Relevanz von Effektstärken

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Transkript:

Relevanz von Effektstärken Jürgen Windeler, Stefanie Thomas Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) Berlin, 26.01.2010

ganz aktuell Januar-Ausgabe 2010... war weder das absolute Risiko für nicht tödliche Herzinfarkte noch für die koronare Herzkrankheit klinisch relevant vermindert obwohl die Unterschiede statistisch signifikant sind [...] Eine NNT=200 bedeutet doch, dass 200 Patienten über viele Jahre einer intensiven Therapie unterzogen wurden, aber im Vergleich zur Standardtherapie nur bei einem Patienten ein tödlicher Herzinfarkt verhindert werden konnte. 2

Zuspitzung 3

aus MDS-Gutachten 2001 zu Cholinesterase-Hemmern: Zur Beurteilung ihrer klinischen Relevanz wurde eine Experten- Runde eingerichtet. Die Experten beurteilen die positiven Effekte der 3 Antidementiva als klinisch relevant, wenn auch das Ausmaß im Mittel als gering angesehen wird. In Einzelfällen können die positiven Änderungen nach Aussagen der Experten sehr ausgeprägt sein, dem steht ein Anteil von Nonrespondern von ca. 30% gegenüber. 4

aus IQWiG-Bericht 2009 zu Memantine:... Für die Einschätzung der Relevanz eines Gruppenunterschieds bezüglich stetiger Skalen sollten aus der Literatur bekannte Minimal Important Differences (MID) für den Gruppenunterschied berücksichtigt werden. Da für keine der eingesetzten Skalen eine verwendbare MID für den Gruppenunterschied vorlag, wurde eine Berechnung von Cohen s d durchgeführt. Für Cohen s d wurde eine Relevanzgrenze von 0,2 angenommen,... 5

These die Vielschichtigkeit des Begriffes (klinische) Relevanz die Ungenauigkeit von Definitionen und Konzepten die Vielzahl von Lösungsvorschlägen, die kaum praktisch eingesetzt werden legen nahe, dass es für die Bewertung der Relevanz keine triviale Lösung gibt, oder jedenfalls, dass bisher Herangehensweisen und Lösungsvorschläge unbefriedigend sind 6

Äquivalenz (Nicht-Unterlegenheit) Ann Intern Med. 2010;152:1-9. Blutungsrate nach Absetzen von ASS: erwartet 6.7 % Irrelevanzbereich: bis 10 %-Punkte Differenz Ergebnis: Differenz 4.9 %-Punkte [-3.6 ; 13.4] Festlegungen (teilweise informell, implizit, pragmatisch) Test (Quantifizierung notwendig) Grundlagen (Eckpunkte) durch Standardbehandlung Diskussion über Abwägungsnotwendigkeit (anderer Vorteil) wird breit geführt 7

Fragen Suche nach der minimalen relevanten Differenz : MRD Gibt es Methoden, a priori eine Grenze für klinisch relevante Therapieeffekte festzulegen? Falls ja - Wie funktionieren solche Methoden? Wie valide sind sie? Wie sind resultierende MRDs bei der Relevanzbewertung /- prüfung methodisch korrekt anzuwenden?

Systematisierung Methodentyp PbM VbM AbM MbM Präzisionsbasierte Methoden Verteilungsbasierte Methoden Ankerbasierte Methoden Meinungsbasierte Methoden Thomas, S. Klinische Relevanz von Therapieeffekten - Systematische Sichtung, Systematisierung und Bewertung methodischer Konzepte. Dissertation, Universität Essen, 2009

Systematisierung Methoden-Prinzip PbM VbM AbM MbM Berücksichtigung der Mess(un)genauigkeit individueller Veränderungsmessungen Typ-spezifische Stellschrauben Festlegung der relevanten Abweichung vom Erwartungswert bekannter Populationen in festen Beträgen der Standardabweichung mit definierten Variationsmöglichkeiten Verankerung des Endpunktes an eine bzgl. der Relevanz aussage-kräftige Anker-Variable Konstrukt-Validierung Festlegung durch (Experten-) Befragung

Systematisierung MbM (Kosten-) Nutzen-Risiko- Abwägungen W E R T U N G Individuelle Wahrnehmung / Bewertung AbM Normen / Standards VbM Zufallsschwankungen Reliabilität der einzelnen Messung PbM N A C H W E I S B A R K E I T

AD2000 (2004)

Einzeln vs. Gruppe Fälschliche Interpretation eines Effekts mittels individueller MRD 0,07 0,06 MRD= min = 5pt Effekt : 3pt 0,05 0,04 0,03 Placebo Verum 0,02 0,01 0 15 10 5 0 5 10 15 Diff. auf Kognitions- Skala (~NV)

Einzeln vs. Gruppe Fälschliche Interpretation eines Effekts mittels individueller MRD 0,07 MRD= min =5pt 0,06 0,05 0,04 0,03 Placebo Verum 0,02 0,01 0 Response-Raten: 18% vs. 34% 15 10 5 0 5 10 15 Diff. auf Kognitions- Skala (~NV)

Einzeln vs. Gruppe Es gibt Vorschläge, wie ein individueller relevanter Response definiert werden kann aber keine Hinweise, wie von der individuell relevanten Veränderung auf die Effektbewertung übergegangen werden soll Warum ist das eine offenbar einfacher als das andere? These (durch Sichtung methodischer Konzepte gestützt): Die Grundlage jeder Relevanzdiskussion ist ein Werturteil. Auf dessen Basis kann das Problem formal behandelt werden. Individuell kann dies noch gelöst werden (oder man tut so, als ob), auf der abstrakten Gruppenebene nicht (so leicht).

Einzeln vs. Gruppe Die Schwierigkeit der Lösung führt dazu, dass formale Lösungsansätze erdacht werden, die das Grundproblem nicht berücksichtigen das Problem ignoriert wird die Diskussion durch wiederkehrende Missverständnisse geprägt ist, die u.a. die Aspekte individuelle vs. Gruppenunterschiede Effektschätzer Fallzahlplanung umfassen

Fazit Further research is needed 1. Multidimensionalität von Relevanz-Bewertungen in die Diskussion holen Fragen zur Zahlungsbereitschaft von der klinischen Relevanzbewertung trennen 2. Forschungsbedarf 1. Verfahren zur Etablierung von Responsekriterien bei Gesundheitsskalen 2. Methoden bei Betrachtung multipler Endpunkte 3. Einbezug von Entscheidern / Patienten aber: Institutionen im deutschen Gesundheitswesen sind heute gefordert, Relevanzbewertungen abzugeben...

Optionen 1. (allgemeine) quantitative Regel, z.b. StDiff 0.x; RRR 0.x 2. enger (formal orientierter) Rahmen a. Betrachtung mehrerer Endpunkte b. Einbezug von Entscheidern / Patienten 3. weiter (kriterien-basierter) Rahmen (z.b. Schwere der Erkrankung, Behandlungsalternativen, Sicherheit) 4. situationsbezogene Abwägung / Bewertung basierend auf einem Werturteil!