr oder weniger nur soweit gegeben, als internationale Verpflichtungen dies erforderten, konstatierte der Herausgeber dazu in der Einleitung (Sandhaas, 1990, S. 5). Die Zusammenstellung führte insgesamt 304 Bildungseinrichtungen auf, darunter 37 nichtstaatliche Organisationen, elf staatliche Institutionen sowie 18 Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt; 237 Volkshochschulen machten den größten Anteil aus. In den statistisch erfassten Einrichtungen wurde eine Steigerung der Teilnehmenden von jährlich 10.000 (1988) auf 17.000 (Ende 1989) ermittelt, für das Weltalphabetisierungsjahr prognostizierte Sandhaas (1990, S. 10) knapp 20.000 Teilnehmende. Als weitaus brisanter erwies sich aber eine ungeahnte Problematik im eigenen Land, die sich im gleichen Jahr im Kontext der deutschen Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern offenbarte. Birte Egloff schilderte diese Situation zu Beginn der 1990er Jahre wie folgt: Mit dem Ende der DDR bekam das Phänomen Analphabetismus eine weitere Dimension. Hier war das Thema funktionaler Analphabetismus tabuisiert bzw. nicht als Problem erkannt. [ ] Hinzu kam natürlich noch, daß eine solche Problematik nicht existieren durfte, hätte sie doch offenbart, daß die DDR-Gesellschaft mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte wie die verhaßten kapitalistischen Länder und daß das Bildungssystem eben doch nicht so perfekt war. (Egloff, 1997, S, 11f.). In diesem Teil Deutschlands existierte das Problem offiziell also nicht, folglich gab es auch keinen Bedarf an nachholender Alphabetisierung. Eine solche Position selbstverständlich konnte nicht lange Bestand haben. Die mit der Wiedervereinigung verbundenen neuen Anforderungen wurden zuerst über die PAS des DVV später auch über die sich neu etablierenden Landesverbände der Volkshochschulen angegangen. Das erste Projekt in der PAS in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung begann im Januar 1992. Sein Ziel war die Erkundung des Weiterbildungsbedarfs im Bereich elementaren Qualifikationen in der Erwachsenenbildung der neuen Bundesländer. Bereits vereinzelt aktive Initiativen in den neuen Bundesländern wurden dabei von bewährten Institutionen und Kenner[n] der Elementarbildungsszene aus dem Westen beraten (Huck, 1992, S. 6).

Erwachsenenalphabetisierung in Deutschland 23 Während in den neuen Bundesländern Deutschlands Anfang der 1990er Jahre quasi eine nachholende Aufbauarbeit in der Erwachsenenalphabetisierung eingeleitet wurde, setzte im westlichen Teil verstärkt ein Prozess der Professionalisierung ein. Die Anzahl der Kurse anbietenden Bildungseinrichtungen stieg, neben den grauen Materialien wurden mehr und mehr Angebote von professionellen Verlagen (Klett, Hueber, Langenscheidt) auf den Markt gebracht, Fortbildungen für neue Kursleitende wurden entwickelt und vielerorts durchgeführt. An der Evangelischen Akademie in Bad Boll fand 1992 die erste einer Reihe von jährlichen bundesweiten Fachtagungen statt. Bis 2002 fanden elf vom Bundesbildungsministerium finanzierte mehrtägige Tagungen statt, zu denen sich deutsche und ausländische Experte der Erwachsenenbildung trafen. Zu jeder Tagung ist mit Unterstützung des Ernst Klett Verlages eine umfangreiche Dokumentation erschienen. Bereits auf der ersten Tagung wurde ein wichtiges Ziel benannt und angegangen: Nicht nur die Analphabeten haben keine Lobby auch die Alphabetisierung hat keine. Es fehlt auch in dieser Beziehung eine landes- und bundesweite Infrastruktur. (Hubertus, 1993, S. 148). Es galt die bislang nur lokal oder regional kooperierenden Initiativen, Vereine und Träger bundesweit in Form einer Arbeitsgemeinschaft zusammenzuschließen, um eine höhere Aufmerksamkeit und Durchsetzungskraft für die Belange nicht hinreichend alphabetisierter Menschen zu erzielen. Zu diesem Zweck formierte sich zunächst eine Initiativgruppe, zu der Vertreter/innen der Deutschen UNESCO-Kommission, der PAS des DVV, des Sprachverbandes Deutsch für ausländische Arbeitnehmer, der Schreibwerkstatt für neue Leser und Schreiber, der Stiftung Lesen, des Lese- und Schreib service Frankfurt am Main, des Ernst Klett Verlags für Wissen und Bildung und Vertreter/innen der Evangelischen Akademie Bad Boll gehörten. Ein Jahr später verfassten die Akteure der Initiativgruppe auf der zweiten Tagung in Bad Boll eine grundsätzliche Erklärung zur Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland und verkündeten ihre Absicht, sich zur Bundesarbeitsgemeinschaft Alphabetisierung zusammenzuschließen. Mit ihrer Konstitution als Verein mit Geschäftsstelle beim Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE), der Nachfolge-Organisation der PAS, wurde im Oktober 1995 ein weiterer Meilenstein erreicht. Dieser Zusammenschluss stärkte die Wahrnehmung des Themas in Öffentlichkeit und führte zu Synergieeffekten: Die Schreibwerkstatt für neue Leser und Schreiber, mit 120 Mitgliedern mittlerweile die größte freie Einrichtung der Erwachsenenalphabetisierung in Deutschland, wurde für ihre Arbeit 1994 von der UNESCO ausgezeichnet. Im Jahr 1995, in dem das International Adult Literacy Survey (IALS) eine Erhebung zu Grundqualifikationen zum Abschuss führte und einem vergleichsweise hohen Anteil deutscher Erwachsener nur mittelmäßige Lese-Fähigkeiten bescheinigte, schuf sie mit dem Alpha-Telefon erstmals eine bundesweit nutzbare Möglichkeit für Betroffene, sich (auch anonym) über Hilfeangebote zu informieren und damit den ersten Schritt in einen Kurs zum Lesen- und Schreibenlernen zu machen. Auf der Projektebene startete 1995 mit Distanzen überbrücken durch Dialog das DIE- Projekt zur Entwicklung gemeinsamer Perspektiven in der Alphabetisierung und Elementarbildung von Ost und West, 1997 begann in Nordrhein-Westfalen das Projekt Netzwerk Grundqualifikationen (DIE). Im gleichen Jahr kam es auch zum