Zu den Demokratiedefiziten des Lissabon-Vertrages 1. Europa von unten oder Europa von oben? Gibt es in Europa noch einen demokratischen Konsens?

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Transkript:

1 Zu den Demokratiedefiziten des Lissabon-Vertrages 1 Europa von unten oder Europa von oben? Gibt es in Europa noch einen demokratischen Konsens? Wenn es um die Entwicklung der Organisationsstruktur der EU geht, ist im Hinblick auf den abgelehnten Verfassungsentwurf der EU jetzt von einer Verbesserung der demokratischen Mitbestimmung die Rede als einer Errungenschaft des Lissabon-Vertrages. 2 Eine Verbesserung bedeutet aber nicht, daß es sich um eine befriedigende Lösung handelt. Das wird im Folgenden zu zeigen sein. Das deutsche Grundgesetz (GG) formuliert in Artikel 20: (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. In Abs. 2 ist die Gewaltenteilung in gesetzgebende (d.h. legislative), vollziehende (d.h. exekutive) und rechtsprechende (d.h. judikative) Gewalt ausgedrückt. Diese gilt als Strukturprinzip moderner Verfassungen im Sinne eines Systems kontrollierenden Gleichgewichts. Was sagt dagegen der Vertrag von Lissabon? Er versteht sich als Nachfolgewerk der abgelehnten Verfassung der Europäischen Union und erklärt in VEU Art. 47 erstmalig: Die Union besitzt Rechtpersönlichkeit. Und nach VEU Art. 53 gilt dieser Vertrag auf unbestimmte Zeit. Er ist also in Gewicht und Geltung von hoher Konsequenz. In TITEL II des Lisabon-Vertrages (Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze) (VEU Art. 9-12) heißt es in Art.10: (1)Die Arbeitsweise der Union beruht auf der repräsentativen Demokratie. 1 Hervorhebungen durch Unterstreichung von der Verfasserin. 2 Der Vertrag von Lissabon bzw. = Der Vertrag über die Europäische Union (VEU) + Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (VAEU) wurde als Änderungsvertrag des Vertrags von Nizza als Ersatz für die (in den Referenden Frankreichs und der Niederlande abgelehnte) Verfassung der Europäischen Union am 13. Dez. 2007 in Lissabon (daher der Name) von den Regierungschefs unterzeichnet. Er muss jetzt von den Ländern ratifiziert werden, wurde aber schon von Irland im Referendum abgelehnt. 1

2 (2)Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten. Entscheidend jedoch werden die Mitgliedstaaten vom Europäischen Rat, d.h. von ihren jeweiligen Staats- und Regierungschefs, und vom Rat, d.h. von den Fachministern der jeweiligen Regierungen vertreten. Diese müssen zwar ihrerseits gegenüber ihren nationalen Parlamenten oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern, entsprechend der jeweiligen Verfassung, Rechenschaft ablegen. Aber die grundsätzliche Bestimmung in unserer Verfassung, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht - durch das gewählte Parlament - wird damit fallengelassen. (Zur Rolle der nationalen Parlamente in der EU s. weiter unten.) Die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger im Europäischen Parlament ist schon vom Verfahren her mangelhaft, weil nicht gleichheitlich. Laut GG Art.38 wird der Bundestag in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. In VEU Art. 14(3) dagegen heißt es: Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt. Die Gleichheit ist also nicht vorgesehen. Das bedeutet in der Konsequenz: Bei der Gewichtung der Wählerstimmen z.b. zwischen den Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands und Maltas besteht ein 1200%iger Unterschied. Das delegitimiert das Europäische Parlament. Die Inhalte der Politik werden auch schon deshalb nicht vom Volk gestaltet als das Europäische Parlament kein Initiativrecht in der Gesetzgebung hat. Es wird zwar in bestimmten Bereichen angehört, kann aber bei Gesetzgebungsverfahren oft nicht mitbestimmen (z.b. nicht bei der Militärpolitik, Währungspolitik, Wirtschaftpolitik). 3 Der Rat (= Ministerrat) hat also Vorrang vor dem Parlament. Er ist eigentlich ein Gremium der Exekutive, fungiert aber weitgehend als Legislative. Zu den Rechten des Parlaments heißt es in VEU Art. 14 (1)Das Europäische Parlament wird gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus. Es erfüllt Aufgaben der politischen Kontrolle und hat Beratungsfunktionen nach Maßgabe der Verträge. Es wählt den Präsidenten der Kommission. Zum Rat heißt es in VEU Art. 16 (1)Der Rat wird gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus. Zu seinen Aufgaben gehört die Festlegung der Politik und die Koordinierung nach Maßgabe der Verträge. Wer legitimiert die Ratsmitglieder zu solcher Machtfülle? Sie sind nicht gewählt sondern lediglich ernannte Fachminister. Sofern nicht die nationalen Parlamente intensive Kontrolle ausüben, können die Minister im Rat die Politik machen, die sie wollen. (Vgl. dazu GG Art. 23 und BGBL I: Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union!). 3 Siehe gesondertes Papier über Mitbestimmungsechte und -defizite des EU-Parlaments, erscheint 2009 2

3 In diesem Zusammenhang noch bedenklicher ist, dass de facto der in AEU Art. 240 beschriebene Ausschuss der ständigen Vertreter mit einem Generalsekretariat die eigentliche Arbeit macht! Noch fragwürdiger ist es, dass die Beamten und sonstigen Bediensteten laut Protokoll Nr.7 Art.11a) Immunität genießen, auch nach Beendigung ihrer Amtstätigkeit. (Korruption lauert überall, Lobbyismus ebenso.) Die Grundzüge der Politik werden vom Europäischen Rat (Regierungschefs) bestimmt. In VEU Art. 15 heißt es (1)Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest. Er wird nicht gesetzgeberisch tätig. Die bedeutendste Position hat die Kommission. In VEU Art. 17 steht (2) Soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist, darf ein Gesetzgebungsakt der Union nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden. Andere Rechtsakte werden auf der Grundlage eines Kommissionsvorschlags erlassen, wenn dies in den Verträgen vorgesehen ist. Die Kommissionsmitglieder arbeiten völlig ohne demokratische Legitimation und Kontrolle und ohne Rückbindung an ihr Entsendeland (unabhängig). Sie müssen zwar berichten und sind dem Europäischen Parlament gegenüber verantwortlich, aber nicht einzeln, sondern nur als Kollegium. D.h. nur die gesamte Kommission kann (wie schon geschehen wegen Korruption) vom Europäischen Parlament abgesetzt werden. Lediglich der Kommissionspräsident wird vom Europäischen Parlament gewählt. Die Kommission hat umfassende legislative und exekutive Befugnisse, was keinesfalls der Gewaltenteilung entspricht (vgl. besonders VAEU Art. 290 u. 293). Noch fragwürdiger ist die Funktion des Europäischen Gerichtshofs, der praktisch als Gesetzgebungsorgan fungiert. Ihm obliegt vor allem im Rahmen der Auslegung des Unionsrechts (VEU Art. 19(3) z. B. die Durchsetzung der wirtschaftlicher Grundfreiheiten. Das sind die Freiheiten des Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Diese Grundfreiheiten haben praktisch Verfassungsrang. Von großer Bedenklichkeit ist auch, daß der EU-Vertrag keine politischen Alternativmöglichkeiten z.b. in der Wirtschaftspolitik vorsieht wie es in einer Demokratie bei unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen üblich ist! Besonders gravierend für die Geltung der Rechtssetzungen in der Union ist, dass sie Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten hat. Diese schwerwiegende Regelung stand im Verfassungsvertrag noch ausdrücklich im Art.I-6. Im Vertrag von Lissabon ist sie nun unauffälliger mit folgendem Wortlaut in die 17. Erklärung gerutscht : Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben. Im beigefügten Gutachten des juristischen Dienstes des Rates vom 22. Juni 2007 heißt es dann auch noch unterstreichend: Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs. 3

4 Diese Art des Umgangs mit Vertragsinhalten ist symptomatisch: In den insgesamt 413 Artikeln (55 VEU + 358 VAEU) stehen die ursprünglichen Formulierungen aus dem abgelehnten Verfassungsvertrag (einige auch nicht). In weiteren 37 Protokollen finden sich z.t. Abweichungen und Ergänzungen zu den Artikeln. In 65 Erklärungen werden wiederum Artikel und Protokolle erweitert und verändert. So ist es äußerst schwierig, sich ein zutreffendes Bild über die Regelungen zu verschaffen. VEU Art 51 bestimmt: Die Protokolle und Anhänge der Verträge sind Bestandteil der Verträge. Die demokratischen Institutionen der Mitgliedsländer, vor allem die Parlamente sind mit diversen Bestimmungen praktisch zur Bedeutungslosigkeit heruntergeregelt. Die nationalen Institutionen werden weitgehend nur noch unterrichtet. Zwar heißt es noch unter VEU Art. 5: (2) Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeit tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten. In dem Protokoll über die Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (2. Protokoll) wird in 9 Artikeln (unter Bezugnahme auf VEU Art. 5) jedoch u.a. geregelt: dass die nationalen Parlamente (jedes Land hat 2 Stimmen,d.h.in Deutschland 1 Stimme für den Bundestag und 1 Stimme für den Bundesrat), innerhalb von 8 Wochen (früher nur 6 Wochen) Stellung nehmen können, wenn sie der Meinung sind, dass ein Gesetzgebungsakt der Union nicht auf Unionsebene sondern auf Landesebene erfolgen sollte (d.h. daß er nicht den Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit entspricht). Der Entwurf eines Gesetzgebungsaktes der Kommission muss von dieser allerdings nur dann geprüft werden, wenn mindestens ein Drittel der Gesamtzahl der nationalen Parlamente entsprechend Stellung nimmt. Bei einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, d.h. wenn Rat und Parlament gemeinsam beteiligt sind, muss ein Einspruch nur dann geprüft werden, wenn mindestens die einfache Mehrheit Stellung nimmt. In diesem Protokoll Art. 7 (3) heißt es dann: Nach Abschluss dieser Überprüfung kann die Kommission beschließen, an dem Vorschlag festzuhalten, ihn zu ändern oder ihn zurückzuziehen. Sie hat also alle Vollmachten. Wenn die Kommission beschließt, an einem Gesetzgebungsvorschlag festzuhalten, der Gesetzgeber jedoch (Europäisches.Parlament und Rat) nicht dieser Ansicht ist, wird der Gesetzgebungsvorschlag nicht weiter geprüft. Ein besonders bemerkenswerter Artikel ( VAEU 352) (im Verfassungsvertrag I-18 Flexibilitätsklausel genannt) regelt die Gesetzgebungsbefugnis sozusagen abschließend: (1)Erscheint ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen und sind in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften. Werden diese Vorschriften vom Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen, so beschließt er ebenfalls einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. (2)Die Kommission macht die nationalen Parlamente im Rahmen des Verfahrens zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 5 Absatz 3 des Vertrages über die Europäische Union auf die Vorschläge aufmerksam, die sich auf diesen Artikel stützen. Die nationalen Parlamente haben dann die o.g. Möglichkeiten damit umzugehen. 4

5 Bei Änderung von Verträgen kann es im Bereich VAEU u.a. Titel V (Freiheit, Sicherheit, Recht) ein vereinfachtes Gesetzgebungsverfahren geben. Es kann verkürzt werden, so dass nur der Rat (d.h. evtl. die Innenminister) mit qualifizierter Mehrheit entscheiden (s.veuart.48 (7)I). Ein nationales Parlament kann jedoch innerhalb von 6 Monaten einen Änderungsvorschlag erfolgreich ablehnen. (Vgl. auch Protokoll 1 Über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union). In Bezug auf die Menschenrechte muss von einem defizitären Beschlussfassungs- und Geltungsverfahren geredet werden. Die in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, genannt Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), formulierten und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagbaren Menschenrechte werden zwar in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sehr verkürzt übernommen und sollen offiziell entsprechend der EMRK gelten. In EU Art. 6(2) heißt es: Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei. Aber: Dieser Beitritt ändert nicht die Zuständigkeit der Union, die in den Verträgen festgelegt ist. Dazu heißt es laut 2. Erklärung: Die Konferenz kommt überein, dass der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unter Bedingungen erfolgen sollte, die es gestatten, die Besonderheiten der Rechtsordnung der Union zu wahren. In diesem Zusammenhang stellt die Konferenz fest, dass der Gerichtshof der Europäischen Union und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem regelmäßigen Dialog stehen; dieser Dialog könnte beim Beitritt der Union zu dieser Konvention intensiviert werden. Bedeutet das: Die ohnehin im EU-Vertrag nicht geregelte Einklagbarkeit der Menschenrechte soll auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht möglich sein? So sieht es jedenfalls aus. Der Gerichtshof der Europäischen Union steht über allem und entscheidet über die Auslegung. (Vgl. Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 52 bes.(2),(5)) Abschließend möchte ich festhalten: Insgesamt ist ein erhebliches Demokratiedefizit in den Verträgen (bzw. im Vertrag von Lissabon) festzustellen. Allein schon die Tatsache, dass es sich bei dem Lissabon-Vertrag um ein äußerst umfangreiches Vertragwerk handelt, das - um es sorgfältig zu studieren - erheblich Zeit braucht, und eine konsolidierte Fassung des Lissabon-Vertrages (ohne Charta der Grundrechte) erst am 15.4.2008 offiziell verfügbar war (die deutsche Fassung des Amtsblatts der Europäischen Union ist sogar erst auf den 8.5.08 datiert), der Bundestag aber schon am 24.4. (und der Bundesrat am 23.5.2008) darüber abstimmten, zeigt, wie wenig das Parlament geschweige denn die Bevölkerung in den Abstimmungs- bzw. Diskussionsprozess einbezogen werden sollte - ganz abgesehen davon, dass den Bürgern unseres Landes ein Referendum über ein so weit reichendes Gesetzeswerk verwehrt wurde. Wer hat in Zukunft das Sagen? Marianne Krummel, E-Mail: Marianne.Krummel@t-online.de Berlin, den 25.8.08 5