Die evangelisch-lutherische Kirche in Bessarabien



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Vortrag von Pastor i.r. Arnulf Baumann bei der Festwoche DEUTSCHE SPUREN IN MOLDAU 1814 2014 vom 12. bis 15. Mai 2014 in Chisinau/Republik Moldau Die evangelisch-lutherische Kirche in Bessarabien Arnulf Baumann Im Folgenden werde ich auf die Entwicklung der evangelisch-lutherischen Kirche in Bessarabien eingehen, besonders in dem Landesteil, der heute zur Republik Moldau gehört. Dazu ist zunächst eine Vorbemerkung über den Status der Evangelisch- Lutherischen Kirche im Zarenreich nötig, zu dem Bessarabien von 1812 1918 gehörte. 1 Rechtliche Ordnung der evangelisch-lutherischen Kirche 2 Im Zarenreich bestand seit alters ein enger Zusammenhang zwischen den Herrschern und der Russischen Orthodoxen Kirche. Der Übertritt von dieser zu einer anderen Kirche war strikt untersagt, umgekehrt wurde er gefördert. Die Lutherische Kirche konnte jedoch früh Fuß fassen. Schon Zar Iwan IV., der Schreckliche, richtete in Moskau eine Sondersiedlung für Ausländer (Kriegsgefangene und Fachleute) aus dem Westen ein, die Nemezkaja Sloboda, wo seit 1570 ein evangelisch-lutherischer Pastor offiziell tätig war. Durch die Nordischen Kriege um 1700 kamen die Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland zu Russland, denen der Weiterbestand ihrer lutherischen Landeskirchen zugesichert wurde. Dadurch und durch gezielte Anwerbung von Einwanderern denen jeweils Glaubensfreiheit gewährt wurde - aus evangelischen Gebieten wurde die lutherische Kirche zur größten nicht orthodoxen Kirche des Reiches; sie war keine Staatskirche, stand aber unter Staatsaufsicht und wurde entsprechend dem absolutitstischen Staatsverständnis seit Zar Peter dem Großen als Teil der staatlichen Verwaltung behandelt. Daraus ergab sich auch eine staatliche Verantwortung für die religiöse Betreuung von evangelischen Soldaten, die in großer Zahl angeworben wurden, weshalb in den größeren Garnisonstädten Stellen für lutherische Divisionsprediger eingerichtet wurden, seit 1837 auch in Kischinew. Bereits 1832 wurden unter Zar Nikolai I. alle bisherigen Regelungen in einem Gesetz für die evangelisch-lutherische Kirche zusammengefasst, das bis zur Russischen Revolution in Geltung blieb. Darin wurde das Staatsgebiet außer für die Ostseeprovinzen auf zwei Konsistorien aufgeteilt, wobei Bessarabien dem Konsistorium in St. Petersburg unterstellt und dem I. Südrussischen Propstbezirk zugeteilt wurde. Bereits 1815, ein Jahr nach den ersten Ansiedlungen in Bessarabien, wurde Friedrich Schnabel als erster Pastor nach Tarutino entsandt, 1819 der zweite nach Arzis, 1842 der 1 Die umfassendste Darstellung der bessarabiendeutschen Kirchengeschichte findet sich bei Cornelia Schlarb, Tradition und Wandel. Die evangelisch-lutherischen Gemeinden in Bessarabien 1814 1940, (Studia Transylvanica Band 35), Böhlau Verlag Köln 2007, 669 S. Über die Geschichte der Deutschen in Russland informieren Gerd Stricker (Hg.) Deutsche Geschichte im Osten Europas. Rußland, Siedler Verlag Berlin 2007, 671 S. (darin: Detlef Brandes, Einwanderung und Entwicklung der Kolonien, S. 35 110). Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahhrhunderte deutschrussischer Kulturgemeinschaft, DVA Stuttgart 1986, 671 S. 2 Vgl. Helmut Tschoerner, Kirchenordnungen und Statute der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Rußland von 1832 bis 1924, (Beiträge zur Geschichte der evangelischlutherischen Kirche Rußlands Band 4/1), 276 S. Das Gesetz von 1832 findet sich auf den Seiten 32 181.

dritte nach Klöstitz. 3 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die neugegründeten Orte, die sogenannten Kolonien, bis dahin keine Gottesdienste gehabt hatten. Vielmehr gehörte es von Anfang an zur staatlichen Siedlungsplanung, dass in der Mitte eines Ortes Platz für eine Schule und eine Kirche gelassen wurde. Sowohl das Fürsorgekomitee als Verwaltungsbehörde für die Kolonien als auch die Siedler selbst legten großen Wert darauf, dass regelmäßig Gottesdienste gefeiert wurden und die Kinder Unterricht erhielten; nur so konnten sie an den Gottesdiensten teilnehmen, die das Lesen im Gesangbuch und in der Bibel voraussetzten. Entsprechend war der Schulunterricht zunächst fast ganz auf Bibel, Gesangbuch und Katechismus ausgerichtet, wozu Rechnen als weitere Kulturtechnik hinzukam. Dem von der Dorfgemeinschaft gewählten Lehrer anfangs waren das häufig nicht ausgebildete Pädagogen oblag es auch, an den Sonnund Feiertagen die Gottesdienste zu leiten und dabei gedruckte Lesepredigten zu verlesen, darüber hinaus Kinder zu taufen (was anschließend vom Pastor bestätigt werden musste), Verstorbene zu begraben und die älteren Kinder auf die Konfirmation vorzubereiten. Dem Pastor waren die Trauungen vorbehalten (die zugleich standesamtliche Geltung besaßen), außerdem die Bestätigung der Taufen und die letzte Vorbereitung auf die Konfirmation und diese selbst. Als in späterer Zeit mehrere Lehrer an einer Schule tätig wurden, wurde nur einer von ihnen zum Küsterlehrer gewählt und genoss als Stellvertreter des Pastors dadurch besonderes Ansehen. Dieses System der Küsterlehrer blieb in Bessarabien bis zur Umsiedlung 1940 erhalten und ermöglichte es, geregeltes kirchliches Leben auch in kleinen und neugegründeten Gemeinden zu entfalten. Die einzelnen Gemeinden wurden in einam Kirchspiel (Regionalpfarramt) zusammengefasst, in dem der Pastor die Gemeinden in regelmäßigem Turnus zu Gottesdiensten aufsuchte und die Aufsicht über die Schulen, inbesondere den Religionsunterricht führte. Im Propstbezirk, zu dem auch weite Gebiete östlich des Dnjestr gehörten, wurde nach vorheriger Wahl zweier Kandidaten durch die Pastoren vom Konsistorium ein Propst bestimmt, dessen Amtssitz jedoch mit dem Amtsinhaber wechselte. Angesichts der weiten Entfernungen waren die Wirkungsmöglichkeiten der Pröpste jedoch begrenzt. Nach der Abtrennung Bessarabiens von Russland wählte man nach baltischem Vorbild einen Oberpastor für die bessarabischen Gemeinden und richtete ein kleines Konsistorium in Tarutino ein. Auch nach der Eingliederung der bessarabischen Gemeinden in die Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Rumänien 1927 blieb diese Struktur erhalten, auch die Bezeichnung evangelisch-lutherisch ; der Oberpastor behielt das Recht, junge Pastoren zu ordinieren. Pietistische Prägung der Frömmigkeit Für die innere Ausrichtung der in Südbessarabien entstandenen Kolonien von insgesamt 25 zwischen 1814 und 1842 entstandenen Mutterkolonien war nur eine (Krasna) katholisch, alle anderen gehörten zur evangelisch-lutherischen Konfession (der 3 Vgl. Erik Amburger, Die Pastoren der evangelischen Kirchen Rußlands, Nordostd. Kulturwerk Lüneburg/Martin-Luther-Verlag Erlangen 1998, 557 S. Arnulf Baumann, Pastoren der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands bis 1918 in Bessarabien, (Jahrbuch der Deutschen aus Bessarabien 2002) S. 253 273. Ders., Bessarabische Pastoren in rumänischer Zeit (Jahrbuch 2005), S. 100 118. Zum kirchlichen Leben insgesamt vgl. Ute Schmidt, Bessarabien. Deutsche Kolonisten am Schwarzen Meer, (Potsdamer Bibliothek Östliches Europa. Geschichte), Deutsches Kulturforum Östliches Europa Potsdam 2008 u. ö., 420 S. (zum kirchlichen Leben s. bes. S. 115 166).

Sonderfall Schabo mit schweizerisch-reformierten Ansiedlern kann hier übergangen werden) war die Tätigkeit des Erweckungspredigers Ignaz Lindl (1774-1845) von großer Bedeutung. Dieser war römisch-katholischer Pfarrer in Bayerisch Schwaben, wurde von der Allgäuer Erweckungsbewegung erfasst und zog im Grenzgebiet zu Württemberg eine große Zahl von Anhängern katholischen und evangelischen Glaubens an. Als er von seiner Kirchenbehörde gemaßregelt wurde, suchte er mit einem Freund Zuflucht bei Zar Alexander I, der damals selbst der pietistischen Bewegung zuneigte. Vom Zaren wurde er 1822 zum Propst für die Katholiken im Schwarzmeergebiet ernannt und mit einem großen Landstück ausgestattet. Dorthin zogen seine Anhänger und gründeten die Kolonie Sarata. Durch seine feurigen Predigten übte Lindl große Wirkung auf die in erheblichen Anfangsschwierigkeiten steckenden Kolonisten auch der anderen Orte aus. Lindl wurde zwar schon 1823 seines Amtes enthoben und des Landes verwiesen, weil er heimlich verheiratet war. Nach seinem Weggang entschieden sich auch die katholischen Siedler in Sarata für die evangelische Kirche. 4 Die vor allem von Lindl ausgehende pietistische Prägung der Gemeinden in ganz Bessarabien blieb jedoch bis zuletzt erhalten, wobei die in jedem Ort gebildeten Brüdergemeinschaften, in denen Laien die Bibel auslegten und miteinander beteten und sangen, den Kern bildeten (die heutigen Evangeliumschristen-Baptisten gehen auf Anregungen aus diesen Kreisen zurück). Sarata war auch der Ort, von dem bedeutende Impulse für die Schulbildung ausgingen: Der evangelische Organisator der Auswanderung der Lindl-Anhänger in Württemberg, der Kaufmann Christian Friedrich Werner, zog im hohen Alter 1823 nach Sarata, starb jedoch nach wenigen Wochen. Er hinterließ der Gemeinde ein beträchtliches Vermögen mit der Zweckbestimmung, damit ein Missionsseminar zu gründen. Das war im Zarenreich nicht möglich. Nach langen Verhandlungen gelang es dann, dieses Kapital für die Gründung einer Lehrerbildungsanstalt zu verwenden, die 1844 als Werner-Schule eröffnet wurde und in der Folgezeit eine große Zahl gut ausgebildete und christlich geprägte Lehrer für die evangelischen Schulen hervorbrachte, weit über Bessarabien hinaus. Zunahme der Siedlungen und Ausbau des Kirchspiels Die 25 Mutterkolonien waren durchweg im Umkreis des Steppenflusses Kogälnik entstanden, von Leipzig/Sierpnowoje im Norden bis Sarata im Süden. Sie gehören heute zur Ukraine. Durch die rasche Bevölkerungszunahme bei den Bessarabiendeutschen, zum Teil aber auch durch Zuwanderung von Deutschen aus der nördlich angrenzenden Bukowina und dem nordöstlich angrenzenden Galizien, entstanden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche neue deutsche Siedlungen, so dass deren Gesamtzahl auf zuletzt über 150 anstieg. Das nötigte dazu, neue Kirchspiele zu gründen; auf dem Gebiet der heutigen Moldau waren das außer Kischinew Neu-Sarata (gegründet 1903), Albota (1912) und Mathildendorf (1935). 5 Die neuen Siedlungen wurden zum Teil auf Pachtland gegründet, weshalb einige von ihen wieder auzfgegeben werden mussten. Gesicherter waren die auf dafür gekauftem Land angelegten Siedlungen. In den Städten sammelte sich mit der Zeit auch eine städtische Bevölkerung, vor allem in der Provinzhauptstadt Kischinew/Chisinau. 4 Zu Lindl, Werner und Sarata vgl. Christian Fiess (Hg.), Heimatbuch Sarata 1822 1940, Selbstverlag Stuttgart, 780 S. (zum kirchlichen Leben vgl. bes. S. 79 ff.) 5 Zu den Kirchspielen vgl. Schlarb, Tradition, S. 580ff.

In Kischinew selbst 6 lebten zunächst vor allem Militärpersonen, zeitweise bis zu 600 Evangelische. Hinzu kamen Handwerker, Geschäftsleute, aber auch Verbannte. 1825 wurde ein Lehrer angestellt, der gewiss auch Gottesdienste leitete. 1827 erfolgte die offizielle Konstituierung der Kirchengemeinde. Der repräsentative Bau der Nikolai- Kirche zog sich von 1834 bis 1838 hin, sie wurde zum Mittelpunkt des Gemeindelebens. (Heute steht der Präsidentenpalast auf diesem Gelände.) Zwei Schulen kamen hinzu. Die Gemeinde Kischinew entwickelte sich zu einer bürgerlich geprägten, lebendigen und angesehenen Stadtgemeinde. Hinzu kamen die ganz anders geprägten bäuerlichen Siedlungen, die oft noch in Anfangsschwierigkeiten steckten. Dadurch wurde das Kirchspiel Kischinew zum geografisch ausgedehntesten in ganz Bessarabien. Bei der Umsiedlung der Bessarabiendeutschen 1940 umfasste es insgesamt 16 so genannte Nebengemeinden, die nur in größeren Abständen vom Pastor besucht werden konnten, von Ryschkanowka im Norden bis Bender/Bendery im Südosten. Bei den immer noch schwierigen Straßenverhältnissen waren diese Besuche sehr anstrengend. Jedoch konnte sich der Pastor während seiner Abwesenheit auf den Dienst der Küsterlehrer vor Ort verlassen. Die Pastoren für Bessarabien waren in der russischen Zeit zunächst vor allem aus den baltischen Ostseeprovinzen gekommen, in Kischinew blieb das bis 1940 so. Die beiden letzten Pastoren waren besonders lange im Kirchspiel tätig: Rudolf Faltin 44 Jahre von 1859 bis 1903, Erich Gutkewitsch 41 Jahre, von 1899 bis 1940. Das hat sehr zur Stabilisierung der kirchlichen Verhältnisse beigetragen. Rudolf Faltin Josef Rabinowitsch Erich Gutkewitsch Faltin, geboren 1829 in Riga, sammelte nach dem Theologiestudium in Dorpat seine ersten Erfahrungen im Pfarrdienst ab 1856 in Archangelsk und war dann ab 1859 Pastor in Kischinew, bis 1896 zugleich Divisionsprediger, 1890 bis 1903 zugleich Propst. Er entwickelte in einer Stadt, in der fast die H#lfte der Bevölkerung aus Juden bestand - ein persönliches Interesse an der Gewinnung von Juden für das Christentum, wodurch er in engeren Kontakt mit dem Förderer der Judenmission in Deutschland, Professor Franz Delitzsch (1813 1890) 7 in Leipzig kam. In diesem Zusammenhang hatte Faltin die besondere Freude, dass der Rabbiner Rudolf Hermann Gurland aus Litauen sich von 1862 bis 1864 bei ihm in den christlichen Glauben einführen und sich 1864 in Kischinew von ihm taufen ließ. Nach einer weiteren Ausbildung wurde Gurland zum evangelischlutherischen Pfarramt ordiniert, war von 1867 bis 1871 als Pastor-Adjunkt für Judenmission in Kischinew tätig, bevor er 1871 in seine baltische Heimat zurückkehrte. Durch Gurland wurde Faltin im ganzen russischen Reich und darüber hinaus bekannt und wurde zu einer wichtigen Anlaufstelle für übertrittswillige Juden, die er zum Teil in Arbeitsstellen in den deutschen Siedlungen in Nordbessarabien, zum größeren Teil nach Deutschland weitervermittelte. Aus der Zusammenarbeit mit Professor Delitzsch ergab sich die Möglichkeit, jüngere Pastoren für die Betreuung solcher Proselyten und die Hilfe 6 Vgl. Albert Kern (Bearbeiter und Hg.), Heimatbuch der Bessarabiendeutschen, Selbstverlag Hannover (1963), 654 S. (zum Kirchspiel Kischinew vgl. bes. S. 238 263., dort auch zu Rudolf Faltin und Erich Gutkewitsch. 7 Zu Delitzsch vgl. Arnulf H. Baumann, Franz Delitzsch (1813 1890), in: Arnulf Baumann (Hg.), Auf dem Weg zum christlich-jüdischen Gespräch. 125 Jahre Evangelischlutherischer Zentralverein für Zeugnis und Dienst unter Juden und Christen, (Münsteraner Judaitische Studien Band 1), LIT Verlag Münster 1998, 231 S:, S. 48 59.

bei der Betreuung der weit verstreuten Siedlungen zu gewinnen. Dazu gehörte auch Pastor Dr. Heinrich Lhotzky aus Sachsen, der einige Jahre in der Zentrale des von Delitzsch gegründeten Missionsverein mitgewirkt hatte und von 1886 1889 in Kischinew und Oneschti.tätig war; er machte sich später als religiöser Schriftsteller in Deutschland einen Namen. In Faltins Amtszeit fiel auch eine andere bedeutsame Entwicklung: Der jüdische Kaufmann und Rechtsberater Josef Rabinowitsch (1837 1899), 8 geboren in Resina,, tätig in Maschkautz/Moschkowitz, Orhei/Orgejow und schließlich Kischinew neigte zunächst der jüdischen Aufklärungsbewegung zu, war vielfach publizistisch tätig und begeisterte sich für die Rückwanderung der Juden in das Land der Bibel. Eine Reise dorthin, die er im Jahre 1882 zur Vorbereitung einer solchen Ansiedlung unternahm, führte jedoch zur Abwendung von solchen Plänen. Stattdessen kam es auf dem Ölberg in Jerusalem zu einer neuen Begegnung mit Jesus von Nazareth, den er von nun an Jesus, unser Bruder nannte. Die Folgezeit nutzte Rabinowitsch, um seine Gedanken und Pläne zu klären und zu entwickeln, bis er Anfang 1885 mit behördlicher Genehmigung damit begann, eigene Gottesdienste für Israeliten des Neuen Bundes wie er die entstehende Gemeinde nannte - abzuhalten. Er legte größten Wert drauf, von keiner Kirche oder Missionsgesellschaft abhängig zu sein. Dadurch wurde der anfangs engere Kontakt zu Faltin immer lockerer. Faltin hatte vermutlich die Hoffnung gehabt, die Anhänger Rabinowitschs in seine Kirche aufnehmen zu können, doch verweigerte sich Rabinowitsch konsequent. Die Südrussische Christentumsbewegung, wie sie in Deutschland damals genannt wurde, erregte großes Aufsehen, auch über Deutschland hinaus. Professor Franz Delitzsch, den Rabinowitsch in Leipzig aufgesucht hatte, brachte mehrere Informationsschriften darüber heraus, in denen er Rabinowitsch das Recht zu einer eigenständigen judenchristliche Entwicklung zugestand. Die russischen Behörden gestatteten Rabinowitsch zwar, Versammlungen abzuhalten und darin zu predigen; eine rechtliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft mit dem Recht zur Taufe und Abendmahlsfeier blieb ihm jedoch dauerhaft versagt. Trotzdem gelang es Rabinowitsch, eine beachtliche Zahl von Anhängern um sich zu sammeln. Nach seinem Tode 1899 fand sich keine Nachfolger und die verbliebenen Anhänger konnten nur in Gemeinschaft mit russischen Stundisten (heute: Evangeliumschristn-Baptisten) weiterwirken. 1928 gründeten sie eine judenchristliche Gemeinde, bis der Holocaust alles zunichte machte. Die heutigen messianisch-jüdischen Gemeinden in aller Welt sehen Rabinowitsch jedoch als eine Gründergestalt ihrer Bewegung an. Die dargestellten Entwicklungen zeigen, dass zwischen Lutheranern und Juden zwar ein religiöser, aber kein rssistischer Gegensatz bestand; wer sich zum Übertritt entschloss, wurde als Christ anerkannt. Das zeigt sich auch darin, dass nach dem schrecklichen Progrom von 1903 in Kischinew immer mehr Juden in die deutschen Siedlungen bis in den Süden Bessarabiens zogen, wo sie sich sicherer fühlten als in den Städten im Norden der Provinz. Diese Grundeinstellung bewährte sich auch noch 1933, als der 8 Zu Rabinowitsch vgl. Kai Kjaer-Hansen, Joseph Rabinowitz and the Messianic Movement. The Herzl of Jewish Christianity, Handsel Press Edinburgh/ Eerdmans Publishing Co. Grand Rapids, Michigan 1995, 262 S. Arnulf Baumann, Josef Rabinowitschs messianisches Judentum, in: Folker Siegert (Hg.), Grenzgänge. Menschen und Schicksale zwischen jüdischer, christlicher und deutscher Identität. FS Diethard Aschoff (Münsteraner Judaistische Studien Band 11), LIT Verlag Münster 2002, S. 195-211:

Kirchenvorstand in Kischinew sich weigerte, sich dem Diktat des vom Nationalsozialismus begeisterten Konsuls Hirsch zu beugen. Der letzte Pastor vor der Umsiedlung, Erich Gutkewitsch, geboren 1873 im Baltikum, war zunächst als Vikar im Kirchspiel tätig und wurde 1904 Nachfolger Faltins. Er erwarb sich auch dank seiner Sprachbegabung hohes Ansehen bei den Behörden und der ganzen Bevölkerung, weit über die Grenzen der eigenen Gemeinde hinaus. Bekannt war seine uneigennützige Hilfeleistung für Menschen aller Nationalitäten, die in irgendwelche Schwierigkeiten gekommen waren. Ebenso hingebungsvoll widmete er sich den den vielen ländlichen Gemeinden. Mit der Umsiedlung trat er in den Ruhestand und starb 1956 in der Nähe von Stuttgart. Als im Laufe des Zweiten Weltkriegs Bessarabien wieder an Rumänien angeschlossen wurde, kümmerte sich die Evangelische Landeskirche A. B. in Rumänien um den Wiederaufbau des kirchlichen Lebens in Kischinew. Davor hatte alles evangelische kirchliche Leben in Bessarabien aufgehört, da die deutsche Landbevölkerung fast geschlossen umgesiedelt war; nur in Städten wie Kischinew und Akkerman waren einige Mitglieder zurückgeblieben, meist, weil sie mit nichtdeutschen Partnern verheiratet waren. Zu ihnen gehörte auch der letzte Küsterlehrer Friedrich Gast, der sich nach der rumänischen Besetzung bei der Kirchenleitung meldete und um Hilfe für den Aufbau bat. Daraufhin sammelte sich eine kleine Gemeinde von solchen einheimischen und aus Rumänien zugezogenen Lutheranern, die unter Leitung von Friedrich Gast zwischen September 1941 und März 1944 zu Gottesdiensten zusammenkam. Nach dem Einmarsch der Roten Armee im Sommer 1942 war es auch damit zu Ende. 9 In der Nachkriegszeit gab es verschiedene Versuche, von Rumänien (Jassy) oder von Odessa und anderen Orten aus wieder Gemeinde zu sammeln. Am stabilsten hat sich die Gemeinde von Pastor Dragan erwiesen, die unter Anknüpfung an die einstige Tradition der ev.-luth. Kirche in Bessarabien eine Gemeinde in Kischinew mit Nebengemeinden in Bälz/Balti und Bender/Bendery aufgebaut hat. Die evangelisch-lutherische Kirche in Bessarabien, die einmal das Leben der Bessarabiendeutschen entscheidend geprägt hat, ist zwar weitgehend aus dieser Gegend verschwunden, aber ihre Spuren sind geblieben, in den Kirchengebäuden, aber auch in der Verbindung zwischen den früheren und den heutigen Bewohnern. 9 Vgl. Cornelia Schlarb, Die Wiederbelebung der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Kischinew nach der Umsiedlung der Bessarabiendeutschen, (Jahrbuch der Deutschen aus Bessarabien 1999), S, 101-124.