Gemeinsame Stellungnahme der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und der Fachverbände

Ähnliche Dokumente
unbegleitete minderjährige Ausländer

Fachtagung. Kindeswohl als Kooperationsgrundlage von Ausländerbehörden und Jugendämtern. Ausländerrecht und Jugendhilfe aktuelle Entwicklungen

Familienzusammenführung bei unbegleiteten ausländischen Minderjährigen

Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher

Inobhutnahmen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (umf) in Dresden 2014

Asyl- und Ausländerrecht an der Schnittstelle Jugendhilfe Die Rolle des Kindeswohls

Situation der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UmF) im Landkreis Bad Kreuznach

Grundsätze für die Altersbegutachtung

Unbegleitete minderjährige Kinder und Jugendliche Abgrenzung der Begriffe: Familienzusammenführung Verwandtenpflege Gastfamilien

Sind medizinische Untersuchungen zur Altersschätzung unethisch?

Rechtsfragen zu unbegleiteten minderjährigen Ausländern

UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE IN DER KINDER- UND JUGENDHILFE

Systematik des SGB VIII

Dublin IV Verordnung Vorschlag der EU Kommission Mai Nicole Viusa

VORLESUNGSREIHE KJP WS 2012/2013

Brandenburgisches Oberlandesgericht. Beschluss

Gesundheitsuntersuchungen im Vollzug des 42 SGB VIII

Information. Zahnärztliche Behandlung von Asylbewerbern. Bundeszahnärztekammer, September Es gilt das gesprochene Wort

UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE: BETEILIGUNG ERÖFFNEN UND SICHERSTELLEN

Minderjährige im Asylverfahren

Art. 1 GG (1)Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Die Situation begleiteter und unbegleiteter Flüchtlingskinder in Deutschland. Unterschiedliche Herausforderungen!

Junge Flüchtlinge in Deutschland

Das familiengerichtliche Verfahren bei der Bestellung eines Vormunds / Ergänzungspflegers für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge

Versorgung und Betreuung minderjähriger Flüchtlinge im Rahmen der Kindertagesbetreuung sowie uma

Artikel 1 Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch 6 Abs. 2 Geltungsbereich

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Stadt Aachen

auf der Grundlage von 17 Abs. 1b SGB XI

Gewährung medizinischer und anderer Hilfen an schutzbedürftige Personen nach den Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie

Vereinbarungen nach 72a Abs. 2 und 4 SGB VIII mit Trägern der freien Jugendhilfe Vorlage von erweiterten Führungszeugnissen

Art.3 des Gesetzes regelt sodann die Abstimmungsmodalitäten, welche den Regelungen des BWahlG entsprechen.

13. Wahlperiode

Das Gebäude der Kinderrechte

Besonderheiten der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen

Entwurf eines... Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes

SITUATION VON MUF IN HAMBURG

Das Zuwanderungsgesetz 2005

Verfahrensfragen der freiheitsentziehende. Unterbringung von Kindern und Jugendlichen

Vereinbarung. Sicherstellung des Schutzauftrages nach 72a SGB VIII

UNBEGLEITETE MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE UND DIE KINDER UND JUGENDHILFE

Recht zu leben. Recht zu sterben Ä R Z T E K A M M E R B E R L I N

Fachberatung im Kinderschutz Fachtag, Hannover,

zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher

Traumatisierte Flüchtlinge in der Beratungspraxis. Zugang zum Gesundheitssystem für

Kindeswohlgefährdung. hrdung im Spektrum fachlicher Einschätzungen und rechtlicher Rahmenbedingungen ( 8a SGB VIII)

Entwurf eines... Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe

Satzung, Ermächtigung, Geschäftsführer, Liquidator, 181 BGB, Befreiung, Selbstkontrahierungsverbot

H a g e n e r L e i t f a d e n f ü r U m g a n g s r e c h t s v e r f a h r e n. (Hagener Modell)

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Grenzregion Landkreis Lörrach:

Umgang mit der Umgangsregelung wer hat was zu sagen?

1. Anwendungsbereich/-zeitraum des Verfahrens des Dortmunder Entwicklungsscreenings für den Kindergarten (DESK 3-6)

allgemeiner Begriff Asylbewerber beinhaltet 3 unterschiedliche Personengruppen:

Kinderschutz im Gesundheitswesen Fachveranstaltung Ärztekammer Schleswig-Holstein Bad Segeberg, 10. September 2014

Wissenschaftliche Dienste. Sachstand. Doppelte Staatsbürgerschaft Aktuelle Rechtslage Deutscher Bundestag WD /13

der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP)

Satzung des Landkreises Gotha zur Kindertagespflege

Antrag auf Gewährung eines Zuschusses zur Lernförderung im Rahmen von Bildung und Teilhabe

Einladung. Kongress Kindeswohl auf dem Prüfstand Was brauchen belastete Kinder? Sehr geehrte Damen und Herren,

Das neue Gesetz zur Regelung von Patientenverfügungen. Juristische Aspekte

Akkreditierung in Deutschland Was bedeutet die Entscheidung des BVerfG? Prof. Dr. Andreas Musil Vizepräsident für Lehre und Studium Universität

Geschäftszahl: VA-8682/0002-V/1/2015. Betr.: Änderung des NÖ Grundversorgungsgesetzes; Umsetzung der EU Richtlinie 2013/33/EU

Positionierung und Forderung des Paritätischen Landesverbandes Brandenburg

Allein in einem fremden Land

Entscheidungserhebliche Gründe

Der Nationale Normenkontrollrat hat den Regelungsentwurf geprüft.

Soziale Grundrechte. Vorlesungen vom 22. und 25. November 2011 Prof. Christine Kaufmann Herbstsemester 2011

Medizinische Versorgung unbegleiteter minderjähriger Ausländer aus Sicht der Kinder und Jugendärzte

Pressemappe Hintergrundwissen zur Arbeit der Jugendämter

Diagnostik von Traumafolgestörungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Unbegleitete minderjährige Ausländer (uma) Übergangslösungen zur Unterbringung, Versorgung und Betreuung 1

Familienzusammenführung unbegleitete Minderjährige Möglichkeiten und Grenzen ein Überblick sfbb, 30.September 2015

Welche Aufenthaltsdokumente für Flüchtlinge gibt es?

Die Bestimmung des Kindeswohls in grenzübergreifenden Fällen

Rolle und Arbeitsweise der Insoweit erfahrenen Fachkraft nach 8a SGB VIII

Suizid und Suizidbeihilfe Sitzung des Deutschen Ethikrats

Familienbesuch Willkommen oder Heimsuchung?

Neues aus dem Recht. Zwangsbehandlung, Selbstbestimmung und Betreuung bei psychischer Erkrankung

Rechtliche Grundlagen von Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen in der Psychiatrie. Prof. Dr. Dirk Olzen

Richtlinien für die öffentliche Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe durch den Landkreis Prignitz

Welche Bedeutung hat das Patientenrechtegesetz für die Pflege?

Jugendhilfe als Bürge für Inklusion in der Schule

Handeln bei Anzeichen für eine mögliche Kindeswohlgefährdung (Umsetzung des 8a SGB VIII) Verfahrensablauf für Jugendeinrichtungen 1

Grenzkontrollen, Zurückweisungen und Zurückschiebungen durch die Bundespolizei bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedsstaaten, Artikel 5, Artikel 15, Artikel 17

Herzlich Willkommen zur Fachtagung für Pflegekinderdienste öffentlicher und freier Träger April 2016

7.2 Begriff, Erwerb und Ausübung der elterlichen Sorge Begriff und Bestandteile der elterlichen Sorge

Netzwerke und Kooperationen in den Kommunen

Universität Würzburg Wintersemester 2007/2008. Konversatorium zum Grundkurs Öffentliches Recht I. Lösungsskizze der 1. Klausur vom 6.12.

Asylantragstellung. Persönlich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Termin zur Aktenanlage)

Auswirkungen der Umverteilung auf unbegleitete minderjährige Geflüchtete

Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung

Wie ist die Zielsetzung einer vollständigen Barrierefreiheit im ÖPNV bis 01. Januar 2022 zu verstehen?

des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst

UN Konvention über die Rechte des Kindes

7.2 Begriff und Erwerb der elterlichen Sorge Begriff und Bestandteile der elterlichen Sorge

Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen

Stellungnahme der Bundesärztekammer

Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Ausländern in Pflegefamilien - eine Alternative?

1 Allgemeine Erläuterungen Entwicklung Entwicklung der jährlichen Zuweisungszahlen der Bundesrepublik Deutschland...

Transkript:

www.kinderpsychiater.org www.dgkjp.de Gemeinsame Stellungnahme der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und der Fachverbände DGKJP BKJPP BAG KJPP Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (BAG) Dr. Martin Jung Kommissarischer Vorsitzender HELIOS Fachklinik Schleswig GmbH Kinder- und Jugendpsychiatrie Friedrich-Ebert-Str. 5 24837 Schleswig Tel.: 0 46 21/ 83-1600 Fax: 0 46 21/ 83-4852 E-Mail: Martin.Jung@helioskliniken.de zu Methoden der Altersfeststellung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen Autoren: Berg, Jung, Fegert I. Einleitung: Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V. (BKJPP) Dr. med. Gundolf Berg, Vorsitzender Rhabanusstraße 3 55118 Mainz Tel.: 0 61 31 69 38 07 0 Fax: 0 61 31 69 38 07 2 E-Mail: berg@bkjpp.de Das BMFSFJ hat bereits im Juni 2015 den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vorgelegt. Nachdem der Entwurf den Bundesrat passiert hat, wird das Gesetz zum 01.11.2015 in Kraft treten. Nach Schätzungen lebten zum 31.12.2013 mehr als 65.000 minderjährige Flüchtlinge in Deutschland (Quelle: UNICEF). Vor dem Hintergrund der nunmehr stattfindenden Entwicklung ist davon auszugehen, dass sich diese Zahl bis Ende 2015 erheblich erhöhen wird. Viele dieser minderjährigen Flüchtlinge kommen ohne Familienangehörige nach Deutschland (UMF). In der Plenarsitzung des Bundesrates, welche am 25.09.2015 stattfand, wird eine Zahl von 22.000 UMF genannt. Nach dort vorgebrachten Schätzungen sollen es bis zum nächsten Jahr 30.000 UMF sein. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) Prof. Dr. med. Jörg Fegert Präsident Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstraße 5, 89075 Ulm 0731 / 5006-1600; 0731 / 5006-1602 E-Mail: joerg.fegert@uniklinikulm.de 1

Das Alter der unbegleiteten Flüchtlingen ist in den Verfahren regelmäßig von Belang unter dem Gesichtspunkt, ob der Flüchtling minderjährig, und damit vom Jugendamt in Obhut zu nehmen ist und entsprechende Regelungen für Minderjährige gelten, oder ob er bereits erwachsen (d.h. älter als 18 Jahre) ist, und damit die Jugendhilfe primär nicht zuständig ist und das Asyl-Verfahren nach den bei Erwachsenen gültigen Regelungen abläuft. Es gibt viele denkbare Konstellationen, in denen es rechtlich von Belang ist, ob ein Flüchtling minderjährig oder bereits erwachsen (d.h. älter als 18 Jahre) ist. So werden viele Vergünstigungen an die Minderjährigkeit geknüpft. Zu nennen ist hier beispielsweise die Bestellung eines Vormunds (vgl. 55 SGB VIII) oder die Inobhutnahme ( 42 SGB VIII) durch das Jugendamt, die nur bei Kindern und Jugendlichen i.s.d. 7 SGB VIII erfolgt. In Deutschland finden offenbar verschiedene Methoden zur Altersfeststellung bei minderjährigen Flüchtlingen Anwendung, bei minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen im Rahmen der Inobhutnahme, auch medizinische Begutachtungen. Dagegen sieht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bei Altersfeststellung im Rahmen von Asylverfahren medizinische Begutachtungen nicht vor (vgl. Parusel 2009). Die meisten Bundesländer gehen auch analog zum BAMF bei der Altersfeststellung so vor, dass sie Gespräche mit den Jugendlichen führen, den Entwicklungsstand einschätzen und ihnen ihr Alter im Zweifel einfach glauben. Jedoch werden insbesondere in Berlin und Hamburg diverse Maßnahmen zur Altersfeststellung praktiziert, die in den Medien in letzter Zeit zu teils heftiger Kritik geführt haben. Zu nennen sind hier neben radiologischen Verfahren insbesondere auch Genitaluntersuchungen. Die DGKJP begrüßt, dass das BMFSFJ sich der Thematik der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge angenommen hat. Gut am Gesetzentwurf, der nun zum 01.11.2015 in Kraft tritt ist, dass die Altersgrenze ab der Verfahrenshandlungen nach dem Aufenthaltsgesetz und dem Asylverfahrensgesetz durchgeführt werden können, auf das 18. Lebensjahr angehoben wird. Positiv bewertet wird auch, dass nach den Lesungen im Bundestag nunmehr eine Regelung zur Altersfeststellung in das Gesetz eingearbeitet werden soll. Allerdings halten wir die dort gefundene Formulierung für zu schwach. Ergänzend zu den bereits vorliegenden Stellungnahmen der DGKJP vom 26.06.2015 und der ausführlichen Stellungnahme der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und der Fachverbände vom 31.10.2014 soll nun 2

noch einmal speziell zu den Methoden der Altersfeststellung und ihrer rechtlichen Bewertung Stellung bezogen werden. II. Methoden zur Altersfeststellung In verschiedenen Fällen werden zur Festlegung des Alters bei Zweifeln medizinische Gutachten eingeholt. Zum Einsatz kommen hierbei unter anderem folgende Verfahren: 1. Radiologische Verfahren Durch eine Handröntgenaufnahme soll das Alter des Kindes/Jugendlichen festgestellt werden. Die häufigste Art der Knochenaltersbestimmung ist die Bestimmung des Knochenalters nach Greulich und Pyle. Der als Referenz herangezogene Atlas basiert aber auf einer Population aus den 1930-er Jahren und beachtet nicht, dass das mittlere Knochenalter je Altersgruppe in den letzten 80 Jahren deutlich angestiegen ist. Dazu kommen Differenzen zwischen verschiedenen Ethnien (Deutsches Ärzteblatt, Jg. 111, Heft 18, 2. Mai 2014) und fehlende Normwerte für die jeweils einzelnen Ethnizitäten. Eine wissenschaftliche Methode kann eine Handröntgenaufnahme somit nicht darstellen. Sie stellt im Gegenteil eine unnötige, medizinisch nicht verantwortbare Strahlenbelastung dar. Auch für die modernere und weniger strahlenbelastende Methode einer Computertomographie des Sternoclaviculargelenkes gilt die große Streubreite der Entwicklung in den vorhandenen Untersuchungen und gelten die fehlenden Normen für die zu untersuchenden Ethnizitäten. 2. Genitaluntersuchungen Auch Genitaluntersuchungen werden in der Regel im Zusammenhang mit einer Begutachtung vorgenommen. Hierzu werden die Geschlechtsorgane, insbesondere junger Männer, in Augenschein genommen, um das Alter abschätzen zu können. Auch hier fehlen für die jeweiligen Ethnizitäten der Flüchtlinge verlässliche wissenschaftliche Daten. Es ist stark umstritten, bei der im übrigen auch im Westen bestehenden Streubreite der sogenannten Tanner-Stadien, ob 3

durch eine Genitaluntersuchung eine verlässliche Altersfeststellung erfolgen kann. Somit ist bei mangelnder Evidenzbasierung das durch eine solche Untersuchung erfolgende Überschreiten von Schamgrenzen medizinisch nicht zu rechtfertigen. Aus jugendpsychiatrischer Sicht ist eine Altersfeststellung zusätzlich an psychosozialen Aspekten und nicht nur an biologischen festzumachen, was den Forderungen des 117. Deutschen Ärztetages (http://www.bundesaerztekammer.de/arzt2014/media/applications/evii45.pdf). im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung der Person entspricht. Bekanntlich kann es überdies durch das Erleben von sexuellem Missbrauch oder durch übermäßige Belastungen im Rahmen der Flucht zu einer biologischen Altersakzeleration und damit einer Reifungsdiskrepanz kommen, was eine objektive Altersfeststellung mit biologischen Parametern verunmöglicht. III. Rechtliche Bewertung dieser Methoden Aus Sicht der DGKJP sind die unter II. genannten Methoden nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in rechtlicher Hinsicht kritisch zu sehen. 1. Vereinbarkeit mit Art. 3 UN-KRK Art. 3 der KRK stellt den Grundsatz auf, dass das Wohl des Kindes bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist. Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht sollte der Begriff des Kindeswohls eng an den Wünschen und Bedürfnissen des Kindes bzw. Jugendlichen ausgelegt werden. Eine Beteiligung des Kindes/ Jugendlichen ist, entsprechend der Vorgaben in Art.12 UN-KRK, unbedingt zu gewährleisten. Bei UMF setzt dies insbesondere voraus, dass diese einen Dolmetscher erhalten, um ihre Wünsche und Bedürfnisse, hier etwa in einem Gespräch zur Alterseinschätzung, auch kommunizieren zu können. Selbstverständlich ist, dass dieser Dolmetscher auch finanziert werden muss (vgl. zur Thematik auch Beschluss DÄT 2015 in der Anlage.) 4

2. Vereinbarkeit mit Art. 22 der UN-KRK Nach Art. 22 der KRK ist für Flüchtlingskinder (auch unbegleitete Flüchtlingskinder) angemessener Schutz und humanitäre Hilfe zu gewährleisten. Angemessener Schutz impliziert aus Sicht der DGKJP auch den Schutz vor erniedrigenden Untersuchungsmaßnahmen und den Schutz vor einer Retraumatisierung, denn gerade UMF sind auf der Flucht nicht selten auch sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen. 3. Vereinbarkeit mit Anmerkung 6, general comments des UN- Ausschusses für die Rechte des Kindes Dort heißt es: The state party however remains concerned that:.. (b) The age assessment procedure in the state party may involve degrading and humiliating practices and does not reduce accurate results, and a significant number of asylum-seeking and refugee children are identified as adults. 4. Vereinbarkeit mit Art. 25 Abs. 5 EU-Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) Art. 25 der EU-Verfahrensrichtlinie bestimmt verschiedene Garantien für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. So legt Art. 25 Abs.5 der Richtlinie folgendes fest: Die Mitgliedstaaten können im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ärztliche Untersuchungen zur Bestimmung des Alters unbegleiteter Minderjähriger durchführen lassen, wenn aufgrund allgemeiner Aussagen oder anderer einschlägiger Hinweise Zweifel bezüglich des Alters des Antragstellers bestehen. Das bedeutet, dass ärztliche Untersuchungen zur Bestimmung des Alters dem Grunde nach zulässig sind. Es fällt allerdings auch auf, dass es sich bei Art. 25 Abs.5 der Richtlinie um eine kann -Bestimmung handelt. 5

Daneben unterliegt Art. 25 Abs.5 S.1 auch gewissen Einschränkungen. Art. 25 Abs.5 S.2 der Richtlinie besagt, dass die Mitgliedstaaten bei fortbestehenden Zweifeln davon ausgehen, dass der Antragsteller minderjährig ist. Im Zweifel muss also immer von der Minderjährigkeit des Antragstellers ausgegangen werden. Außerdem soll die ärztliche Untersuchung unter uneingeschränkter Achtung der Würde der Person und mit den schonendsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften durchgeführt werden. Schließlich ist nach Art. 25 Abs.6 bei Umsetzung der Richtlinie das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen. Nach der Systematik von Art. 25 der Richtlinie widersprechen ärztliche Untersuchungen zur Altersdiagnostik unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge nicht per se der Menschenwürde und auch nicht per se dem Kindeswohl. Hier muss wohl die jeweilige Art der Untersuchung betrachtet werden. Aus Sicht der DGKJP sind jedoch jedenfalls dann Kindeswohl und Menschenwürde tangiert, wenn die oben genannten Methoden durchgeführt werden. Aus diesen Gründen fordert die DGKJP, die oben genannten Untersuchungsformen als obsolet zu erklären. Generell wäre es unter Berücksichtigung der oben genannten rechtlichen Vorgaben sinnvoll, bundeseinheitliche Standards und Verfahren, u.a. zu den Voraussetzungen der fiktiven Altersfestsetzung, festzulegen. Dies würde den Akteuren das Vorgehen ggf. erleichtern. 5. Vereinbarkeit mit Art. 1 GG Art. 1 GG bestimmt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Dies betrifft auch die Würde des Kindes oder Jugendlichen. Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187-227 f.), schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen (vgl. BVerfGE 27, 1 <6> ); 45, 187 <228>; 96, 375 <399> ). Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grund- 6

sätzlich in Frage stellt (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 87, 209 <228>; 96, 375 <399> ), indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 109, 279 <312 f.>). Auch die Menschenwürde kann bei den unter II. genannten Verfahren tangiert sein, weswegen die DGKJP fordert, körperliche Untersuchungen zur Altersdiagnostik per se nur im Falle einer medizinisch oder in der besonderen Lage des Einzelfalls begründbaren Unumgänglichkeit im Konsens mit Betroffenen und Vormund einzusetzen, und zweitens nur ein Vorgehen zu wählen, das weder das Kindeswohl noch die Würde des Kindes beeinträchtigt. IV. Geplante gesetzliche Regelung Im SGB VIII Gesetz soll ein neuer 42 a SGB VIII eingefügt werden. Dort wird es künftig in 42a Abs.2 SGB VIII heißen: Das Jugendamt hat während der vorläufigen Inobhutnahme zusammen mit dem Kind oder Jugendlichen einzuschätzen, 1. ob das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen durch das Verteilungsverfahren gefährdet würde 2. ob sich eine mit dem Kind oder Jugendlichen verwandte Person im Inland oder im Ausland aufhält 3. ob das Wohl des Kindes oder Jugendlichen eine gemeinsame Inobhutnahme mit Geschwistern oder anderen unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen erfordert 4. ob der Gesundheitszustand des Kindes oder Jugendlichen die Durchführung des Verteilungsverfahren innerhalb von 14 Werktagen nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme ausschließt; hierzu soll eine ärztliche Stellungnahme eingeholt werden 5. ob es sich um einen Minderjährigen handelt. Falls das Alter nicht feststellbar ist, ist eine qualifizierte Inaugenscheinnahme ein geeignetes Mittel. Auf der Grundlage des Ergebnisses nach S.1 entscheidet das Jugendamt über die Anmeldung des Kindes oder Jugendlichen zur Verteilung oder den Ausschluss der Verteilung. 7

V. Einschätzung der geplanten gesetzlichen Regelung im SGB VIII Die DGKJP ist der Auffassung, dass die im neuen 42a Abs.2 Nr. 5 SGB VIII vorgesehene Regelung zur Altersfeststellung so nicht ausreicht. Der Begriff qualifizierte Inaugenscheinnahme lässt viele Fragen offen. Zunächst haben wir Probleme mit dem Wortlaut der Norm ein geeignetes Mittel. Gibt es daneben andere, wenn es nur ein geeignetes Mittel ist? Oder können wir aufgrund der Tatsache, dass es nicht heißt, ist insbesondere eine qualifizierte Inaugenscheinnahme ein geeignetes Mittel schließen, dass die qualifizierte Inaugenscheinnahme alleiniges Mittel zur Altersfeststellung bleibt. Der Begriff der qualifizierten Inaugenscheinnahme ist unklar. Zwar ergibt sich aus der Gesetzesbegründung, dass der Betroffene sich nicht entkleiden muss, was sehr befürwortet wird. Darüber hinaus bleibt aber Unklarheit. Bedeutet dies, dass beispielsweise radiologische Verfahren (vgl. unten) weiterhin zulässig bleiben, so lange der Betroffene sich nicht entkleiden muss. Unsere Auslegung der Gesetzesbegründung geht dahin, dass eine qualifizierte Inaugenscheinnahme nunmehr ohne weitere Begutachtung dadurch stattfindet, dass der zuständige Bearbeiter/ die zuständige Bearbeiterin sich den Betroffenen genau anschaut, und dann zu einem Ergebnis kommt. VI. Fazit Die DGKJP lehnt eine Altersdiagnostik bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen mittels radiologischer Verfahren und Genitaluntersuchung ab. Neben den ethischen Bedenken fehlt es auch an wissenschaftlicher Evidenz, dass diese Untersuchungen ausreichend valide sind. Dies entspricht im Übrigen einem Beschluss des 117. Ärztetages der Bundesärztekammer (http://www.bundesaerztekammer.de/arzt2014/media/applications/evii45.pdf). Hierbei wird nicht verkannt, dass Art. 25 Abs. 5 S.1 der EU-Richtlinie 2013/32/EU die körperliche Untersuchung von UMF zur Altersdiagnostik dem Grunde nach für zulässig erachtet. Es ist für uns nicht erkennbar, warum es zweierlei Verfahrensstandards bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen geben sollte. Im Asylverfahren durch das BAMF sind solche medizinischen Untersuchungen oder Gutachten zu Recht nicht vorgesehen. Auch aus diesem Grund sollte diese Art der medizinischen Begutachtung unterlassen werden. 8

Die Neuregelung in 42a Abs.2 SGB VIII halten wir für nicht ganz gelungen, da sie nicht ausreichend klar formuliert ist. Wir hoffen jedoch, dass durch bestimmte Maßnahmen, wie z.b. die Entwicklung möglichst bundesweit geltender Standards, dazu beigetragen wird, dass diese Unklarheiten durch die Anwendung der Norm in der Praxis ausgeräumt werden können. Berlin, 02.11.2015 Für die DGKJP: Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert Präsident DGKJP Für den BKJPP: Dr. med. Gundolf Berg Vorsitzender BKJPP Für die BAG KJPP: Dr. med. Martin Jung Vorsitzender BAG KJPP 9