Casa Retica Der rätische Hausbau

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Transkript:

SE: Ur- und Frühgeschichte: Archäologie der Räter LV-Nummer 644112 Universität Innsbruck Institut für Archäologien Ao.Univ.-Prof. Dr. Tomedi Gerhard Wintersemester 2011/2012 Casa Retica Der rätische Hausbau Vorgelegt von: Florian Messner Matrikelnummer: 0516669 Studienkennzahl C 066 691 Florian.Messner@student.uibk.ac.at 1

Inhaltsverzeichnis... 3... 4... 5!"#... 8 $"... 10 $ %... 11 $&... 15 '(... 16 ')*... 16 '("... 18 +),... 21 -.... 22 2

50 v. Chr., irgendwo in den Alpen: Schwer bepackt kehrt ein Räter von der Jagd zurück. Schon von weitem erblickt er die vorgelagerte Kuppe, wo sich sein kleines Dorf hinter einer dicken Wehrmauer verbirgt. Endlich erreicht er sein Haus und tritt durch die windschiefe Tür. Der einzige Raum der kleinen Behausung ist mangels Fenster stockfinster. Nur durch die Schlitze zwischen den grob behauenen Baumstämmen, aus denen die Wände bestehen, dringt ein Hauch von Tageslicht ein. Fröstelnd entzündet der Räter ein Feuer, was sich angesichts der Zugluft als nicht so einfach erweist. Zudem fängt es draußen an zu regnen. Ein nicht unbedeutender Teil des Regens findet durch das löchrige Dach ins Innere der Hütte und in die primitive Feuerstelle. Voll Zorn schmeißt der Bewohner sein Werkzeug hin und stapft nach draußen, um seinem Ärger über die miserable rätische Bauweise lautstark Luft zu machen. Die Beschreibung dieser Bruchbude entspricht in etwa der Sichtweise gewisser Personen, die die rätische Kultur als alpine Retentionskultur oder noch besser als Kultur der alpinen Beständigkeit sehen. Dass diese Vorstellung wohl nur sehr entfernt etwas mit der Realität zu tun hat, besagt eigentlich schon der Hausverstand. Um zu zeigen, dass die Räter keineswegs ein hinterwäldlerisches Völkchen in den Bergen waren und in windschiefen Verschlägen hausten, möchte ich in dieser Arbeit die Grundzüge des rätischen Hausbaus zeigen. Zunächst sollen die archäologischen Befunde der rätischen Siedlung vom Himmelreich bei Wattens, sowie ein rätisches Haus aus Sanzeno und auf dem Ganglegg vorgestellt werden. Ausgehend von diesen Befunden möchte ich dann bautechnische Überlegungen bezüglich der Zimmermannstechnik anstellen. Um zudem das rätische Siedlungswesen und seine wirtschaftliche Situation erahnen zu können, möchte ich zum Abschluss einen Vergleich mit den ladinischen Viles im Südtiroler Gadertal ziehen. 3

Was sind nun die eigentlichen Merkmale des rätischen Hausbaus? Renato Perini, ein Prähistoriker aus Trient, hat versucht, die wichtigsten Kennzeichen zusammenzufassen: 1 - Halb in den Boden eingetiefte Hausbauweise - Nicht tragende Trockenmauern ohne Fundament, die vor den Baugrubenwänden errichtet wurden - Innenraum durch Korridor erreichbar - Eck- und Wandständer tragen das Dach - Innenraumteilung durch Holz- und Flechtwerkwände - Große Holzkohlestücke im Brandschutt weisen auf Pfosten und Balken hin Wolfgang Sölder hat in seiner Diplomarbeit Pionierarbeit geleistet und die zahlreichen ausgegrabenen rätischen Häuser im Alttiroler Raum zusammengefasst. Sölder hat dabei jedes Haus einzeln aufgenommen und nach verschiedenen Gesichtspunkten geordnet. Dabei hat sich die Check-Liste Perinis durchaus bewehrt. 2 Als Beispiel für die zahlreichen Siedlungen, die in der Fachwelt als rätisch angesprochen werden, soll hier exemplarisch die befestigte Höhensiedlung auf dem Hügel Himmelreich bei Wattens vorgestellt werden. Zum Vergleich dient ein rätisches Haus in Sanzeno (Trentino) und eines vom Ganglegg bei Schluderns. Abb. 1: Verbreitung der Casa Retica 3 1 Perini, R., La casa retica in epoca protostorica, in: Rendiconti 5 (1967-1969), 38ff., zit. nach: Sölder 1994, 7. 2 Sölder 1994. 3 Abb. nach: Sölder 1992, ergänzt durch G. Tomedi. 4

Im Tiroler Unterinntal erstreckt sich zwischen Volders und Wattens auf der südlichen Talseite eine bewaldete Anhöhe, das Wattener Himmelreich. In den Jahren von 1953 bis 1955 legte Alfons Kasseroler dort eine befestigte Höhensiedlung frei. 4 Die Siedlung auf der Felskuppe (643 m Seehöhe) besteht aus sechs Häusern mit mehreren Nebengebäuden. Um die Kuppe verläuft eine Ringmauer, die an der Außenseite aus Steinen gesetzt ist, während die Bergseite aus losem Material besteht. 5 Abb. 2: Die Himmelreichsiedlung 6 Vier der sechs Häuser (I, II, III und V) weisen eine verwinkelte Ganganlage auf, die als typisch rätisch angesprochen wird. Eine Untersuchung von Mara Migliavacca hat aber gezeigt, dass bei weitem nicht alle rätischen Häuser über so eine Anlage verfügten. Oft kommen Häuser mit und ohne Eingangsanlage nebeneinander vor (etwa in Wattens oder Stufels/Brixen). 7 Als Beispiel wird hier Haus I genauer beschrieben: 4 Franz 1958. 2f. 5 Franz 1958. 2f. 6 Abb. Nach: Kasseroler 1957, Taf. 65. 7 Migliavacca 1999, 107. 5

Die Ost- und Teile der Südwand bestehen aus gewachsenem Fels, da der Hausgrundriss in den anstehenden Felsen eingetieft wurde. Die Maße des Hauses betragen 7 x 5,5 m und formen ein unregelmäßiges Rechteck, was wohl auf den Bauplatz zurückzuführen ist. An der Rückwand ist der behauene Fels immerhin 1,8 m hoch, während die talseitigen Mauern aus behauenen Steinen ohne Mörtel (Trockenmauer) bestehen. 8 Die Nordmauer weist einen geschwungenen Eingangsbereich auf, der in einen verwinkelten Korridor mündet. Erst dahinter folgt dann der eigentliche Raum. Kasseroler vermutet in dem Befund einen Kellerraum, in dem sich die Vorratswirtschaft des Hauses abspielte. Ob eine hölzerne Treppe im Inneren in die vermutete obere Etage geführt hat, oder diese von außen betreten wurde, ist aufgrund des Brandes nicht zu ermitteln. 9 Abb. 3: Himmelreich: Haus I mit Nebengebäude 10 Die Absicht hinter diesen, sicher nicht willkürlich angelegten, Eingangskorridoren ist nicht zweifelsfrei festzustellen. Überzeugen könnte der Aspekt, dass der Korridor das Innere des Gebäudes vor Kälte schützen soll. Durch die gewinkelte Konstruktion gelangt kalter Wind nicht direkt hinein, sondern wird durch die Türen in den Knicken des Ganges abgefangen. 8 Kasseroler 1957, 11. 9 Kasseroler 1957, 12. 10 Kasseroler 1957, Taf. 2. 6

Über den verkohlten Balken, die im Kellerraum von Haus I entdeckt werden konnten, fanden sich zahlreiche Holzplatten, was für eine Schindeldeckung des Hauses spricht. 11 Das weitere Aussehen des Hauses bleibt der Spekulation überlassen, da die Balkenreste keine Aussage über die Zimmerung erlaubten, außer dass es sich um einen Blockbau gehandelt haben dürfte. Allerdings kann man einige Überlegungen machen (siehe dazu das Kapitel bautechnische Überlegungen). Weitere Funde, die das Verständnis des rätischen Hauses erleichtern, sind etwa die zahlreichen Eisennägel (bis zu 12 cm Länge) in Haus II. Diese könnten auf angenagelte Schindeln hinweisen. 12 Zur Inneneinrichtung kann leider ebenfalls nicht viel ausgesagt werden. Wahrscheinlich bestanden die meisten Einrichtungsgegenstände aus Holz, das sich nicht über die Zeiten erhalten hat. Eine Ausnahme bildet ein geschwungener Griffbügel aus Eisen, der im Inneren von Haus III entdeckt wurde. Er stammt möglicherweise von einer Truhe, die zur Aufbewahrung von Gütern diente, etwa von Kleidung oder vielleicht auch Nahrung, 13 Haus III weist daneben noch eine Besonderheit auf. In einer neuzeitlichen Schicht konnten fragmentierte und auch noch komplette Ofenkacheln geborgen werden. Offenbar war das Haus im späten Mittelalter noch in einem so guten Zustand, dass ein Kachelofen eingebaut wurde. 14 Dass das rätische Haus wirklich 1.500 Jahre überdauert hat, ist eher fragwürdig. Aber zumindest die rätischen Fundamente dürften bei diesem mittelalterlichen-neuzeitlichen Wohnhaus wieder verwendet worden sein. Dies spricht deutlich für die gute Qualität des rätischen Hausbaus. Etwas Besonderes in der Himmelreicher Siedlung ist der zentrale Platz mit einer 10,4 m tiefen Zisterne. Als Kasseroler die Zisterne freiräumte, stieß er bis in drei Meter Tiefe auf neuzeitliche Fund, darunter zahlreiche Scherben und ein komplettes Pferdeskelett. 15 In sieben Meter tiefe entdeckte er zahlreiche Holzstücke, die auf einer Art Konsole verspreizt waren. Am Grund des Schachtes konnten nur einige wenige Scherben entdeckt werden, was Kasseroler etwas überraschte. Die gesamte Zisterne war sorgfältig behauen und fasste etwa 14 m³ Wasser. 16 11 Kasseroler 1957, 12. 12 Kasseroler 1955, 45. 13 Kasseroler 1955, 66. 14 Kasseroler 1955, 71. 15 Kasseroler 1957, 34-37. 16 Kasseroler 1957, 34-37. 7

Dass ein Pferd zufällig in den Schacht gestürzt ist, dürfte unwahrscheinlich sein. Insbesondere hätten die Bewohner des Weilers das Pferd oder dessen Kadaver wieder herausgeholt, damit das Wasser nicht verdirbt. Man kann nun annehmen, dass dieses Pferdeskelett einen bewussten Akt von Brunnenvergiftung darstellt, wahrscheinlich im Zuge von kriegerischen Auseinandersetzungen in der Neuzeit. Leider hat Kasseroler seinen Schwerpunkt auf die rätischen Gebäude gesetzt, sodass kaum Aussagen über eine Nachnutzung im Mittelalter gemacht werden können. Anscheinend war aber die Hügelkuppe im Mittelalter und Neuzeit nochmals besiedelt, wofür auch der Fund des Kachelofens spricht. Wann die Siedlung dann endgültig aufgegeben wurde, ist unklar. Abb. 4: Rekonstruktionsversuch des Weilers auf dem Himmelreich (links unten Haus I) 17!"# 1989 entdeckte man in Sanzeno ein mit 57,6 m² (9 x 6,4 m) Innenfläche recht großes Haus. Aufgrund des Fundmaterials datiert es an das Ende des 6. bis in die erste Hälfte des 5. Jhd. v. Chr. 18 Wie bei den anderen rätischen Häusern der Siedlung in Sanzeno wurde das obere Stockwerk von zahlreichen Pfeilern gestützt. Diese Steher waren in den Ecken und den Seiten der gemauerten Mauern eingetieft und standen auf Steinplatten. Von diesen Stehern konnte nur 17 Rekonstruktion von Andreas Blaickner. 18 Marzatico / Stelzer 1999, 77. 8

mehr einer geborgen werden, der zwar verkohlt war, aber immerhin noch knapp zwei Meter Länge aufwies. 19 Abb. 5: Sanzeno: rätisches Haus (Fondo Germes) mit Bohlenboden in der Ecke 20 In der Südwestecke, also an der sonnigsten Stelle des Hauses, konnte ein Boden aus Lärchendielen (380 x 30 x 10-14 cm) entdeckt werden. Die Bohlen ruhten auf zwei quadratischen Balken, während der restliche Innenraum aus gestampftem Lehm besteht. An den Ecken des etwa 4 x 4 m großen Bodens stand je ein Steher. 21 Aus dieser Situation kann man einen abgeteilten Raum rekonstruieren, der entweder komplett abgetrennt war, oder über ein Gatter verfügte. 22 Es könnte sich hier um die Urform der späteren alpinen Stube handeln. Die Wände des Hauses waren entweder mit senkrechten oder waagrechten Bohlen gezimmert, die an den eingeschnittenen Ständern eingelegt waren. 23 Marzatico ließ eine Rekonstruktion anfertigen, die einen Schwellbau in Ständerbohlenweise mit einem kleinen Vorraum zeigt. 24 Abb. 6: Rekonstruktionsversuch in Ständerbohlenweise, man achte auf den Einbau der Stube 25 19 Marzatico / Stelzer 1999, 82. 20 Abb. aus: Marzatico 1999, 84. 21 Marzatico / Stelzer 1999, 82ff. 22 Vgl. Marzatico / Stelzer 1999, Taf. 17-18. 23 Vgl. Marzatico / Stelzer 1999, Taf. 10-11. 24 Marzatico / Stelzer 1999, 93. 9

$" Das Ganglegg ist eine Schieferkuppe nördlich von Schluderns im Vinschgau. Auf diesem Hügel befand sich eine Siedlung, die von der Bronzezeit bis in die jüngere Latènezeit reicht. Im Zuge der Ausgrabungen konnte, ähnlich wie beim Himmelreich bei Wattens, eine befestigte rätische Höhensieldung ergraben werden. Der Anfang der Siedlung konnte mittels 14C-Datierung auf etwa 110-100 v. Chr. festgemacht werden. Sie bestand dann mindestens bis zur römischen Eroberung 16/15 v. Chr. 26 Ähnlich wie beim Himmelreich grenzte auch am Ganglegg eine Befestigungsmauer den Weiler ab. Die etwa zwei Meter breite zweischalige Mauer weist eine Füllung aus Erde und losen Steinen auf. 27 Als Beispiel für ein rekonstruiertes Haus, sei hier Haus H genannt: Das Haus misst 5,2 x 5,2 m und ist durch einen 11 m langen gewinkelten Gang erreichbar. Wo der Gang abknickt, fanden sich vier große 1,9 m lange Steinplatten, die zur Bedeckung des 1,2 m breiten Ganges gedient haben. 28 Der Raum, der sicherlich ein Kellergeschoss war, musste beim Bau teilweise bis zu 2,6 m in den Moränenschotter eingetieft werden. Im Zuge dieses Bauvorgangs, wurden die darunterliegenden bronzezeitlichen Häuser teilweise zerstört. In den Ecken des Raumes lagen etwa 35 x 35 cm Auflager für senkrecht stehende Balken. An diesen Balken hing wohl auch die entsprechende Wandverkleidung. In der Mitte des Raumes lag noch ein steinernes Auflager (65 x 55 x 30 cm) für einen starken Balken, der wohl den Firstbalken stützte. 29 In der Rekonstruktion eines Teils des Gangleggs (nächste Seite) sieht man ein Haus, das aus mehreren Räumen (Keller, Erdgeschoss und evtl. ein Dachgeschoss) besteht. In die Hausmauer setzte man senkrecht stehende Steinplatten, die wohl als Auflager für eine Holzvertäfelung des Innenraums dienten. 30 25 Abb. aus: Marzatico 1999, 93. 26 Gamper 2006, 385. 27 Gaper/Steiner 1999, 44. 28 Gamper 2006, 130. 29 Gamper 2006, 131. 30 Gamper/Steiner 1999, 68. 10

Abb. 7: Modell eines Hauses am Ganglegg 31 Die rätischen Häuser werden oft sehr primitiv dargestellt, da man als Vergleichsbeispiele meist alte Almhütten heranzieht. Wenn man sich aber überlegt, dass die Räter, besonders in den hochgelegenen Tälern, über Jahrhunderte Zeit hatten ihren Wohnungsbau zu perfektionieren, kann man sich nicht vorstellen, dass das Endergebnis ein primitives Blockhaus aus Rundhölzern war. Dass Almhütten so aussehen ist eher darauf zurückzuführen, dass sie entlegen waren und nur saisonal benutzt wurden. Im Tal hingegen kann man durchaus davon ausgehen, dass die Wohnhäuser besser durchdacht waren. Denn ein Bau aus Rundhölzern isoliert zwangsläufig schlecht, da die Stämme ja nie genau aneinander passen. Eine Möglichkeit wäre die Zwischenräume mit Lehm oder Moos zu verstopfen, allerdings ist dies nur ein Notbehelf. Viel besser ist es schon, wenn die Stämme zu Bohlen gehauen werden. Nun kann man zwischen Ständer- und Blockbau unterscheiden. Beim Ständerbau werden zunächst am Rand und in der Mitte des Hauses senkrechte Steher eingegraben. Diese verbindet man am Kopf mit normalen und mit Querbalken. Das Geheimnis des Ständerbaus liegt in den diagonalen Verstrebungen, die bei dieser leichten Konstruktionsweise für eine hohe Stabilität sorgen. Auf diese erste Etage kann noch eine 31 Abb. aus: Gamper/Steiner 1999, 68. 11

weitere, oder auch schon das Dach aufgesetzt werden. In den Räumen zwischen den Stehern können nun Bohlen oder Bretter eingelegt werden. 32 Abb. 8: Ständerbau mit diagonalen Streben 33 Diese Anbringung von diagonalen Streben (in der Tiroler Zimmermannssprache auch Schwertbänder genannt) ist keine Erfindung des Mittelalters oder der Neuzeit, sondern bereits in der Eisenzeit belegt. Eine sehr seltene Darstellung findet man auf einem Tongefäß aus Balzers (Runder Bühel / Areal Foser) in Lichtenstein. Es datiert um 500 v. Chr. und zeigt ein eingeritztes Hausmodell. Man erkennt die senkrechten Steher, welche bis zum Dach reichen, waagrechte Balken zur Unterteilung des Dach- vom Untergeschoss und diagonale Verstrebungen. Die Punkte sollen wohl die Längsbalken markieren. Aus diesem Grund ist das Haus wohl von außen dargestellt, was auch das perspektivisch dargestellte Dach andeutet. Die Darstellung des Hauses aus Balzers erinnert stark an Fachwerkhäuser des Mittelalters. Abb. 9: Ritzung eines Gebäudes auf einem Tongefäß um 500 v. Chr., Balzers-Runder Büchel / Areal Foser 34. Man achte auf die diagonalen Streben. 32 Krämer 2010, 244-249. 33 Abb. aus: Krämer 2010, 249. 34 Abb. aus: Sölder 1992, 394. 12

Die zweite Möglichkeit ein Haus aus Holz zu bauen besteht in der massiven Blockbauweise. Dabei werden Rund- oder Vierkanthölzer verwendet. Um die Hölzer übereinanderlegen zu können, müssen sie an den Ecken eingeschnitten werden, sodass sich überlappen können. Man kann die Enden der Hölzer aber auch einschneiden, sodass sie genau übereinander passen und einen rechten Winkel ohne Überstand abgeben. Auf diese Weise entstehen sehr stabile Eckverbindungen, die zusätzlich durch Holznägel gesichert werden können. Abb. 10: Mögliche Eckverbindungen im Blockbau 35 Eine Schwierigkeit ergibt sich bei Fenstern und Türen. Diese können nicht einfach in die Wand hineingesägt werden, da diese ansonsten ihre Stabilität verliert. Eine Lösung besteht darin, die Kanthölzer in den Türrahmen einzuzapfen. Diese Technik vermindert die Stabilität der Wand nur minimal. Die Rekonstruktion des Innenlebens von rätischen Häusern ist leider zu einem großen Teil der Spekulation überlassen. Die Funde in den oft abgebrannten Häusern beschränken sich meistens auf Gegenstände aus Metall. Dadurch erhält man kaum Hinweise auf das Inventar 35 Abb. aus: Krämer 2010, 280f. 13

des Hauses, das sicher zu einem Großteil aus Holz bestand, ähnlich den Bauernhäusern in Mittelalter und Neuzeit. Dank eines Befundes in Brixen-Rosslauf kann man zumindest erahnen, was in den rätischen Häusern gelagert wurde. Bei Grabungen im Rosslauf bei Brixen konnten Archäologen das Kellergeschoss eines rätischen Gebäudes vom Ende des 6. Jhd. v. Chr. freilegen. Am Boden des Raumes fanden sich Unmengen von Holzobjekten, teilweise verbrannt, aber noch gut erhalten. Neben zahlreichen Fässern aller Größen, kamen noch Körbe, Wagenräder und ein großer Zuber zum Vorschein. 36 Der ganze Keller scheint mit Holzobjekten vollgestopft gewesen zu sein. Als das Haus dann gegen Ende des 6. Jahrhundert abbrannte, mussten die Bewohner das Gebäude fluchtartig verlassen haben, oder im Feuer umgekommen sein. Abb. 11 und 12: Reste mehrerer Behälter und eines Rades, sowie Rekonstruktion des Kellers 37 Abschließend zu den bautechnischen Überlegungen sei noch auf die rätischen Schlüssel hingewiesen. Diese großen Schlüssel sehen aus wie verbogene Spieße und sind indirekt ein Zeichen für den Wohlstand der Bewohner und ihrer Häuser. Denn ein ausgeklügeltes Schloss baut man nur dann an eine Tür, wenn es dahinter für Diebe etwas zu holen gibt. Abb. 13: Schlüssel vom Himmelreich, Haus V 38 36 Rizzi 2003, 16-19. 37 Abb. aus: Rizzi 2003, 16 und 19. 38 Abb. aus: Kasseroler 1957, Taf. 34. 14

$& Die Räter verfügten bereits über qualitativ hochstehende Werkzeuge, die sich von denen des Mittelalters kaum unterschieden. Bei Ausgrabungen in Sanzeno hat man, neben etlichen anderen Werkzeugen, auch solche zur Holzverarbeitung entdecken können. 39 Neben verschiedenen Äxten fanden sich auch Dechsel (Axt mit quergestelltem Blatt) zur Balkenbearbeitung, Zugmesser, Raspeln, Stemmeisen, und verschiedene Sägen. 40 Letztere ähneln stark den heutigen japanischen Feinsägen. Abb. 15: Auswahl von Holzwerkzeug aus Sanzeno 41 Dank dieses und anderer Werkzeugfunde, war man im Keltendorf Schwarzenbach in Niederösterreich in der Lage, eisenzeitliche Holzwerkzeuge nachzubauen. Mit den Werkzeugen und anhand archäologischer Befunde stellte das Museum mehrere eisenzeitliche Häuser in Ständerbohlentechnik auf. So, oder so ähnlich kann man sich auch die rätischen Häuser dieser Zeit vorstellen. Zwar aus Holz, aber innen sicher halbwegs behaglich. Abb. 16: Rekonstruierte Häuser im Keltendorf Schwarzenbach 42 39 Nothdurfter 1979. 40 Nothdurfter 1979, 27-35. 41 Abb. nach den Folien von G. Tomedi, nach Nothdurfter 1979, Taf. 7-13. 42 http://s2.postimage.org/jdytvzjp5/schwarzenbachk.jpg, Zugriff, 18. Mai 2012. 15

Da heutzutage kein rätisches Haus mehr steht, muss man sich mit Vergleichen behelfen. Deshalb möchte ich zunächst die Kontinuität in der Bauweise von romanischen Bauernhöfen in Tirol vorstellen. Die Siedlungsweise der Räter hat sich in Ansätzen in den ladinischen Viles erhalten, diese werden in Kapitel 4.2. näher erläutert. ')* Die Bauernhöfe der mittelalterlichen Romanik entstanden etwa zwischen 1000 und 1300. Im Folgenden möchte ich zwei näher vorstellen, den Urhof Fëur (lad. Feuer) auf Furmes in Gröden und den Hiender-Hof auf Costatscha, ebenfalls in Gröden. Der Fëur-Hof oberhalb von St. Christina dürfte wohl einer der ältesten im ganzen Alpenraum sein. Die Hofstelle liegt auf 1.700 m Meereshöhe und wird heute nur mehr saisonal benutzt. Früher war er aber ganzjährig bewirtschaftet und man betrieb in dieser Höhe sogar Ackerbau. Das Wohnhaus des Paarhofes besteht aus einem eingeschossigen Gebäude, das in Blocktechnik mit Vierkanthölzern errichtet wurde. Das Geschoss besteht aus zwei Räumen, die nicht miteinander verbunden sind. Der Zugang erfolgt durch die überdachte Vorlaube an der Talseite des Hauses. Durch die rechte Tür gelangt man in den Küchenraum, wo sich in der Mitte eine massive Holzsäule befindet. Hier befand sich sicherlich auch der offene Herd. Die Küche weist keine Decke auf, reicht bis unter das Dach und verfügt über keinen Kamin. 43 Abb. 17: Urhof Fëur in Gröden 44 43 Rudolph-Greiffenberg 1982, 33 44 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fd/feur_urtij%c3%abi.jpg, Zugriff: 5. Juni 2012. 16

Abb. 18: Grundriss des Fëur-Hofes 45 Im anderen Raum des Hauses befindet sich die Stube mit dachförmiger Decke und nachträglich eingebautem Ofen. Die heutigen Fenster sind wahrscheinlich nachträglich vergrößert worden. Nur an einer Stelle hat sich ein romanisches Rundbogenfenster mit einer Breite von 20 cm erhalten. Leider wurden am Fëur Hof bisher keine dendrochronologischen Untersuchungen durchgeführt. Es gibt aber im Volkskundemuseum von Dietenheim (bei Bruneck im Pustertal) eine nahezu identische Stube vom Tschaggenhof im Passeiertal. Hier wird die Stube als kleines Haus in Blockbau mit Satteldach, welches in ein größeres Herdhaus eingebaut war beschrieben, welches aus dem 11. Jahrhundert stammt. 46 Diese Anmerkung, dass ein kleines Haus in einem größeren Haus steht, erinnert sehr deutlich an den archäologischen Befund des Hauses in Sanzeno (siehe S. 8f). Abb. 19. Stube des Tschaggenhofes 47 45 Abb. aus: Rudolph-Greiffenberg 1982, 32 46 http://www.studio-3b.com/vkmuseum/index.php?id=50&l=1, Zugriff: 20. März 2012. 47 Foto Florian Messner, 16. September 2011. 17

Ein anderes Element rätischer Häuser, nämlich den sogenannten rätischen Eingang, findet man auch an romanischen Bauernhöfen. Ein Beispiel von mehreren ist der Hiender-Hof, ebenfalls in Gröden. Dieses pilzförmige Haus mit einem gemauerten Untergeschoss und darauf einem Holzaufbau, weist einen seltsamen Eingangsbereich auf. Der Keller ist in etwa rechteckig, allerdings biegt der Gang gleich nach der Eingangstür nach links ab, um erst durch eine weitere Tür dann in den eigentlichen Innenraum zu führen. Dieser geknickte Gang ist entweder ein typologisches Rudiment oder hatte die gleiche, heute unbekannte Funktion, wie die der rätischen Häuser. Abb. 20: Grundriss des Hiender-Hofs in Gröden mit verwinkeltem Eingang 48 '(" Um ethnologische Vergleiche zu den rätischen Weilern zu finden, muss man nicht unbedingt in die weite Welt reisen. Manchmal genügt es einen Blick in die nähere Umgebung zu werfen, in diesem Fall nach Südtirol, in das Gadertal. Dieses Seitental des Pustertals wird heute von den Ladinern (Rätoromanen) bewohnt. Der Tradition nach sind die Rätoromanen die Reste der ehemaligen Bevölkerung der römischen Provinz Raetia, die von den eindringenden Germanen (insbesondere den Bayern) verdrängt wurde. Nur in schwer zugänglichen Seitentälern (Gader- und Grödnertal) konnte sich diese Ethnie halten. Die Ladiner sind zwar keine direkten rätischen Überlebenden, aber in ihrer Kultur hat sich vieles aus der späten Eisenzeit erhalten: Im Rätoromanischen ist die Sprache der Räter ein Substrat, das sich auf die Sprache ausgewirkt hat, der Korpus aber ist lateinisch bzw. neulateinisch - ähnlich wie beim 48 Abb. aus: Rudolph-Greiffenberg 1982, 38. 18

Französischen die gallische Grundlage sich ausgewirkt hat (Französisch könnte man im gleichen Sinne als "Galloromanisch" bezeichnen). 49 Einige dieser Worte rätischen Ursprungs sind etwa: aisciöda Frühling, ciaspes Schneeschuhe, cìer Zirbelkiefer, liösa Rodel oder morona Kette. 50 Neben der Sprache ist das Siedlungswesen der Ladiner sehr interessant. Über das ganze Gadertal finden sich zahlreiche verstreute Weiler, die sogenannten Viles. Sie zeichnen sich durch eine sehr geschlossene Siedlungsweise aus. In den Viles finden sich mehrere Familien auf verschiedenen geschlossenen Höfen. Im Zentrum des Weilers befindet sich meist ein Platz mit einem Brunnen, an dem früher das Wasser für die Häuser geholt wurde. Neben den Wohn- und Futterhäusern gibt es noch zahlreiche Nebengebäude wie Backöfen, Hühnerställe, Harpfen oder Mühlen. Die einzelnen Viles umfassen selten mehr als zehn Bauernhöfe. Da meist der Paarhof vorkommt, bedeutet das zwanzig größere Gebäude. Von außen gesehen bieten viele Weiler einen verschlossenen, undurchdringlichen Eindruck. Im Inneren wirken sie durch den zentralen Platz aber sehr offen. 51 Die Weiler unterschieden sich alle in ihrer Struktur, die sich an die jeweilige Geländesituation anpasst. Das Ziel bei Errichtung des Weilers lag in der bestmöglichen Ausnützung des Sonnenlichtes. Deswegen sind die Häuser mancher Viles in einer Linie aufgereiht (z. B. Frontü), andere sind hingegen mehrreihig oder fächerförmig (z. B. Ciaseles). 52 Abb. 21 und 22: Der Weiler Seres 53 49 Zitiert nach: Taibon, Ladiner. 50 Taibon, Ladinien. 51 Bortolotti 1984, 26. 52 Bortolotti 1984, 29. 53 Abb. aus: Bortolotti 1984, 28 und 9. 19

Dank des sogenannten Habsburger Katasters von 1860 (also vor der Flurbereinigung und anderen modernen Einflüssen), der neben den Häusern auch die Nutzflächen erfasste, kann man heute Vergleiche zu den Rätern ziehen: Im Unkreis der Siedlungskerne sind die Felder in zahlreiche kleine und mittlere Parzellen unterteilt. Die kleinen Parzellen gehören dabei nicht zu den angrenzenden Höfen, sondern erscheinen willkürlich verteilt. 54 Abb. 23: Ausschnitt aus dem Habsburger-Kataster von 1860 55 Wenn man aber die Bodenqualität beachtet, erkennt man, dass jeder Hof ungefähr gleich viel Ertrag von den verschieden großen Parzellen erhält. Anscheinend befand sich das Land früher in Gemeinschaftsbesitz und bei der Einteilung in Parzellen wurde darauf geachtet, dass kein Hof benachteiligt wurde. Jedem Hof wurden je nach Hangneigung, Sonneneinstrahlung, Wasserversorgung, Bodenqualität usw. jeweils gute bzw. mittelwertige Parzellen zugeteilt. Hinter diesen engen Parzellen erstreckten sich die größeren Felder, die bis an diejenigen des Nachbarweilers reichten. Die Weiden und Wälder befanden sich in Gemeinschaftsbesitz. 56 Die einzelnen Viles waren so gut wie autark und pflanzten trotz der Höhenlage (1.100 1.600 m Meereshöhe) nahezu alles für den Eigenbedarf an: Getreide (Gerste, Hafer, Roggen und 54 Bortolotti 1984, 20. 55 Abb. aus: Bortolotti 1984, 19. 56 Bortolotti 1984, 20. 20

teilweise auch Weizen), Hülsenfrüchte (Pferdebohnen und Erbsen) und Textilfasern (Leinen und Hanf). Dabei betrug das Verhältnis zwischen Äcker und Wiesen 2 zu 3. 57 Dieses Verhältnis war sicher das Resultat einer langen Entwicklung. Das Vieh lieferte Milchprodukte, Fleisch, Wolle und den Dünger für die Äcker. Dabei durften die Äcker aber nicht zu groß werden, da ansonsten nicht genügend Heu eingebracht werden konnte. 58 Obwohl man heute den Typ des rätischen Hauses nicht mit Sicherheit rekonstruieren kann, lassen sich aufgrund der archäologischen Ergebnisse gewisse Aussagen machen. Sicher gab es im Rätergebiet nicht einen einzelnen standardisierten Haustyp. Vielmehr dürfte es ähnlich wie vor 100 Jahren gewesen sein, wo im Alpenraum jedes größere Tal einen eigenen Baustil hatte. So sind die Häuser am Ganglegg etwa Blockhäuser aus Rundligen, allerdings waren sie innen verzimmert und ermöglichten so ein behagliches Wohnen. Anders sieht es in Sanzeno aus. Dort lässt sich ein Haus in Ständerbohlenbauweise rekonstruieren, das sich wahrscheinlich nicht besonders stark von den hochmittelalterlichen Bauernhäusern Tirols unterschieden hat. Denn ein Haus ist immer ein Funktionsgegenstand. Das Ziel liegt darin, den Innraum möglichst gut gegen die Kälte von außen zu isolieren. Deshalb wird man mit ähnlichem Werkzeug auch zu ähnlichen Ergebnissen kommen, auch wenn zwischen Hochmittelalter und Räterzeit an die 1.500 Jahre liegen. Neben dem eigentlichen Hausbau ist aber das Zusammenspiel der einzelnen Einheiten nicht zu vernachlässigen. Ein Haushalt alleine kann nur sehr schwer autark überleben, deshalb wird man schon früh in Weilern zusammengearbeitet haben. So ähnlich wie bei den ladinischen Viles kann man sich auch die Wirtschaftsweise der rätischen Weiler, wie etwa am Ganglegg oder am Himmelreich vorstellen: Geschlossene, nahezu autarke Wirtschaftseinheiten, die wohl auf Sippenbasis funktionierten. Das einzige, was die rätischen Weiler deutlich von den ladinischen unterscheidet ist das Vorhandensein von Wallanlagen. 57 Bortolotti 1984, 22. 58 Bortolotti 1984, 22. 21

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