Vorstellung einer Interviewstudie zu Offenlegungsprozessen nach sexualisierter Gewalt

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Transkript:

Vorstellung einer Interviewstudie zu Offenlegungsprozessen nach sexualisierter Gewalt Fachrunde gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen 21.09.2016

Ablauf Überblick Studie o. Nicht-Erinnern der Gewalt Gründe zu Schweigen oder zu sprechen Sequentielle tisierung Gesellschaftliche

Zentrales Thema Offenlegung sexualisierter Gewalt: Wann funktional zu schweigen, wann zu sprechen? Welche Ziele sind damit verbunden?

Verständnis Disclosure (Offenlegung) ist ein lebenslanger Prozess, immer wieder muss eine Entscheidung für oder gegen eine Offenlegung getroffen werden. Diese individuellen Offenbarungssituationen sind eingebettet in ein Stigma- Management, das Betroffene entwickeln müssen.

Interviews 44 Frauen & 14 Männern, denen sexualisierter Gewalt widerfahren ist Zwischen März und Dezember 2012 größte uns bisher bekannte qualitative Untersuchung zur Offenbarungsbereitschaft nach sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend.

Inhaltsanalytisch & hermeneutisch Verdichtung der Interviews zu fallspezifischen Profilen zur Systematisierung von Betroffenengruppen Kontrastierung Auswertung in ges. Kontext

Erste Feststellung Keine befragte Frau und kein befragter Mann hatte in der Kindheit das sexuelle Gewaltverhältnis insofern erfolgreich offengelegt, als sie zeitnah Schutz und Unterstützung erhalten hätten. Die gelang erst bei späteren Offenbarungen und galt sowohl für die Älteren als auch die Jüngeren

Erinnern & Nicht-Erinnern Vorgänge des Erinnerns und des Vergessens sind für das Verständnis von Offenbarungsverläufen zentral 2 Richtungen: gegenüber Erinnerungen ausgeliefert oder handlungsfähig

Erkennen der Gewalt erfordert Erinnern und Wissen: Zwischen einem unbewussten tacit knowledge, dass die Übergriffe irgendwie nicht in Ordnung sind, und einem Wissen über den sexuellen Missbrauch, das als explizit einzustufen ist, kann ein Zwischenraum bestehen, in dem Wissen und Nicht-Wissen parallel existieren.

Schweigen & 4 Motive zu Schweigen 1. Das Aufrechterhalten bestehender Lebensverhältnisse 2. Der Schutz von sich selbst oder anderen 3. Fehlende Ressourcen 4. Eine Deutung der Gewalt als normal

Schweigen & 7 Pushfaktoren zu 1. Mitteilungsdrang nach Ereignis 2. Leid akut nicht mehr aushaltbar 3. Leid nach Ende der Gewalt nicht aushaltbar 4. Kritische Lebensereignisse 5. Krisen in Beziehung & Sexualität 6. Verringerung des Schweigedrucks 7. Stabilität und Sicherheit

Schweigen & 3 Pullfaktoren zu 1. Gewalt soll aufhören 2. Wunsch nach Entlastung / Veränderung 3. Wunsch professionelle Hilfe zu finden

Reaktionen Nicht Glauben Nicht-Wissen oder Halbwissen Relativierung Stereotype Erwartungen Trauer und Schuldgefühle Eigeninteressen Ungeduld und Überforderung

Erfahrungen im Hilfesystem Frauen in Einzel- o. Gruppentherapie, Selbsthilfegruppen Erfahrungen überall durchwachsen Mir ist wichtig, dass ich die Kontrolle behalte, dass ich sozusagen der Boss bin und dass mein Therapeut der Hilfssheriff ist. Und da hat die gute Frau gesagt, das trag ich mit, das ist okay für mich. Das war klasse.

Erfahrungen im Hilfesystem Männer: Es gibt kaum Angebote, wenn dann Therapie, aber Erfahrungen dort durchwachsen Wenn Selbsthilfe (teilweise selber gegründet) dann Erfahrung eher positiv: Sehen, dass es auch andere gibt.

Sequentielle tisierung Entwickelt von Hans Keilson in der Arbeit mit Kindern die den Holocaust überlebt haben. Nicht ein einmaliges Ereignis macht aus, dass Gewalt traumatisch wirkt, sondern eine ganze Kette von Ereignissen.

Gesellschaftl. Kulturwissenschaftlich gibt es vier Formen und Akteure des Erinnerns: Individuell Soziale Gruppe Politisches Kollektiv Kultur Das individuelle Erinnern ist abhängig von der Einbindung in eine soziale Gruppen: Familie, Schuljahrgang, Partei, Selbsthilfegruppe,

Erinnern durch Einodnung Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden

Empfindung - Erinnerung Ob sexualisierte Gewalt als das, was sie bedeutet, erinnert werden kann, also nicht nur vom Individuum erlebt, sondern als das, was sie ist, gedeutet und verstanden werden kann, hängt davon ab, ob sexualisierte Gewalt im sozialen Umfeld und Bezugsrahmen Thema sein darf.

Kollektive Erinnerung Ziel muss es sein, nicht länger auf heilsames Vergessen zu hoffen, sondern auf Bewusstwerden, Anerkennung, Verantwortungsübernahme und gemeinsames Erinnern zu bestehen.

Kollektive Erinnerung Sowohl in Familiengeschichten, die an folgende Generationen weitergegeben werden, als auch in das Selbstverständnis und die Geschichtsschreibung von Institutionen und auf die Diskussion auf politischer Ebene muss die Erinnerung der Betroffenen aufgenommen werden.

Kollektive Erinnerung Wenn sie öffentlich und lebendig bleibt, könnte dies einer der wirksamsten präventiven Faktoren werden, die wir kennen.

Danke Kontakt: www.tauwetter.de