Von Dezentralität über Partikularismus zu Pluralismus: Vielfalt als Konstante deutscher Sprachgeschichte

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Transkript:

Prof. Dr. Thorsten Roelcke Von Dezentralität über Partikularismus zu Pluralismus: Vielfalt als Konstante deutscher Sprachgeschichte Vortrag zum Thema Sprachentwicklung und Sprachbewusstsein in Deutschland im Rahmen des Fachkolloquiums Unser Bezug zur Sprache Sprachkultur in Frankreich und Deutschland: Unterschiede, Berührungen, Grenzgänge (9. Oktober 2017 im Haus des Buches, Frankfurt a.m.) Vor genau zehn Jahren brachten Klaus Wiegrefe und Dietmar Pieper einen Band über die deutsche Geschichte heraus und gaben diesem den Titel Die Erfindung der Deutschen. Sie vertraten hierbei die (nicht ganz neue) These, dass Deutschland als eine politische oder soziale Einheit letztlich erst seit dem 19. Jahrhundert bestehe und zwar als Reaktion auf die Ergebnisse des Wiener Kongresses von 1814/15 und die Reichsgründung im Jahre 1871. Die Begeisterung für ein deutsches Vaterland der bürgerlichen Intellektuellen und der Vertreter des niederen Adels, die sich gegen Pauperismus und Partikularismus wandte, erfuhr während der deutschen Revolution 1848/49 indessen einen herben Dämpfer und wurde dann mit der Gründung eines deutschen Nationalstaats unter der Vormacht Preußens ganz anders beantwortet als ursprünglich intendiert (und verstand sich vielmehr als eine Neuauflage des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das erst 1806 sein Ende gefunden hatte). Und tatsächlich kann bis hin zu den Ereignissen des sogenannten langen 19. Jahrhunderts, welches von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg reicht und durch eine enge Verflechtung deutscher und französischer Geschichte geprägt ist, kaum von einer deutschen Nation, geschweige denn von einem deutschen Staat die Rede sein. Vielmehr prägen Dezentralität und Partikularismus die deutsche Geschichte seit dem frühen Mittelalter. Und dennoch ist hier ein Zusammenhang zu erkennen, der über alle sozialen, politischen und auch kulturellen Unterschiede hinweg besteht die gemeinsame Sprache! Doch auch diese deutsche Sprache ist alles andere als einheitlich, im Gegenteil: Sie ist noch bis in das 17. Jahrhundert in starkem Maße durch das Bestehen vieler Mundarten geprägt, sodass immer wieder Bemühungen erforderlich werden, eine sprachliche Vereinheitlichung über die zahlreichen politischen Grenzen hinweg herzustellen. Vor diesem Hintergrund möchte ich in meinem Vortrag einige dieser Bemühungen nachzeichnen und am Ende einige Überlegungen zur Zukunft der deutschen Sprache anstellen. Das Wort deutsch leitet sich aus der mittellateinischen Wortverbindung lingua theodisca ab, mit der im Reich Karls des Großen die altfränkische Volkssprache bezeichnet wurde also die Sprache all derer, die weder Lateinisch noch eine frühromanische bzw. vulgärlateinische Mundart sprachen. Deutsch ist in diesem Sinne zunächst also eher ein exklusiver als ein inklusiver Begriff und bezieht sich auf eine Personengruppe, die über den Gebrauch einer Sprache bestimmt wird und der bestimmte Rechte eingeräumt werden. Erst später etwa im sog. Annolied um die Wende vom 11. 1

zum 12. Jahrhundert erscheint das Wort in volkssprachlichen Wendungen wie diutischi liuti, diutschi man oder diutschi lant und lässt so eine erste sprachlich kulturelle Identifikation der Menschen in Mitteleuropa erkennen. Die Bemühungen Karls des Großen um eine gemeinsame deutsche Sprache entsprechen mehr dem Wunschdenken deutschtümelnder Sprachdenker als sprachhistorischer Wirklichkeit: Die berühmte karolingische Bildungsreform hatte zwar durchaus die Missionierung der germanischen Bevölkerung zum Ziel; sprachpolitisch brachte das Konzil von Tours im Jahr 813 indessen eine Festigung der vulgärlateinisch romanischen Predigtsprache mit sich und gilt seither als eine Art Geburtsstunde der Romanistik. Eine echte Zweisprachigkeit von Althochdeutsch neben Altfranzösisch belegen später etwa die Straßburger Eide aus dem Jahr 842. Die zentralistische Politik der Kapetinger protegierte seit dem Ende des 10. Jahrhunderts den franzischen Dialekt um Paris, welcher mit den Albigenserkreuzzügen im 13. Jahrhundert als eine überregionale Hochsprache bis an das Mittelmeer vordrang. Demgegenüber war die politische und damit auch die sprachliche Situation im deutschen Sprachraum zu dieser Zeit durch Dezentralität gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang kann jedoch mit Blick auf die sogenannte Blütezeit der mittelhochdeutschen Dichtung wenigstens eine gewisse Überregionalität ausgemacht werden: Epiker wie Hartmann von Aue oder Gottfried von Straßburg und viele Minnesänger wie Walther von der Vogelweide zogen von Hof zu Hof und waren bei der Darbietung ihrer Werke auf eine breitere Verständlichkeit angewiesen. Diese versuchten sie durch einen Ausgleich dialektaler Varianten zu erreichen eine Tendenz, die der bekannte Mediävist Karl Lachmann im 19. Jahrhundert bei der Entwicklung des normalisierten Mittelhochdeutschen aufgegriffen und editorisch umgesetzt hat. Die sprachliche Grundlage der mittelhochdeutschen Dichtersprache bildete der schwäbischalemannische Raum im Südwesten des deutschen Sprachgebiets. Letztlich ist von dieser hoch artifiziellen Sprache in der deutschen Standardsprache der Gegenwart indessen kaum mehr etwas Spezifisches zu finden. Sie vergeht schlicht und ergreifend bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts mit dem Niedergang des Rittertums und all den Katastrophen, die Europa unter anderem mit der Beulenpest von 1347 bis 51 oder dem Kirchenschisma von 1378 bis 1417 heimsuchen und teils mit erheblichen sozialen, ökonomischen wie kulturellen Veränderungen verbunden sind. Dieser Einschnitt ist im Ganzen so erheblich, dass die deutsche Sprachgeschichte mit der Mitte des 14. Jahrhunderts gerne in zwei große Epochen geteilt wird: die des älteren (mittelalterlichen) und die des neueren (neuzeitlichen) Deutsch. In der sich nun also anschließenden frühen Neuzeit waren es dann Technik und Verwaltung, die für einen überregionalen Sprachausgleich verantwortlich zu machen sind. Dies gilt zum einen für die Erfindung des Buchdrucks im Jahr 1450, die eine überregionale Leserschaft nicht nur technisch machbar, sondern auch ökonomisch zunehmend sinnvoll erscheinen ließ. Zum anderen ist ein sprachlicher Ausgleich in den sogenannten Kanzleisprachen größerer Verwaltungseinheiten zu entdecken, etwa in der Maximilianischen Kanzleisprache (der sog. Reichssprache), dem Prager Kanzleideutsch oder der Wiener Kanzleisprache, die sich bereits früh gegenüber ihren nieder und 2

westmitteldeutschen Varianten durchsetzen. Deren Beitrag zur Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache ist jedoch letztlich noch verhältnismäßig gering; von größerer Bedeutung sind hier die ostmitteldeutschen Verwaltungssprachen in Meißen und Dresden: Letztere, die sogenannte Sächsische Kanzleisprache, bildete denn auch die Grundlage für die sprachlich überregional vereinheitlichende Bibelübersetzung Martin Luthers im Jahre 1522. Der Beitrag von Luthers Bibelübersetzung zur Entwicklung der deutschen Literatur oder Standardsprache sollte nach neueren Erkenntnissen der Germanistik nicht überschätzt werden. Dennoch ist es unstrittig, dass sich mit Ende des 17. Jahrhunderts die ostmitteldeutsche Sprachvariante aufgrund der politischen, ökonomischen und kulturellen Dominanz des sächsischen Raums gegenüber der oberdeutschen durchsetzten und somit die Grundlage für zahlreiche weitere Bemühungen um eine deutsche Sprachnorm bilden konnte. Auch hier kommt wieder einmal die europäische und insbesondere die deutsch französische Geschichte ins Spiel: Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs mit dem Westfälischen Frieden von 1648 wurden im deutschen Sprachraum insbesondere Latein und Französisch in Wissenschaft und Verwaltung gesprochen und geschrieben. Und genau dies war nun Anlass für viele Sprachdenker des Barock und der Aufklärung, sich nach dem Vorbild der Accademia della Crusca in Florenz (1583) zu diversen Sprachgesellschaften zusammenzuschließen und an der Entwicklung einer deutschen Literatursprache zu arbeiten. Die bekannteste dieser Gesellschaften war sicher die Fruchtbringende Gesellschaft, deren Gründung bereits auf das Jahr 1617 in Köthen zurückgeht. Damit war die Fruchtbringende Gesellschaft übrigens nahezu 20 Jahre älter als die Académie française, die erst 1635 von Kardinal Richelieu gegründet wurde und bis heute das Ziel der Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache verfolgt im Unterschied zur Fruchtbringenden Gesellschaft, die bereits Ende des 17. Jahrhunderts wieder ihren Niedergang erleben musste. Die sprachpflegerischen Bemühungen im Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts entsprangen nicht selten aus einem Purismus gegenüber anderen europäischen Sprachen, oftmals gegenüber dem Französischen, das zu dieser Zeit in Adelskreisen weit verbreitet war. Sie dürfen hierauf jedoch nicht reduziert werden sind sie doch durchaus als eine ganzheitliche Bildungsinitiative bürgerlicher Kreise und solcher des niederen Adels zu verstehen, die sich auch gegen den politischen Partikularismus der Zeit richtete. Herausragende Ergebnisse in den neuzeitlichen Bemühungen um eine deutsche Literatursprache sind zum Beispiel Grammatiken wie die Ausführliche Arbeit von der deutschen HaubtSprache von Justus Georg Schottel (1663), die Grundlegung einer deutschen Sprachkunst von Johann Christoph Gottsched (1748) sowie das fünfbändige Grammatisch kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart und die Deutsche Sprachlehre für Schulen von Johann Christoph Adelung (1774 81 bzw. 1781). Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts waren es dann aber auch wieder Schriftsteller, die zu der Etablierung einer überregionalen deutschen Sprache (und Kultur) beitrugen man denke etwa an Gotthold Ephrahim Lessing, Friedrich Schiller oder allen voran Johann Wolfgang von Goethe. Nicht zuletzt der Sprachgebrauch der deutschen Klassik sicherte nach Peter von Polenz, einem der 3

bedeutendsten Sprachhistoriker unserer Zeit, die kulturelle Legitimation der deutschen Sprache und erwies sich nun auch außerhalb der Literatur als (oft unerreichtes) Vorbild für andere sprachliche Bereiche wie etwa Wissenschaft oder Publizistik. Von hier aus war es dann nicht mehr weit, bis sich diese einheitliche deutsche Sprache auch in weiten Teilen der Bevölkerung (mehr oder weniger deutlich) durchzusetzen vermochte und letztlich auch zu deren gemeinsamen nationalen Bewusstsein beitrug unter anderem auch unterstützt durch mediengeschichtliche Neuerungen wie die Erfindung der Rotationspresse (1845) und die sukzessive Einführung einer allgemeinen Schulpflicht (bis 1900). Die Deutsche Bühnenaussprache von Theodor Siebs (1898) und das bekannte Orthographische Wörterbuch von Konrad Duden (1880) stellen hier nur Schlusspunkte einer Entwicklung dar, die neben den bereits erwähnten Editionen Lachmanns auch bedeutende sprachhistorische Werke wie die vierbändige Deutsche Grammatik von Jacob Grimm (1819 37) oder das Deutsche Wörterbuch umfasst, dessen erster Band von Jacob und Wilhelm Grimm bereits 1854 veröffentlicht und das selbst erst 1960 mit dem 33. Band abgeschlossen wurde. Trotz dieser Entwicklung darf jedoch nicht vergessen werden, dass weite Teile des deutschen Sprachgebietes bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts noch stark dialektal geprägt sind und der Erwerb der deutschen Standardsprache insbesondere in den südlichen Teilen einen wichtigen und bisweilen schwierigen Teil der Schulausbildung bildete und zum Teil sogar noch bis heute bildet. Insofern war und ist der deutsche Partikularismus noch bis in die Gegenwart deutlich zu spüren ganz anders als in Frankreich, wo der Zentralismus politisch wie auch sprachlich manifest ist. Insbesondere in Österreich und in der Schweiz stellt die deutsche Schriftsprache noch immer so etwas einen Fremdkörper dar, gegenüber dem die eigene Mundart oft und gerne gepflegt wird, nicht zuletzt auch, um sich gegenüber dem Nachbarn im Norden abzugrenzen. Über den Sprachgebrauch des Nationalsozialismus (1933 45) oder sprachliche Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zur Zeit der deutschen Teilung (1949 90) wurde seitens der germanistischen Linguistik intensiv geforscht. Für unsere Fragestellung nach der Einheit der deutschen Sprache sind diese beiden Kapitel der deutschen Sprachgeschichte indessen nur wenig ergiebig. Ganz anders schaut dies jedoch mit Blick auf einige jüngere Entwicklungen des Deutschen in den letzten Jahrzehnten und in der Gegenwart aus. Dabei erscheinen insbesondere die Technisierung, die Internationalisierung, die Demokratisierung und die Digitalisierung der sprachlichen Kommunikation von besonderer Bedeutung: Die Technisierung besteht darin, dass das moderne Deutsche zunehmend fachsprachlichen Einflüssen unterliegt, sei es etwa in der Kommunikation mit der Verwaltung oder im mündlichen wie schriftlichen Kontakt mit dem Gesundheitswesen. Eine Internationalisierung zeigt sich nicht allein in vielen Texten, die wir in englischer Sprache zu rezipieren und auch zu produzieren haben; sie lässt sich auch an der Zahl moderner Anglizismen ablesen, die schon längst ihre eigenen puristischen Reaktionen hervorgebracht haben. 4

Im Weiteren sind es heute nicht mehr einzelne soziale Gruppen, die die Entwicklung der Sprache bestimmen: In Zeiten fortschreitender regionaler wie sozialer Mobilität kommt diese Rolle vielmehr einer demokratisch organisierten Gesamtbevölkerung zu. Nicht zu vergessen sind schließlich die Einflüsse der modernen Medien: Die Art und Weise sowie das gesamte Ausmaß, wie die digitalen Medien unser sprachliches Verhalten bestimmen (etwa durch Hypertext oder Chatformate), dürfen alles andere als unterschätzt werden. Welche Konsequenzen resultieren nun aus diesen Einflüssen auf die deutsche Sprache der Gegenwart? Nach Jochen Bär, einem hier in Frankfurt lebenden Sprachhistoriker, lassen sich drei zentrale Ausgleichstendenzen des Gegenwartsdeutschen feststellen: Erstens ein Ausgleich zwischen der Standardsprache und anderen (regionalen, sozialen oder funktionalen) Varietäten des Deutschen, zweitens ein solcher zwischen geschriebener und gesprochener Sprache und drittens ein solcher zwischen höheren und niederen Stilebenen. Diesen drei Ausgleichsbewegungen entspricht letztlich eine zunehmende Variation innerhalb der einzelnen sprachlichen Bereiche selbst. Um hier nur wenige Beispiele zu nennen: Die vor einiger Zeit durchgeführte Orthographiereform lässt nun deutlich mehr Rechtschreibvarianten zu als zuvor; in der Wortflexion sind schwache Präteritumformen neben starken weiterhin stark auf dem Vormarsch, während Genitiv und Konjunktiv immer öfter umschrieben werden; alternative Satzbaupläne (etwa die Hauptsatzwortstellung nach weil oder artikellose Sätze) werden mehr und mehr salonfähig und zeigen dabei überdies einen wachsenden sprachlichen Einfluss durch eingewanderte und geflüchtete Personen; Unsicherheiten in der Gestaltung einzelner Textsorten nehmen insbesondere innerhalb der jüngeren Bevölkerung zu. Wachsender Ausgleich und zunehmende Variation beide zusammen sind letztlich Ausdruck eines geringeren sprachlichen Normbewusstseins oder besser vielleicht positiv formuliert: Ausdruck einer wachsenden sprachlichen Flexibilität innerhalb der Bevölkerung im deutschen Sprachraum. Dass diese Dynamik bisweilen auch mit Befürchtungen im Hinblick auf einen möglichen Identitätsverlust einhergeht und örtlich Widerstand hervorruft, zeigt einmal mehr, wie deutlich diese Entwicklung bereits im Bewusstsein der Bevölkerung angenommen ist (auch wenn sie meines Erachtens noch längst nicht hinreichend erforscht wurde). Letztlich sind diese Befürchtungen Ausdruck einer Entwicklung, die auf einen sozialen und kulturellen Pluralismus innerhalb der deutschen Gesellschaft hinausläuft, der in den Augen vieler Menschen bereits Realität geworden ist. Auch der französische Sprachraum ist gegenwärtig durch eine gesellschaftliche Vielfalt geprägt die sprachgeschichtlichen Vorzeichen sind dabei indessen andere: Neben der Dezentralisierung Frankreichs in den 1980er Jahren, die durchaus auch zu einer gewissen Renaissance von Dialekten geführt hat, gilt seit 1994 das nach dem damaligen Kulturminister benannte Loi Toubon, das zum Schutz der französischen Sprache etwa durch die Vermeidung von Anglizismen verpflichtet und durch das Wirken der zentralen Académie umgesetzt bzw. unterstützt wird. 5

Um an dieser Stelle kurz zusammenzufassen: Während sich die Idee eines deutschen Nationalstaats erst im 19. Jahrhundert verwirklicht, zeichnet sich mit dem mittellateinischen Wort theodiscus eine erste sprachliche Einheit mit Blick auf die ausgesprochen heterogene Bevölkerung in der Mitte Europas zur Zeit des frühen Mittelalters ab. Diverse Ansätze eines überregionalen Sprachgebrauchs (etwa mit der mittelhochdeutschen Dichtersprache oder den Kanzleisprachen der frühen Neuzeit) lassen deutlich werden, dass hier trotz aller Dezentralität eine sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeit empfunden und gelebt wird, die eine weitere Ausgestaltung erfordert. Patriotische Bemühungen im 17. und 18. Jahrhundert setzen angesichts eines historisch festgeschriebenen Partikularismus einen Prozess in Gang, in welchem sich aus dem Wirken von Schriftstellern und Wissenschaftlern nach und nach eine einheitliche deutsche Sprache entwickelt und bis zum Ende des 19. Jahrhundert fest etabliert. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts sind nun im deutschen Sprachraum gegenläufige Entwicklungen zu beobachten: Zum einen nähert sich die deutsche Standardsprache zunehmend anderen sprachlichen Varietäten an (wie Mundarten und Fachsprachen); zum anderen ist sie selbst durch eine wachsende Variabilität gekennzeichnet, die sich auf allen Ebenen von der Rechtschreibung über die Grammatik bis zum Text zieht. Sie zeigt dabei (wieder einmal) einen wachsenden Einfluss anderer Sprachen wie des Englischen oder solcher von Eingewanderten und Geflüchteten. Auf diese Weise spannt sich ein sprachgeschichtlicher Bogen von einer Dezentralität im Mittelalter über den Partikularismus in der frühen Neuzeit bis hin zum Pluralismus in der Gegenwart. Die deutsche und die französische Sprachgeschichte zeigen meines Erachtens miteinander durchaus vergleichbare, sagen wir: typisch europäische Entwicklungen. Aus einer Vielzahl einzelner Mundarten profiliert sich aus sozialen, politischen und ökonomischen Gründen ein bestimmter Dialekt, der dann zum Ausgangspunkt der Entwicklung einer nationalen Hoch, Literatur oder Standardsprache wird (wie immer man dies auch nennen möchte). In Frankreich findet dieser Prozess aufgrund der zentralistischen Struktur bereits im Mittelalter statt, im deutschen Sprachraum demgegenüber (trotz vielfältiger Ansätze im Vorfeld) erst in der Neuzeit. Beide Länder sind heute durch gesellschaftlichen Pluralismus gekennzeichnet: Es wird spannend werden zu beobachten, wie sich dieser jeweils mit einem sprach und kulturpolitischen Zentralismus bzw. Föderalismus weiter gestalten lässt. Meines Erachtens können hier beide Nationen mit ihren historischen Erfahrungen und modernen Einsichten im Hinblick auf deren Austarieren erneut eine politische Vorreiterrolle in Europa übernehmen. 6