Wöhrer. Dokumentation als emanzipatorische Praxis

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BERLINER SCHRIFTEN ZUR KUNST herausgegeben vom KUNSTHISTORISCHEN INSTITUT DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN 2015

Renate Wöhrer DOKUMENTATION ALS EMANZIPATORISCHE PRAXIS Künstlerische Strategien zur Darstellung von Arbeit unter globalisierten Bedingungen Wilhelm Fink

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Sonderforschungsbereichs 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Umschlagabbildung: Installationsansicht Chat(t)er Gardens. Stories by and about Filipina Workers in der Ausstellung Moira Zoitl und Ricarda Denzer, Kunsthalle Exnergasse, Wien, 2007, Moira Zoitl Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. D 188 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. 2015 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Satz: sapotage / Sabine Potuschak Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5341-9

Inhalt VORWORT... 7 EINLEITUNG... 9 Dokumentarismen in der bildenden Kunst...11 Themenfeld Arbeit...14 Auswahl der Werke...21 Aufbau der Arbeit...24 ALLAN SEKULAS FISH STORY (1990-1995)... 27 Darstellungsstrategien...34 Sequenzen...35 Fischen im Meer der Bilder...47 Künstlerische Traditionen...47 Dokument und Beweis/Fakt und Fiktion...51 Bild-Text-Verhältnis...57 Die Bildbeschriftungen...57 Kapiteltexte...64 Der Essay Dismal Science...72 Fotoessay...73 Bilder der Arbeit...76 Bewegung in der Zeit...76 Chronofotografie...77 Zweite Blicke...87 Verdopplung...91 Die einzelnen Arbeitsbereiche...95 Werftarbeit...95 hafenarbeit...116 A arbeiten am Schiff...124 Fische/-n...127 Zusammenfassung Arbeitsdarstellungen...130 Vergleiche mit anderen künstlerischen Dokumentationen...136 Oliver Tjaden und Christoph Rasch: Cargonauten...136 H harun Farocki: Vergleich über ein Drittes...143 T timm Rautert: Gehäuse des Unsichtbaren...150 Sozialwissenschaftliche Erklärungsmuster...152

MOIRA ZOITLS CHAT(T)ER GARDENS. STORIES BY AND ABOUT FILIPINA WORKERS (2002-2008)...157 Darstellungsstrategien...161 Installation als Präsentationsform...161 Die Videos...166 A auftreten im öffentlichen Raum...166 H Schutzeinrichtungen und Hilfsorganisationen...171 hausangestellte bei der Arbeit...174 Zusammenfassung der Analysen der Videos...177 Die Fotografie Exchange Square...178 Die Broschüre...182 Die Newsletter...194 Weitere Elemente und Präsentationsformen des Projektes...200 Das Projekt als Plattform...203 Thematische Schwerpunkte...214 handlungsspielräume...214 Strukturelle Bedingungen und gesamtgesellschaftliche Perspektiven...218 Wer spricht?...219 Politiken der Sichtbarkeit...224 Bilder der Arbeit...227 Struktur und Genese der Hausarbeit als Arbeitsform...228 Darstellungen von Hausarbeit...232 Sonntags in Rom. Vergleich mit einem Kunstprojekt Alexander Vaindorfs...240 VERGLEICHENDE SCHLÜSSE...253 Was kommt ins Bild? Zusammenhänge von Visualisierungsarten und dargestellten Arbeitsformen...253 Arbeitsverhältnisse...256 Verhältnis der künstlerischen Arbeitsformen zu den dargestellten Arbeitsformen...262 Interdependenz von AutorInnenschaft und Blick auf die Dargestellten...270 Dokumentarische Darstellungsstrategien...272 Dekonstruktion als Legitimierungsverfahren...275 Arbeiten an den Signifikationsprozessen...277 FARBABBILDUNGEN...283 LITERATURVERZEICHNIS...303 Homepages...315 ABBILDUNGSNACHWEIS...316

Vorwort Das vorliegende Buch beruht auf meiner Dissertation, die 2010 an der Freien Universität Berlin eingereicht wurde. Die Fragestellung der Studie hat sich aus meiner Beschäftigung mit Allan Sekulas Schaffen entwickelt und ist maßgeblich von der regen außeruniversitären Forschungs- und Diskurslandschaft in Wien in den 1990er und 2000er Jahren geprägt. Dort konnte ich von den Auseinandersetzungen mit den Britischen Cultural Studies, den Postcolonial Studies, den Gender Studies usw. profitieren und Analysekriterien erlernen, die auch in diese Studie eingeflossen sind. Viele Menschen haben zur Entstehung dieses Buches beigetragen, bei denen ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchte. Ohne das tatkräftige Engagement von Daniela Hammer-Tugendhat und Karin Gludovatz hätte die Arbeit daran gar nicht erst begonnen. Ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft hat die materielle Grundlage geschaffen, ebenso der Sonderforschungsbereich 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste in Form eines Druckkostenzuschusses. Meine BetreuerInnen Daniela Hammer-Tugendhat und Klaus Krüger haben mich auf vielfältige Weise unterstützt und gefördert. Wertvolle Hinweise und produktive Diskussionen verdanke ich Mathias Danboldt, Karin Gludovatz, Christina Natlacen, Caroline Philipp, Gudrun Ratzinger, Petra Schmid, Astrid Silvia Schönhagen, Elke Sodin, Christian Tedjasukmana und Veronika Wöhrer, ebensowie den TeilnehmerInnen der Kolloquien meiner BetreuerInnen. Besonders möchte ich Leena Crasemann und Sandra Frimmel für die gründliche Durchsicht des Manuskriptes danken. Allan Sekula und Moira Zoitl standen mir dankenswerterweise für Gespräche zur Verfügung. Leider wird Allan Sekula ( 2013) die Ergebnisse dieser Studie nicht mehr lesen können. Ich hoffe aber, dass sie dazu beitragen kann, die Erinnerung an ihn aufrechtzuerhalten und die Rezeption seines Schaffens zu vertiefen. Moira Zoitl danke ich für die großzügige Bereitstellung von Bild- und Informationsmaterial, ebenso wie Alexander Vaindorf. Harun Farocki, Timm Rautert und François Rousseau gaben mir freundlicherweise die Abdruckgenehmigung für ihre Bilder. Ohne die Unterstützung in technischen Belangen von Corinna Schweda und Jochen Hennig wäre diese Arbeit niemals fertig geworden. Ebenso wenig ohne die rasche und unkomplizierte Anfertigung der Reproduktionsfotos durch Hubert Graml. Für das Korrektorat möchte ich Astrid Silvia Schönhagen und für den Satz

8 Vorwort Sabine Potuschak danken. Daniel Bonanati hat die Publikation im Fink Verlag mit großer Geduld betreut. Last but not least möchte ich mich ganz herzlich bei allen Freundinnen und Freunden bedanken, die mit all den fachfremden Kleinigkeiten geholfen haben, die für die Arbeit an dem Buch ebenso wichtig waren. Sie haben mit viel Geduld und Mitgefühl die Phasen der intensiven Arbeit mitgetragen. Meinen Eltern danke ich dafür, dass sie mich immer ermutigt haben, meinen Weg zu gehen.

Einleitung Je genauer wir versuchen, das Wesen des Dokumentarischen festzuhalten, desto mehr entzieht es sich in den Nebel vager Begrifflichkeiten. 1 Arbeit zu definieren, (...) gleichsam einen gültigen Oberbegriff für unterschiedliche historisch konkrete Arbeitsweisen zu setzen, scheitert bzw. erscheint immer als ungenügend, immer etwas negierend oder auslassend. Dem Verhältnis zur Arbeit geht es wie dem Geschlechterverhältnis: immer schon ein gesetztes, ein kulturell Konstruiertes [sic!] und dennoch bleibt dieser Stachel des Realen, der Assoziationsbedürfnisse weckt, Verschiebungen verlangt und das Erleben sowie Verständnis von Arbeit als nicht identisch mit dem Begriff davon erklärt. 2 Wie diese beiden Zitate anklingen lassen, werden in dem vorliegenden Buch zwei Phänomene zur Überschneidung gebracht das Dokumentarische und Arbeitsformen, die auf den ersten Blick völlig klar und evident erscheinen, sich bei genauerer Betrachtung einer exakten Bestimmung aber zunehmend entziehen. Zudem sind beide gegenwärtig Transformationsprozessen ausgesetzt, die sie schwerer fassbar machen und vermehrt in die öffentliche Diskussion einbringen. In der hier vorgenommenen Überschneidung werden die Konkretisierungen dieser beiden Phänomene in bestimmten kulturellen, sozialen, geografischen und zeitspezifischen Situationen anhand von Werken der bildenden Kunst analysiert. In diesem Kontext werden seit den 1990er Jahren die Veränderungen in der Arbeitswelt vermehrt thematisiert 3 und dokumentarische Darstellungsformen gehäuft eingesetzt 4 sowie deren Möglichkeiten und Bedingungen kritisch hinterfragt. 1 steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit, Wien 2008, S. 8. 2 riegler, Johanna: Theoretische und historische Reflexion des modernen Arbeitsbegriffs, in: Betz, Fritz; dies.: Bilder der Arbeit im Spätkapitalismus. Zum strategischen Machtverhältnis von Arbeit, Selbst und Technologien, Wien 2003, S. 11-67, 11. 3 als Beispiele allein aus dem deutschsprachigen Raum seien folgende Ausstellungen angeführt: Faktor Arbeit, 9. 5. - 1. 6. 1997, NGBK Berlin; Work and Culture Büro. Inszenierung von Arbeit, 18. 6. - 4. 10. 1998, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum; real[work] werkleitz biennale, 5. - 9. 7. 2000, Tornitz und Werkleitz/Sachsen-Anhalt; Arbeitswelten, 2001-2005, museum in progress, Wien, in Kooperation mit der Arbeiterkammer Wien; Nomad Job, 17. 3. - 23. 3. 2003, Sparwasser HQ, Offensive für zeitgenössische Kunst und Kommunikation Berlin; Permanent produktiv: Ökonomie und Obsession, 17. 6. - 24. 7. 2004, Kunsthalle Exnergasse, Wien; Tätig Sein, 1. 5. - 13. 6. 2004, NGBK Berlin; Construction of One, 10. 2004-4. 2005, 140 wechselnde Standorte in Wien, museum in progress, Wien; Schöne Arbeit

10 Einleitung Dokumentarische Darstellungsformate wurden im Bereich der visuellen Medien in den letzten 20 Jahren durch technische und mediale Entwicklungen sowie durch neue Zirkulations- und Anwendungsformen von Bildern, wie beispielsweise Digitalisierung, Verbreitung über das Internet, Videoüberwachung etc., grundsätzlichen Umstrukturierungen unterworfen. Auch auf der Ebene der Theorie wurden im Zuge des Poststrukturalismus sämtliche Bezugspunkte der Definitionen spezifisch dokumentarischer Referenzverhältnisse auf außerbildliche Realitäten, wie etwa Objektivität, Wahrheit, Authentizität usw., in Frage gestellt und neu konzeptualisiert. Diese veränderten Grundbedingungen haben dokumentarische Darstellungspraktiken aber nicht geschwächt, sondern ganz im Gegenteil ist deren vermehrter Einsatz in den Massenmedien und in der bildenden Kunst zu beobachten. Erwerbsarbeit erfuhr im Zuge der Transformation der sogenannten Industriestaaten zu Dienstleistungsgesellschaften sowie der Veränderungen in Arbeitsorganisation und Unternehmensstrukturen durch technische Innovationen der Telekommunikation, Datenverarbeitung etc. einen strukturellen Wandel. Seit den 1990er Jahren ist eine Fülle an breit rezipierter Literatur erschienen, die einerseits von einem Ende der Arbeit 5 und andererseits von einer Durchdringung der gesamten Lebenswelt von Erwerbslogik spricht. 6 Die klassischen Arbeitsformen lösen sich auf und neue Beschäftigungsverhältnisse entstehen, in denen die Trennung zwischen Freizeit und Arbeit zunehmend hinfällig wird. In den Industrieländern vollzieht sich ein Wandel in den dominanten Arbeitsformen von Tätigkeiten, die Zur Ökonomischen Situation von Kulturarbeit, 27. 4. - 15. 5. 2005, Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle; Office Hours. Strukturwandel der Arbeitswelten, 16. 4. - 29. 5. 2005, NGBK Berlin; Arbeitshaus: Einatmen Ausatmen!, 1. 5. - 17. 7. 2005, Kunsthaus Dresden, Städtische Galerie für Gegenwartskunst; Arbeite mit, plane mit, regiere mit!, 12. 12. 2004-6. 2. 2005, Kasseler Kunstverein Fridericianum e.v., Kassel; Arbeit* A: aml. E: work, labour. F: travail. R: trud, rabota. S: trabajo. C: laodong, 4. 6. - 14. 8. 2005, Galerie im Taxispalais, Innsbruck; normal love: precarious sex, precarious work, 19. 1. - 4. 3. 2007, Künstlerhaus Bethanien, Berlin; Work Fiction. Zukunftsvisionen der Arbeit in Kunst, Film und Populärkultur, 31. 8. - 4. 11. 2007, Kunstverein Wolfsburg; /unvermittelt... für einen Arbeitsbegriff jenseits von Überarbeitung und Mangel, 13. 12. 2008-1. 2. 2009, NGBK Berlin; Arbeit/Labour Set 7 aus Sammlung und Archiv des Fotomuseum Winterthur, 11. 9. 2010-8. 5. 2011, Fotomuseum Winterthur; Wanderarbeiter. Fotografien einer neuen Arbeiterklasse, 15. 11. 2013-2. 3. 2014, Museum der Arbeit, Hamburg. 4 Ein breit diskutiertes Beispiel ist die Konzentration von dokumentarischen Kunstprojekten auf der documenta 11, 8. 6. - 15. 9. 2002, Kassel, aber auch auf der Manifesta 8, 9. 10. 2010-9. 1. 2011, Murcia und Cartagena. Die Ausstellungen Wirklich wahr! Realitätsversprechen der Fotografie, 6. 6. - 26. 9. 2004, Ruhrlandmuseum Essen; The Need to Document, 19. 3. - 1. 5. 2005, Kunsthaus Baselland und Archive Fever: Uses of the Document in Contemporary Art, 18. 1. - 4. 5. 2008, International Center of Photography New York sind nur einige Beispiele für die Thematisierung des vermehrten Auftretens dokumentarischer Kunstformen in der kuratorischen Praxis. 5 rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt am Main 1995. 6 zu nennen wären hier beispielsweise Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998; Müller, Severin: Phänomenologie und philosophische Theorie der Arbeit. Lebenswelt Natur Sinnlichtkeit, Bd. I, München 1992; Boltanski, Luc; Chiapello, Eve: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.

Einleitung 11 auf materielle Produktion gerichtet sind, zu immaterieller Arbeit, die in flexibleren Organisationsstrukturen geleistet wird. Ausgehend von den so skizzierten Entwicklungen steht die Frage im Zentrum des vorliegenden Buches, wie diese Veränderungen in der Arbeitswelt mittels dokumentarischer Bildpraktiken im Bereich der bildenden Kunst dargestellt werden. Dabei werden solche künstlerischen Positionen untersucht, die ihre Darstellungspraxis mit einem politischen Anspruch verbinden und damit gezielt in die gegenwärtigen Diskurse einzugreifen versuchen. Dokumentarismen in der bildenden Kunst In den letzten Jahren wurde der Konjunktur dokumentarischer Darstellungsformen in der Kunst seit Mitte der 1990er Jahre auch auf Seiten ihrer theoretischen Aufarbeitung Rechnung getragen. Es wurde versucht, die Gründe für die vermehrte Verwendung dokumentarischer Bildpraktiken darzulegen und die kunstimmanenten Entwicklungen nachzuzeichnen, die zu diesem Boom führten. 7 Es gab zahlreiche Versuche, die Neukonzeptualisierung des Dokumentarischen unter den veränderten Vorzeichen der medialen und theoretischen Entwicklungen zu fassen, wobei eine grobe Unterscheidung der Positionen in realistische und konstruktivistische getroffen wurde. 8 Während erstere den Glauben an eine Abbildung der Wirklichkeit mittels dokumentarischer Techniken bemühen, betonen letztere die Konstruiertheit dieser Art visueller Evidenzerzeugung und behandeln das Referenzverhältnis dokumentarischer Bildpraktiken auf außerbildliche Wirklichkeiten und deren Ästhetiken als kulturelle Codes. Realität selbst wird dabei als erst in der Wahrnehmung und durch ihre Darstellung hergestellte verstanden. In Beschreibungen zeitgenössischer dokumentarischer Kunstpraktiken wurde immer wieder auf die wechselseitige Durchdringung dieser beiden Positionen hingewiesen. 9 Als Charakteristik gegenwärtiger Dokumentationsformen wurde die Integration der eigenen Produktionsbedingungen in die Darstellung selbst herausgearbeitet eine Praxis, die sowohl im Kunstkontext als auch zunehmend in den Massen- 7 Schaschl-Cooper, Sabine; Steinbrügge, Bettina: Das Bedürfnis zu dokumentieren, in: Havránek, Vit; Schaschl-Cooper, Sabine; Steinbrügge, Bettina (Hg.): The Need to Document, Zürich 2005, S. 17-30; Steyerl, Hito: Politik der Wahrheit Dokumentarismen im Kunstfeld, in: ebd., S. 53-64. 8 steyerl 2008, S. 10; Sonderegger, Ruth: Nichts als die reine Wahrheit? Ein Versuch, die Aktualität des Dokumentarischen mit den materialistischen Wahrheitstheorien Benjamins und Adornos zu verstehen, in: Gludovatz, Karin (Hg.): Auf den Spuren des Realen. Kunst und Dokumentarismus, Wien 2003, S. 65-89, insbes. S. 65-69. 9 sonderegger 2003, S. 68; Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin 2008, S. 190-195.

12 Einleitung medien zu finden ist, wie zahlreiche Reality-TV-Formate (um nur ein Beispiel zu nennen) belegen. 10 Von mehreren ForscherInnen wurde das Paradoxon konstatiert, dass dokumentarische Darstellungsformen als Mittel der Realitätserschließung und Wahrheitsfindung umso stärker werden, je mehr sie ihre eigenen Aussagebedingungen reflektieren und damit ihre Aussagemöglichkeiten sowie ihren Anspruch auf Wahrheitsvermittlung relativieren. 11 Den Gründen und Konsequenzen dieses Phänomens wird in dem vorliegenden Band anhand der Analyse exemplarischer Fallbeispiele nachgegangen. Die politischen Implikationen des Wahrheitspostulats dokumentarischer Bildformen wurden sowohl in diesem Zusammenhang als auch in der vermehrten Aufarbeitung historischer Dokumentationspraktiken in den Blick genommen. Speziell die Forschungen zu ethnologischer, kriminologischer, anthropometrischer etc. Fotografie konnten nachweisen, in welcher Form dokumentarische Bildpraktiken Realitäten, die sie vorgeben bloß abzubilden, erst konstruieren. Erwähnt seien hier etwa die Konstruktion sozialer Klassen oder Ethnien. 12 Hito Steyerl beschäftigt sich eingehend mit dem Verhältnis dokumentarischer Darstellungspraktiken zu Politiken der Wahrheit. Sie geht von dem Konzept Michel Foucaults aus, welches Wahrheit als gesellschaftliches Produkt bezeichnet, und beschreibt, wie Macht über die Bestimmung darüber, was in einer Gesellschaft als wahr oder falsch gilt, hergestellt wird. 13 Daran anschließend analysiert Steyerl Dokumentationsformen als Techniken der Wahrheitsproduktion. In diesem Sinne können dokumentarische Bildformen Instrumente der Herrschaft sein. Viele ihrer Darstellungstechniken wurden im Rahmen staatlicher Institutionen zur Wahrheitsfindung, wie Polizei, Justiz oder wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen, entwickelt. Sie können aber ebenso die etablierten Verfahren der Wahrheitsproduktion in Frage stellen oder gar aushöhlen. 14 Speziell selbstreflexive Ansätze, die ihre 10 siehe dazu die Beiträge in Gludovatz 2003, Texte zur Kunst, Heft 51, 2003; Franke, Simon; Gierstberg, Frits (Hg.): Documentary Now! Contemporary Strategies in Photography, Film and the Visual Arts, Rotterdam 2005. Darüber hinaus: Havránek, Vit: The Documentary Method versus the Ontology of Documentarism, in: Schavemaker, Margrier; Rakier, Mischa (Hg.): Right about Now. Art & Theory since the 1990s, Amsterdam 2007, S. 95-99; Zulmans, Kitty: Documentary Evidence and/in Artistic Practices, in: Schavemaker und Rakier 2007, S. 101-107; Berrebi, Sophie: Documentary and the Dialectical Document in Contemporary Art, in: ebd., S. 109-115, u.v.a. 11 u.a. Steyerl 2008, S. 2; Holert 2008, S. 192. 12 Beispielsweise Tagg, John: The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, London 1988; Ryan, James R.: Picturing Empire. Photography and the Visualization of the British Empire, London, 1997, S. 14-182; Pinney, Christopher; Peterson, Nicolas (Hg.): Photography s Other Histories, Durham 2003; Regener, Susanne: Fotografische Erfassung: Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999; Sekula, Allan: Der Körper und das Archiv, in: Wolf, Herta (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a. Main 2003, S. 269-334. 13 Foucault, Michel: Wahrheit und Macht, Interview von Alessandro Fontana und Pasquale Pasquino, in: ders.: Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 51. 14 steyerl 2005, S. 55.

Einleitung 13 eigenen Mittel als sozial konstruierte ausstellen, können auf eine Veränderung der Politiken der Wahrheit zielen. 15 Im Zuge all dieser Untersuchungen blieb bislang aber unerforscht, ob und wie mittels dokumentarischer Darstellungsverfahren nicht nur die Bedingungen ihrer eigenen Wahrheitsproduktion destabilisiert werden, sondern auch Alternativen zu hegemonialen 16 Aussagen entwickelt werden können. Einzig Angelika Bartl untersucht in einer Studie zu zeitgenössischen dokumentarischen Videokunstprojekten, wie ethnisch als Andere ausgewiesene Frauen in ihren Darstellungen Subjektstatus erlangen können. 17 Sie fragt, auf welche Weise bestimmte zeitgenössische dokumentarische Darstellungspraktiken im Bereich der bildenden Kunst nicht nur eine Intervention in die Politiken der Wahrheit anstreben, sondern auch versuchen, Widersprüchliches zu hegemonialen Bildern zu entwerfen. Dabei entwickelt Bartl ein eigenes Analysemodell, das dokumentarische Darstellungsformen in ein Spannungsfeld aus drei hegemonialen Instanzen stellt. Diese werden von den Betrachter- Innen, den ProduzentInnen und den Repräsentierten gebildet, die nicht autonom oder vorgängig gegeben, sondern jeweils spezifisch diskursiv eingebettet sind und sich gegenseitig als Subjekte konstituieren und destabilisieren. Aufbauend auf Chantal Mouffes und Ernesto Laclaus Hegemonietheorie sieht sie in den Widersprüchen und gegenläufigen Tendenzen, die in diesen Wechselverhältnissen entstehen, das politische Potential. Besonders ist an diesem Analysemodell, dass nicht die Produktionsseite untersucht wird und an ihr die politischen Dimensionen der Darstellungen festgemacht werden, sondern dass die Beteiligung der BetrachterInnen an der Konstituierung ihres Subjekt- und Objekt-Status in visuellen Repräsentationen theoretisch fassbar gemacht wird. Im Unterschied dazu geht die vorliegende Untersuchung gezielt von der Produktionsseite aus und stellt die Darstellungen von Arbeit in Relation zu der Arbeit des Darstellens. Denn auch die künstlerische Formgebung, Strukturierung und Anordnung von Visualisierungen mit dokumentarischem Anspruch ist ein Arbeitsprozess, der nicht losgelöst von den ihn umgebenden und in diesem Fall auch von den thematisierten Arbeitsformen betrachtet werden kann. Daher werden die künstlerischen Projekte und speziell ihre ästhetischen Strukturen zum Ausgangspunkt der Analysen. Es wird untersucht, 15 steyerl, Hito: Politik der Wahrheit Dokumentarismen im Kunstfeld, in: springerin, Bd. IX, Heft 3, 2003, S. 19. 16 hegemonie bedeutet die Vorherrschaft eines Staates oder einer Institution, einer Person etc. in politischer, militärischer, kultureller Hinsicht, gegen die andere AkteurInnen ihre Interessen nur eingeschränkt durchsetzen können. Gramsci prägte einen Begriff von Hegemonie, der v.a. auf die Dominanz bestimmter kultureller und ideologischer Auffassungen innerhalb einer Gesellschaft abzielte und sich durch die konsensuale Einbindung der Beherrschten, d.h. die Internalisierung ihrer Auffassungen, auszeichnet. Vgl. Ghosh-Schellhorn, Martina: Hegemonie, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart/ Weimar 2005, S. 62f. 17 Bartl, Angelika: Andere Subjekte. Dokumentarische Medienkunst und die Politik der Rezeption, Bielefeld 2012.

14 Einleitung welche Arbeitsweisen sich darin manifestieren, welche Bilder von Arbeit die KünstlerInnen entwerfen und inwiefern diese Darstellungsweisen die repräsentierten ArbeiterInnen ermächtigen und so alternative Aussagen zu den hegemonialen entstehen. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei die Frage, welche künstlerischen Strategien entwickelt werden, um im Rahmen eines kritischen Umgangs mit visuellen Techniken der Wirklichkeitserschließung sichtbar zu machen, was in dominanten Diskursen verschwiegen wird und unsichtbar bleibt. Themenfeld Arbeit Als subjektkonstituierender und identitätsstiftender Faktor wird Arbeit in der gegenwärtigen Theorieproduktion häufig von einer Konzentration auf Fragen der Migration, Geschlechtsidentität, sexuellen Orientierung etc. verdrängt und soll deswegen hier gerade unter den Vorzeichen gesellschaftlicher Transformationsprozesse in den Vordergrund gerückt werden. Das Verständnis von Arbeit ist grundsätzlich historisch sowie kulturell situiert, beständigen Wandlungen unterworfen und vom ideologischen Standpunkt der InterpretInnen geprägt. 18 Für die vorliegende Forschung soll ein Begriff von Arbeit herangezogen werden, der sich in den Industriegesellschaften weitgehend durchgesetzt hat und auch in den Sozialwissenschaften vorwiegend angewendet wird, nämlich der von Arbeit als Erwerbsarbeit. 19 Damit sind jene Tätigkeiten umrissen, die mit Geld entlohnt werden, meist in Berufe eingeteilt sind und im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses erbracht werden. Die Grenzen dieses Arbeitsbegriffes sind äußerst problematisch, da unbezahlte Tätigkeiten, wie Hausarbeit, Kindererziehung, häusliche Pflege, Freundschaftsdienste, ehrenamtliche Arbeit etc., nicht erfasst und damit unsichtbar gemacht werden. In der Folge einer feministischen Wissenschaftskritik, die seit den 1970er Jahren die Verkürzungen dieses Arbeitsbegriffes aufzeigt, kritisiert und ihre Konsequenzen benennt, wurden 18 Grint, Keith: The Sociology of Work, Cambridge 2005, S. 6-43; Mikl-Horke, Gertraude: Industrieund Arbeitssoziologie [1994], München 2007, S. 10-15; Betz und Riegler 2003, S. 11-14 und 29-67. 19 grint 2005, S. 9; Mikl-Horke 2007, S. 14; Notz, Gisela: Über den traditionellen Arbeitsbegriff und die Notwendigkeit seiner Veränderung, in: UTOPIE kreativ: Diskussion sozialistischer Alternativen, Heft 109/110, November/Dezember 1999, S. 151-161; dies.: Von der notwendigen Arbeit und dem Reich der Freiheit. Auch erweiterte Arbeitsbegriffe verlangen eine feministische Kritik, in: Baatz, Dagmar; Rudolph, Clarissa; Satilmis, Ayla (Hg.): Hauptsache Arbeit? Feministische Perspektiven auf den Wandel von Arbeit, Münster 2004, S. 137-151; Biesecker, Adelheid; Winterfeld, Uta von: Vergessene Arbeitswirklichkeiten, in: Beck, Ulrich (Hg.): Die Zukunft von Arbeit und Demokratie, Frankfurt a. Main 2000, S. 269-286.

Einleitung 15 Alternativen dazu entwickelt. 20 Die in diesem weniger beachteten Wissenschaftsfeld entwickelten erweiterten Arbeitsbegriffe fanden erst in jüngster Zeit im Zuge der Debatten um immaterielle Arbeit 21 und die Ausdehnung der Erwerbslogik auf zusätzliche Lebensbereiche im Postfordismus zögerlich Eingang in die Sozialwissenschaften. 22 Die immer noch weit verbreitete Gleichsetzung von Arbeit mit Lohn- beziehungsweise Erwerbsarbeit gründet auf einer kapitalistischen Wirtschaftslogik, die auf Warenförmigkeit fokussiert und darauf aufbauend bestimmte Vorstellungen von Produktivität in ihr Zentrum stellt. 23 Diese beinhaltet nur Tausch- und Gebrauchswerte. Faktoren wie die Erhaltung ökologischer Systeme, soziale Beziehungen etc. werden nicht miteingerechnet. 24 Dabei werden Ausschlüsse produziert, die mit gesellschaftlichen Hierarchien und Machtverhältnissen einhergehen. Im Wissen um diese Problematik soll der verkürzende Begriff von Arbeit als Erwerbsarbeit hier trotzdem verwendet werden, da er gesellschaftlich äußerst wirkmächtig und Ausgangspunkt der gegenwärtigen Debatten um die Transformationsprozesse der Arbeitswelt ist. Seit Ende der 1990er Jahre werden in zahlreichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Publikationen die Veränderungen im Bereich der Erwerbsarbeit als eine Auflösung der alten Arbeitsformen beschrieben, die mit der Industriegesellschaft verbunden sind. Auch die zunehmende Dominanz geistiger Arbeit, kurzfristiger und flexibler Beschäftigungsformen sowie netzwerkartiger Organisationsstrukturen wird dargelegt. 25 Johanna Riegler arbeitet in einer Analyse dieser sozialwissenschaft- 20 siehe dazu Friese, Marianne: Die beiden Seiten der Frauenarbeit. Theoretische und historische Überlegungen zum Arbeits- und Klassenbegriff, in: Alheit, Peter; Körber, Klaus; Rabe-Kleberg, Ursula (Hg.): Abschied von der Lohnarbeit? Diskussionsbeiträge zu einem erweiterten Arbeitsbegriff, Bremen 1990, S. 147-175. 21 zum Begriff der immateriellen Arbeit siehe Lazzarato, Maurizio: Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus, in: Atzert, Thomas (Hg.): Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin 1998, S. 39-52 sowie Hardt, Michael; Negri, Antonio: Postmodernisierung: Informatisierung der Produktion, in: dies.: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. Main 2002, S. 291-314. 22 alheit, Peter: Abschied von der Lohnarbeit? Bemerkungen zu einer Erweiterung des Arbeitsbegriffs, in: ders., Körber und Rabe-Kleberg 1990, S. 26-31. 23 notz 1999, S. 152f.; Füllsack, Manfred: Einleitung. Zur Produktivität von Hausangestellten in: ders. (Hg.): Verwerfungen moderner Arbeit. Zum Formwandel des Produktiven, Bielefeld 2008, S. 7-21; Kettschau, Irmhild: Zur Theorie und gesellschaftlichen Bedeutung der Hausarbeit, in: Tornieporth, Gerda (Hg.): Arbeitsplatz Haushalt, Berlin 1988, S. 100. 24 gisela Notz kritisiert die Einordnung kriegerischer und umweltzerstörender Tätigkeiten in die Sphäre der Produktion, da diese offensichtlich destruktiv anstatt etwas erschaffend und somit produzierend sind. Sie entwirft ein Gegenmodell von Produktivität im Sinne von gesellschaftlicher Nützlichkeit. So schließt sie Tätigkeiten der Rüstungsindustrie aus dem Bereich der Produktion aus, während Arbeit in sozialpolitischen, ökologischen etc. Initiativen als produktive Tätigkeit anerkannt wird. Notz 1999, S. 157f. 25 zusätzlich zu den bereits genannten: Beck, Ulrich: Die Zukunft von Arbeit und Demokratie, Frankfurt a. Main 1999; ders.: Schöne neue Arbeitswelt. Vision Weltbürgergesellschaft, Frankfurt a. Main/New York 2000; Gorz, André: Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt a. Main 2000.

16 Einleitung lichen Darlegungen der Transformationsprozesse heraus, dass eine bestimmte, historisch begrenzte Normvorstellung von Arbeit im Verschwinden begriffen sei. Konkret benennen oder eingrenzen lassen sich die Kennzeichen dieser Arbeitsformen aber kaum. 26 Rieglers Auffassung nach werden in den populären sozial- und kulturwissenschaftlichen Studien Rhetoriken des Bruchs und der Innovation für die Beschreibung dieser Entwicklungen verwendet; dabei könnten sie ebenso als Fortführung und Steigerung einer fortschreitenden Industrialisierung auf Basis neuer Technologien bezeichnet werden. Diese Deutungsmuster erzeugen hierachisierende Bewertungen, das heißt eine potentielle Minderwertung jener Bereiche, die dem Neuen nicht zugeordnet werden oder die als Projektionsfolie des Überkommenen zu gelten haben. 27 In der Abgrenzung zu diesem Neuen wird das Alte als gemeinsame Kategorie erst hergestellt. Um die Innovation als solche zu betonen, würden Negations- und Abwertungsfunktionen vollzogen, das heißt das, wovon unterschieden werden soll, werde systematisch für unbedeutend erklärt. 28 Die Qualitätszensur des Innovationsbegriffes ermöglicht nicht nur diesen Prozess der Wert- und Bedeutungsverschiebung, sondern bedingt auch die Unmöglichkeit jene ausgeblendeten Funktionen zu thematisieren, weil sie durch die Brille des Neuen schlichtweg anders oder eben gar nicht gesehen werden. 29 Die dominanten Beschreibungsmodi der Veränderungen im Bereich der Erwerbsarbeit blenden also systematisch die alten Arbeitsformen aus beziehungsweise konstituieren sie erst durch eine Absetzung von den Spezifika der neuen und machen sie in den Beschreibungen der Gegenwart unsichtbar. Dieser Mechanismus ist nicht nur in den Sozialwissenschaften zu beobachten, sondern lässt sich auch im Kunstkontext ablesen. In den zahlreichen Ausstellungen zum Thema Arbeit seit Mitte der 1990er Jahre werden primär die neuen Arbeits- und Beschäftigungsformen beziehungsweise die Durchdringung aller Lebensbereiche mit flexiblen Formen der Erwerbsarbeit behandelt. 30 In dem vorliegenden Buch werden nun jene künstlerischen Positionen untersucht, die mit dokumentarischen Mitteln darzustellen versuchen, was von den dominanten Diskursen zur Erwerbsarbeit ausgeklammert wird. Dies sind sowohl alte Arbeitsformen als auch die oben beschriebenen vorwiegend unbezahlt verrichteten Tätigkeiten. Dass deren Marginalisierung zum Teil nicht nur an der fehlenden Entlohnung liegt, zeigt der Bereich der Daseinsvorsorge, insbesondere der Hausarbeit. Diese bleibt auch dann von der Gesellschaft weitgehend unbeachtet, wenn sie bezahlt verrichtet wird, beispielsweise durch Haus- und 26 riegler 2003, S. 18. 27 ebd., S. 27. 28 ebd., S. 28. 29 Ebd. 30 siehe Anm. 3.

Einleitung 17 Reinigungspersonal. 31 Haushaltsarbeit ist also einer komplexen Interferenz von Abwertungsmechanismen ausgesetzt, die von kapitalistischen Produktivitätsvorstellungen und Geschlechterverhältnissen geprägt ist. Bereits der frühe Ökonom Adam Smith schloss in seinen Theorien die Versorgungsarbeiten aus dem Bereich der Ökonomie aus. 32 Im Zuge der Industrialisierung und des Aufkommens der Nationalstaaten entstand eine Unterscheidung von produktiven und unproduktiven Arbeiten. 33 Erst unter diesen Bedingungen begann sich die Frage, welche Formen von Arbeit in der Lage sind, den Wohlstand einer Gesellschaft zu mehren und welche ihn im Gegensatz dazu nur gleich belassen oder gar vermindern, mit sozialer Tragweite zu stellen. 34 Im Sinne des nationalstaatlich organisierten Kapitalismus wurden und werden also nur solche Tätigkeiten als produktiv angesehen, die der Gesellschaft eine Kapitalvermehrung bringen. Hausarbeit trägt nicht direkt dazu bei und ist im Gegenteil als Sphäre der Konsumption definiert. Adam Smith führte als besonderes Beispiel für Arbeit, die keinen Wertzuwachs schaffe, sondern Werte sogar vermindere, die Arbeit von Hausangstellten an. 35 Auch Karl Marx grenzte in seinen Theorien die Versorgungstätigkeiten aus dem Bereich der Arbeit aus, den er als auf die Erzeugung eines gesellschaftlichen Produkts gerichtet definierte. 36 Selbst in seiner Konzeption von zweckfreier Tätigkeit ist Hausarbeit nicht enthalten. 37 Diese beiden vielbeachteten Theorien zeigen exemplarisch, wie durchdringend die kapitalistische Produktivitätslogik wirkt und den Bereich der Daseinsvorsorge aus dem Feld der Arbeit ausschließt. Damit verwoben ist die gesellschaftliche Arbeitsteilung entlang der Geschlechtszugehörigkeit. Die im Haushalt und damit im Bereich des Privaten angesiedelten Arbeiten, die sowohl laut kapitalistischer Wirtschaftslogik als auch deren marxistischer Kritik der Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft 38 dienen, werden traditionell und noch heute vorwiegend von Frauen verrichtet. Dabei greifen die wirtschaftstheoretischen Abwertungen der Reproduktionsarbeit und die soziale 31 gather, Claudia; Geissler, Birgit; Rerrich, Maria S.: Einleitung, in: dies.: (Hg.): Weltmarkt Privathaushalt. Bezahlte Hausarbeit im globalen Wandel, Münster 2002, S. 8; Lutz, Helma: Transnationalität im Haushalt, in: ebd., S. 86-102. 32 Biesecker, Adelheid; Kesting, Stefan: Mikroökonomik. Eine Einführung aus sozialökonomischer Perspektive, München/Wien 2003, S. 49. 33 Füllsack 2008, S. 9. 34 ebd. Die Etablierung der Nationalstaaten brachte die Entwicklung mit sich, ökonomische Daten auf eine definierte und abgegrenzte Gesellschaft zu beziehen. 35 smith, Adam: Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations [1776], Harmondsworth 1974, S. 429f, zitiert nach Füllsack 2008, S. 11. 36 notz 2004, S. 139. 37 Ebd. 38 notz 2004, S. 138.

18 Einleitung Schlechterstellung von Frauen historisch und systematisch ineinander: Die wenig prestigeträchtigen Tätigkeiten bleiben den Frauen vorbehalten, während diese Arbeiten gleichzeitig gesellschaftlich weiterhin kaum berücksichtigt werden, weil sie von Frauen ausgeführt werden. Daran ändert auch die in vielen Staaten zunehmende oder in den ehemals sozialistisch regierten Ländern bereits bestehende Erwerbstätigkeit von Frauen wenig. Zahlreiche Studien belegen, dass Männer zwar langsam beginnen, sich an der Hausarbeit zu beteiligen, der Großteil der häuslichen Tätigkeiten aber zwischen unterschiedlichen Gruppen von Frauen umverteilt wird. 39 Neben Nachbarschafts- und Familiennetzwerken werden bezahlte Haushaltshilfen engagiert, um die anfallende Arbeit zu bewältigen. 40 Dabei erhält diese durch ihre Lohnförmigkeit keine Aufwertung oder mehr gesellschaftliche Sichtbarkeit, sondern die Nichtbeachtung und Verortung im Privatbereich begünstigt prekäre Beschäftigungsverhältnisse. 41 Die Abwertung der Hausarbeit als Betätigungsfeld schlägt sich in ihrer Erwerbsarbeitsform in einer schicht- und ethnizitätsspezifischen Verteilung nieder. 42 So sind es v. a. Migrantinnen, die diese Arbeiten verrichten und in Mittelund Oberschichthaushalten beschäftigt werden. 43 Es entsteht ein zunehmend globaler Arbeitsmarkt, der Migrationsbewegungen fördert und dennoch gesellschaftlich weitgehend unbeachtet bleibt. 44 Da, wie bereits erwähnt, Erwerbsarbeit ein zentraler Faktor in der Organisation unserer Gesellschaft ist und somit subjektkonstituierende und identitätsstiftende Funktionen für die einzelnen Personen hat, haben Abwertungs- und Ausblendungsmechanismen auch entscheidende Konsequenzen für die gesellschaftliche Position und den Selbstwert der Arbeitenden. Beispielsweise stellten die französischen Soziologen Stéphane Beaud und Michel Pialoux fest, dass ArbeiterInnen in Frankreich immer noch die größte soziale Gruppe sind, gesellschaftlich aber ausgeklammert werden. 45 Die Entwertung einzelner Arbeitsbereiche geht also mit der Entwertung der ausführenden Menschen einher. Für die vorliegende Untersuchung werden mit den Arbeiten von Allan Sekula und Moira Zoitl solche Kunstprojekte herangezogen, in denen die Darstellung der 39 siehe beispielsweise Künzler, Jan: Familiale Arbeitsteilung. Die Beteiligung von Männern an der Hausarbeit, Bielefeld 1994; Rerrich, Maria S.: Von der Utopie der partnerschaftlichen Gleichverteilung zur Realität der Globalisierung von Hausarbeit, in: Gather, Claudia; Geissler, Birgit; dies. (Hg.): Weltmarkt Privathaushalt. Bezahlte Hausarbeit im globalen Wandel, Münster 2002, S. 23; Thiessen, Barbara: Von der Reproduktion zur Prokreation. Systematische Anmerkungen zu einem zentralen Topos der genderkritischen Arbeits- und Bildungsforschung, in: Baatz, Rudolph und Satilmis 2004, S. 120f. 40 rerrich 2002, S. 23; Thiessen 2004, S. 120. 41 Thiessen 2004, S. 117 und 120f.; Gather, Geissler und Rerrich 2002, S. 9-11. 42 Thiessen 2004, S. 120; Gather, Geissler und Rerrich 2002, S. 9-11. 43 Ebd. 44 rerrich 2002, S. 23f.; Thiessen 2004, S. 121. 45 Beaud, Stéphane; Pialoux, Michel: Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von Sochaux-Montbéliard, Konstanz 2004, zitiert nach Stumberger, Rudolf: Klassen-Bilder II. Sozialdokumentarische Fotografie 1945-2000, Konstanz 2010, S. 119.

Einleitung 19 ausgeblendeten Arbeitsformen auf eine Aufwertung und damit auf eine Ermächtigung der Dargestellten zielt. Der im Titel dieses Bandes angesprochene Begriff der Emanzipation bezeichnet einen Prozess der Verschiebung von Machtverhältnissen und die Erweiterung von Spielräumen aus der Perspektive der gesellschaftlich Benachteiligten und Diskriminierten 46. Die hier besprochenen Kunstwerke begreifen ihre Darstellungspraxis als Teil eines solchen Prozesses. Bewusst verwende ich hier weniger die Begriffe Ermächtigung oder Empowerment 47 als den viel älteren der Emanzipation, da dieser erstens ausbeutende Strukturen impliziert und zweitens historisch mit der ArbeiterInnenbewegung und deren dokumentarischer Bildpraxis verbunden ist. Emanzipation leitet sich von lateinisch emancipatio beziehungsweise emancipare ab, das aus der väterlichen Gewalt entlassen heißt und sowohl die Freilassung von Sklaven als auch die Freigabe des Sohnes aus der Herrschaft des Vaters bezeichnete. 48 Im Laufe der Geschichte erfuhr der Begriff mehrere Bedeutungsverschiebungen. So wurde er zunächst in der Französischen Revolution wiederaufgegriffen 49 und in der Folge nicht mehr für einzelne Individuen, sondern für bestimmte Bevölkerungsgruppen verwendet. 50 Im 19. Jahrhundert waren dies beispielsweise US-amerikanische Sklaven, Juden und Jüdinnen, Frauen etc. Das Wort bezeichnete einen Prozess, der auf rechtliche Gleichstellung sowie auf Selbst- und Mitbestimmung zielte. 51 Damit sollten soziale Ungleichheiten, Abhängigkeitsverhältnisse und Benachteiligungen abgebaut werden. 52 Der Fokus innerhalb dieses Prozesses verschob sich von der Entlassung aus einem Herrschaftsverhältnis hin zur Selbstbefreiung verschiedener Personengruppen. 53 Die sozialen Bewegungen der 1970er Jahre betonten in ihrer Verwendung des Emanzipationsbegriffs vor allem den Aspekt der Selbstbestimmung und erhoben Autonomieansprüche über die Gewährung von staatlichen Rechten hinaus, wie etwa die Forderung nach Selbstorganisierung. 54 Trotz dieser Fokussierung auf eigenständige Handlungsmacht impliziert der Begriff Emanzipation das Vorhandensein dominierender Strukturen und unterscheidet sich darin 46 Weinbach, Heike: Emanzipation, in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.v. (Hg.): Fachlexikon der sozialen Arbeit, Baden-Baden 2007, S. 248. 47 Diese Begriffe bezeichnen Konzepte der sozialpädogischen, psychotherapeutischen und medizinischen Praxis, die sich aus den Bürgerrechtsbewegungen in den USA entwickelt haben und ihren Fokus auf die Stärkung der Kompetenzen der Menschen legen. Ihre bereits vorhandenen und oft verschütteten Ressourcen sollen gestärkt werden und Fähigkeiten (wieder-)entdeckt werden. Siehe dazu beispielsweise http://www.empowerment.de/grundlagentext.html (9. 10. 2010). 48 Weinbach 2007, S. 248; Lempert, Wolfgang: Zum Begriff der Emanzipation, in: Greiffenhagen, Martin (Hg.): Emanzipation, Hamburg 1973, S. 217. 49 Weinbach 2007, S. 248; Lempert 1973, S. 218. 50 lempert 1973, S. 217; Papenkort, Ulrich: Emanzipation, in: Feuerhelm, Wolfgang (Hg.): Taschenlexikon der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Wiebelsheim 2007, S. 151. 51 papenkort 2007, S. 151. 52 lempert 1973, S. 217. 53 papenkort 2007, S. 151. 54 Weinbach 2007, S. 248.

20 Einleitung von den Bezeichnungen Empowerment und Selbstermächtigung. Während letztere Begriffe vorwiegend den angestrebten Zustand beziehungsweise den dort hinführenden Prozess auf Seiten der marginalisierten Subjekte benennen, bezeichnet Emanzipation nicht nur einen Kampf um Zugang zu Gleichberechtigung, sondern auch das zugrunde liegende Abhängigkeitsverhältnis. Wie in der vorliegenden Untersuchung gezeigt wird, ist die Sichtbarmachung und Benennung der marginalisierenden Strukturen ein zentraler Ansatzpunkt der Darstellungsstrategien der besprochenen KünstlerInnen. Weisen die analysierten Kunstprojekte auch viele Charakteristika des Konzepts des Empowerments auf, so soll doch die Verwendung des Begriffes Emanzipation die Bedeutung der Thematisierung der marginalisierenden Strukturen betonen. Historisch werden sozialdokumentarische Bildpraktiken, speziell der Arbeiter- Innen, stark mit den Emanzipationsbewegungen assoziiert. So entstanden die bekanntesten Arbeiten im Rahmen der sozialreformerischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, darunter jene der US-amerikanischen Fotografen Jacob A. Riis und Lewis W. Hine. Aber auch in der ArbeiterInnenbewegung selbst wurde Dokumentarfotografie als wichtiges Mittel im Kampf um Gleichberechtigung eingesetzt. 55 Viele der sozial und ideologisch sehr unterschiedlichen Aktuere, von denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Emanzipation der ArbeiterInnen angestrebt wurde, 56 setzten dokumentierende Bilder ein, um den politischen Anliegen Geltung zu verschaffen. Soziale Mißstände sollten durch ihre Sichtbarmachung ins Bewusstsein breiter und vor allem handlungsfähiger Bevölkerungsschichten gerufen und in weiterer Folge beseitigt werden. Dokumentarische Bilder dienten als unumstößliche Beweise der Verhältnisse sowie als Belege für die Argumentationen. Es stellt sich nun die Frage, wie circa 100 Jahre später, nach den grundsätzlichen Neukonzeptualisierungen des Verhältnisses dokumentarischer Darstellungsformen zu außerbildlichen Wirklichkeiten, dokumentierende Bilder eingesetzt werden, um sozialpolitische Anliegen zu untermauern beziehungsweise zu transportieren. Auf welche Weise werden auch heute noch Sichtbarmachungen als politische Strategien eingesetzt und in welcher Form können dokumentarische Bildpraktiken dazu dienen? 55 siehe dazu beispielsweise Günter, Roland: Fotografie als Waffe. Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie, Hamburg/Westberlin 1977; Badel, Peter: Die Arbeiterfotografenbewegung eine wichtige Traditionslinie der deutschen Arbeiterkulturbewegung, Diplomarbeit, Potsdam-Babelsberg 1981; Beiler, Berthold: Arbeiterfotografie. Aus dem Woher ist das Wohin zu ergründen. Gedanken zur historischen Bedeutung der Arbeiterfotografie und ihren verpflichtenden Traditionen, in: Tendenzen, 13. Jg., Nr. 86, 1973, S. 25-45; Ribalta, Jorge (Hg.): The Worker Photography Movement (1926-1939). Essays and Documents, Madrid 2011; Büthe, Joachim u. a.: Der Arbeiter-Fotograf. Dokumente und Beiträge zur Arbeiterfotografie 1926-1932, Köln 1977. Für eine ausführliche Bibliographie dazu siehe http://www.arbeiterfotografie-sachsen.de/dokumente/ (17. 8. 2012). 56 siehe Stumberger, Rudolf: Klassen-Bilder 1. Sozialdokumentarische Fotografie 1900-1945, Konstanz 2007, S. 168-173.

Einleitung 21 Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es herauszuarbeiten, welche Darstellungsstrategien in den Kunstwerken entwickelt werden, um mittels dokumentarischer Bildpraktiken im Bereich marginalisierter Arbeitsformen und Arbeitender emanzipatorisches Potential zu entfalten. Auswahl der Werke Innerhalb des so eingegrenzten Gegenstandsbereichs werden die beiden Kunstprojekte Fish Story (1990-1995) von Allan Sekula und Chat(t)er Gardens. Stories by and about Filipina Workers (2002-2008) von Moira Zoitl als exemplarische Fallbeispiele untersucht. Diese behandeln unterschiedliche Arbeitsbereiche, nämlich alte Arbeitsformen im Bereich des Seehandels einerseits und Hausarbeit als Erwerbsarbeit andererseits. Diese Auswahl begründet sich aus weiteren Eingrenzungen des Gegenstandsbereichs, um eine tragfähige Vergleichsbasis zu schaffen. So werden jene Arbeitsformen nicht einbezogen, die illegalisiert sind und daher andere Arten der Bildproduktion bedingen sowie differente Bildpolitiken generieren. Der Fokus liegt also auf Arbeitsformen, die integraler und von allen staatlichen Institutionen anerkannter Bestandteil des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems sind, gleichzeitig in der öffentlichen Aufmerksamkeit und von den hegemonialen Diskursen aber ausgeblendet werden. Dieser Mechanismus wurde speziell für die sogenannten Industriestaaten festgestellt, daher werden auch nur künstlerische Produktionen aus diesem Herkunftsbereich untersucht. Die Veränderungen in der Arbeitswelt der postsozialistischen Gesellschaften und deren Darstellungen in der bildenden Kunst sind von anderen Arbeitsbegriffen und -strukturen geprägt und daher nicht Gegenstand dieser Analyse. Ebenso sind die Transformationen der sich zunehmend industrialisierenden sogenannten Billiglohnländer, in welche viele Teile der Produktion verlagert werden, anders strukturiert und so mit den hier skizzierten Entwicklungen schwer zu vergleichen. Auf Seiten der künstlerischen Arbeiten werden nur solche in der Untersuchung berücksichtig, die im Kunstkontext präsentiert werden. Filme und Videos, die ausschließlich im Kino zu sehen sind, werden nicht einbezogen, da es sich um einen sozial und medial anders strukturierten Aufführungszusammenhang handelt, der auch die Darstellungsweisen und -mittel beeinflusst. Gerade im Bereich des politischen Aktivismus entstanden viele Filme und Videos, die versuchen, alternative Erzählungen der Transformationen der Arbeitswelt zu entwerfen, marginalisierte Arbeitsformen in den Vordergrund zu rücken und in ihren Darstellungspraktiken die mehrfachen Abwertungsmechanismen ausgesetzten ArbeiterInnen zu ermächtigen. 57 Da diese Filme häufig in aktivistischen Kontexten gezeigt werden, sind sie meist auf derart vorinformierte BetrachterInnen zugeschnitten. Das Kino als

22 Einleitung Aufführungsort versammelt also ein sozial anders zusammengesetztes Publikum als der Kunstkontext und bietet somit einen anderen Verständigungszusammenhang. Darüber hinaus ist das Feld der Kunst durch einen Fokus auf Darstellungsformen und deren Reflexion gekennzeichnet, der die Produktionsweisen der KünstlerInnen mitbestimmt. In dieser Untersuchung werden die speziellen Darstellungsstrategien analysiert, die sich an solche Kontextbedingungen und an ein Kunstpublikum wenden. Um die Korrelationsebene der Vergleichsobjekte hinsichtlich ihrer emanzipatorischen Darstellungsstrategien präzise konturieren zu können, wurden zwei Kunstprojekte ausgewählt, die sehr unterschiedliche Darstellungsmittel verwenden und möglichst differente Arbeitsgebiete behandeln. Denn in der Verschiedenheit der Vorgehensweisen und der Darstellungsgegenstände zeigen sich die gemeinsamen Spezifika der dokumentarischen Strategien mit emanzipatorischem Anspruch. Allan Sekulas Fish Story dokumentiert die Arbeitsbedingungen im Seehandel und dient als Beispiel für eine Thematisierung jener Formen von Facharbeit, die bedingt durch den Fokus des öffentlichen Interesses auf die Automatisierung und Immaterialisierung der Arbeit ausgeblendet werden. Moira Zoitls Chat(t)er Gardens. Stories by and about Filipina Workers behandelt die migrantischen Hausangstellten in Hongkong und steht damit für einen Arbeitsbereich, der nicht erst seit der Transformation der Industriegesellschaften zu Dienstleistungsgesellschaften marginalisiert wird. Der bereits erwähnte Ausschluss der Hausarbeit aus dem Arbeitsbegriff beziehungsweise aus dem Bereich der gesellschaftlichen Arbeit vollzog sich bereits im 18. Jahrhundert. 58 Dennoch ist diese Art der Erwerbsarbeit zentral für das Funktionieren der Dienstleistungsgesellschaften, denn oft ermöglicht erst die Übernahme der Hausarbeit durch bezahltes Personal den Eintritt von Frauen in den primären Arbeitsmarkt. 59 Diese beiden Kunstprojekte behandeln also zwei Arbeitsbereiche, die gemäß verschiedener Klassifikationsschemata von Arbeit unterschiedlich eingestuft werden. In einer Einteilung der Arbeitsformen nach wirtschaftlichen Sektoren wird der Seehandel als Teil des Transportwesens dem tertiären Sektor zugeordnet. 60 Die von Sekula ebenfalls dokumentierte Schiffsindustrie gehört jedoch dem sekundären Sektor an. Der nicht ganz so ausführlich thematisierte Fischfang ist wiederum Bestandteil des primären Sektors. In seiner Dokumentation vereint Sekula also die Arbeitsbereiche des maritimen Raumes, die sämtliche wirtschaftlichen Sektoren umfassen. Haushaltsarbeit als Dienstleistung, wie Zoitl sie als Gegenstand wählt, gehört hingegen ausschließlich dem tertiären Sektor an. 57 Z.B. Unsichtbare Hausarbeiterinnen des FrauenLesbenFilmCollectif Berlin, 1999, 40 min.; Working Women of the World Ouvrières du monde von Marie-France Collard, 2000, 52 min.; Die Billigheimer von Mirko Tomic, 2007, 50 min. 58 Kettschau 1988, S. 100; Füllsack 2008, S. 7-21. 59 rerrich 2002, S. 25. 60 siehe dazu Hirsch-Kreinsen: Wirtschafts- und Industriesoziologie. Grundlagen, Fragestellungen, Themenbereiche, Weinheim/München 2005, S. 58.