Viktor Mayer-Schönberger Kenneth Cukier. Lernen mit Big Data. Übersetzung aus dem Englischen von Andrea Kamphuis



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Transkript:

Viktor Mayer-Schönberger Kenneth Cukier Lernen mit Big Data Die Zukunft der Bildung Übersetzung aus dem Englischen von Andrea Kamphuis

1. Kapitel Dämmerung Dawa konzentriert sich. Er bringt etwas Farbpigment auf die Spitze seines Pinsels auf. Dann zieht er mit einer bedächtigen Bewegung eine dünne schwarze Linie. Er wiederholt den Ablauf. Und noch einmal. Ganz langsam, über Stunden hinweg, nimmt das Thangka Gestalt an: eine Darstellung des Buddha auf einer Seidenrolle, voller bezaubernder geometrischer Details. Draußen glitzern die schneebedeckten Himalaja-Gipfel rings um Thimphu, die Hauptstadt des Königreichs Bhutan, im Licht der späten Nachmittagssonne. Aber drinnen haben Dawa und seine Mitschüler, alle Anfang 20, alle in den gleichen blauen Roben, unter den wachsamen Blicken ihres mittelalten Ausbilders nur Augen für ihre Arbeit. 1 Die Ausbildung zum Thangka-Künstler folgt alter Tradition. Dawa und seine Mitschüler sind nicht hier, um durch Bildung ihren Horizont zu erweitern, sondern um durch ihre Lehre Diziplin zu erfahren. Lernen heißt hier nicht hinterfragen, sondern nachahmen. Zahllose Regeln, die vor Jahrhunderten festgehalten wurden, legen exakt fest, was wo und wie gemalt zu werden hat. Dawas Lehrer 7

Big Data sorgt dafür, dass die angehenden Künstler seinen Anweisungen genau Folge leisten und wiederholen, was Generationen von Thangka-Malern vor ihnen getan haben. Jede Abweichung, jeder Verstoß gegen die Regeln ist nicht nur verpönt, sondern verboten. Der beste Künstler ist der, der seinen Meister vollkommen kopiert. Der Lehrer weist ständig auf Unvollkommenheiten hin. Doch trotz dieses unmittelbaren Feedbacks ist es eine Form von Lernen nahezu ohne Daten. Und es unterscheidet sich fundamental davon, wie der Informatiker Andrew Ng von der Stanford University seine Studenten über das Internet zum Thema»maschinelles Lernen«(ein Teilgebiet der Informatik) unterrichtet. Professor Ng (ausgesprochen ungefähr wie»nnn«) hat Coursera mitgegründet, ein Start-up, das Online-Kurse anbietet. Sein Ansatz lässt erahnen, wie Big Data das Lernen revolutionieren wird. Professor Ng sammelt Informationen über alles, was seine Studenten tun. So lernt er, was am besten funktioniert, und kann damit Systeme entwickeln, die das automatisch in seinen Kurs zurückspiegeln, um seinen Unterricht zu verbessern, die Stoffbeherrschung und die Leistungsfähigkeit seiner Studenten zu steigern und auf individuelle Bedürfnisse jedes Einzelnen einzugehen. 2 Er verfolgt zum Beispiel, wie die Studenten mit seinen Videolektionen umgehen: wann sie diese ansehen, ob sie Pausen machen oder»vorspulen«oder das Video vorzeitig abbrechen so, wie man sich im analogen Leben noch während einer Vorlesung aus dem Hörsaal schleicht. Professor Ng bekommt mit, ob sie dieselbe Lektion mehrmals anschauen oder zum Auffrischen auf eine frühere Folge zurückgreifen. Zwischen die Lektionen flicht er Abfragen ein. Da- 8

Dämmerung mit will er nicht herausfinden, wer bei der Sache war; solche altertümlichen Übungen schulischer Disziplinierung interessieren ihn nicht. Vielmehr möchte er erfahren, ob seine Studenten das Gelernte wirklich verstehen und wenn nicht, wo genau jede und jeder Einzelne hängen bleibt. Indem er Hausaufgaben und Tests aufzeichnet, die an Computern oder Tablets durchgeführt werden, kann er genau feststellen, bei welchem Thema ein Student Unterstützung braucht. Er kann die Daten aller Teilnehmer zusammen auswerten, um zu ermitteln, wie der Kurs als Ganzes vorankommt, und seine Lektionen daran anpassen. Er kann diese Informationen sogar mit den Daten der Kurse aus den Vorjahren vergleichen, um zu ermitteln, was am besten funktioniert. Dabei profitiert Professor Ng von dem Umstand, dass sich in seinen Kursen Zehntausende von Studenten tummeln so viele, dass die Ergebnisse seiner Auswertungen statistisch signifikant sind, anders als in den meisten erziehungswissenschaftlichen Studien, die auf relativ wenigen Beobachtungen beruhen. Aber die Kursgröße selbst ist nicht entscheidend: Auf die Daten kommt es an. Er hat diesen Daten schon jetzt außergewöhnliche Erkenntnisse abgewonnen. Zum Beispiel trat beim Tracking einer Reihe von Videolektionen eine zunächst verwirrende Anomalie zutage: Viele Studentinnen und Studenten sahen sich die Videos in der üblichen Reihenfolge an, aber nach einigen Kurswochen, etwa bei Lektion 7, kehrten sie zu Lektion 3 zurück. Weshalb? Ng sah genauer hin und stellte fest, dass die Studenten in Lektion 7 aufgefordert wurden, eine Formel aus der linearen Algebra zu 9

Big Data verwenden. Lektion 3 war eine Mathematik-Auffrischung. Offenbar trauten sich etliche Studenten mathematisch nicht viel zu und gingen zurück zur Auffrischungslektion. Und so baute Professor Ng seinen Kurs um: Er wiederholte genau an den Stellen mathematisches Handwerkszeug, an denen seine Studenten dazu neigten, die Flinte ins Korn zu werden Stellen, die er mithilfe der Daten ermittelt hatte. Ein andermal»sah«er, dass viele Studenten Lektionen zu einem bestimmten Thema wiederholten. Er sah es geradezu wörtlich vor sich, denn in seiner Datenvisualisierung wechselte der Farbton von Dunkelblau zu Rot, wenn die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein Nutzer in der normalen Kursabfolge weitermachen würde, unter einen bestimmten Schwellenwert sank. Rund um die Lektionen 75 und 80 war der normale Verlauf gestört: Die Teilnehmer sahen sich verschiedene Videos in allen möglichen Reihenfolgen noch einmal an. Dem entnahm er, dass sie Mühe hatten, dem dort vorgestellten Gedankengang zu folgen. Er erkannte, dass Vortragende mit diesem Wissen im Hinterkopf solche Lektionen noch einmal neu (und anders) aufnehmen und dann anhand neuer Daten überprüfen konnten, ob sie damit die augenscheinliche Lernkrise entschärft hatten. In die Auswertungen fließt aber noch eine Fülle weiterer Daten ein. In Onlineforen wird gewöhnlich bloß mitgezählt, wie oft Beiträge gelesen werden, und die Teilnehmer werden gebeten, ihre Nützlichkeit zu bewerten. Professor Ng hat die Beiträge im Forum zu seinem Kurs dagegen einer komplexen statistischen Analyse unterzogen, um herauszufinden, wie hilfreich sie wirklich sind. Er ermittelte, wie viele seiner Studenten, die eine bestimmte Aufgabe in einer Hausaufgabe oder einem Test zu- 10

Dämmerung nächst falsch gelöst hatten, dieselbe Frage später richtig beantworteten, wenn sie einen bestimmten Forenbeitrag gelesen hatten. Zum Beispiel hatten im 2011er-Kurs über maschinelles Lernen Tausende von Teilnehmern eine Aufgabe nicht korrekt gelöst, die eine Kostenfunktion bei einer linearen Regression vorsah. Aber diejenigen, die danach Forenbeitrag Nr. 830 lasen, konnten die Frage beim nächsten Mal mit einer Wahrscheinlichkeit von 64 Prozent richtig beantworten. Von nun an kann das System jenen Studenten, die diese Aufgabe nicht richtig lösen, genau diesen Forenbeitrag anzeigen. Anstatt nur danach zu gehen, welche Beiträge die Teilnehmer am besten bewerten, werden diejenigen Beiträge datengesteuert herausgesucht, die das Lernen am besten unterstützen. Dieser Big-Data-Ansatz wird nicht auf Professor Ngs Kurs in Stanford beschränkt bleiben: Der Kurs gibt uns einen Vorgeschmack auf das, was kommt. Big Data dringt in das gesamte Bildungswesen ein mit weitreichenden Folgen dafür, wie wir lernen. Dieses Buch handelt davon, wie Big Data Bildung und Lernen verändert. Durch Big Data erkennen wir so klar wie nie zuvor, was funktioniert und was nicht. Wir können die Leistungen von Schülern und Studenten verbessern, da nun Aspekte des Lernens sichtbar werden, die zuvor einfach nicht beobachtet werden konnten. Lektionen können auf die Bedürfnisse der einzelnen Lernenden zugeschnitten werden, sodass sie mehr verstehen und bessere Noten bekommen. 11

Big Data Big Data hilft Lehrern zu ermitteln, was am effektivsten ist. Ihre Tätigkeit wird dadurch nicht überflüssig, sondern produktiver und vermutlich auch befriedigender. Schulverwaltungen und Bildungspolitiker können zu geringeren Kosten den Menschen höhere Bildungschancen bieten wichtige Faktoren, um die Einkommensunterschiede und das soziale Gefälle in der Gesellschaft zu verringern. Zum ersten Mal in der Geschichte verfügen wir über ein starkes empirisches Werkzeug, mit dem wir verstehen können, wie man lehrt und wie man lernt. Dieser kurze Band dreht sich nicht um MOOCs, also»massive open online courses«wie jenen von Professor Ng in Stanford, die in den letzten Jahren Furore gemacht haben. Alle Welt war fasziniert von den Möglichkeiten, die diese Kurse bieten, und sprach von der Demokratisierung des Bildungszugangs. Das ist fraglos eine großartige Entwicklung. Aber in mancher Hinsicht sind diese Kurse ganz traditioneller Frontalunterricht nur dass man leichter in diesen digitalen»hörsaal«hineinkommt. Eines ist freilich neu und aufregend an den MOOCs: die Daten, die sie erzeugen. Diese Daten können uns lehren, was am effektivsten ist; sie offenbaren uns Dinge, die wir bisher nicht wissen konnten, da uns das richtige Werkzeug dazu fehlte. Mit Big Data können wir diese Geheimnisse lüften. Dass die Verbindung von Bildung und Technologie die Fantasie von Unternehmensgründern beflügelt und die Geldbörsen von Investoren öffnet, ist dabei von Nutzen. Allein 2012 ergoss sich über eine Milliarde US-Dollar Risikokapital in den Bildungssektor, doppelt so viel wie fünf Jahre zuvor. 3 Wie weit die Bildungstechnologie bereits herangereift ist, zeigt auch die Fülle an neuen, geheimnis- 12

Dämmerung voll klingenden branchenspezifischen Abkürzungen, zum Beispiel LMS (Lernmanagementsysteme) oder ITS (intelligente Tutorensysteme). Überall sind Unternehmen mit witzigen Namen wie Noodle, Knewton und Knowillage Systems entstanden. Auch Traditionsunternehmen wie McGrawHill, News Corp., Pearson und Kaplan haben auf diesem neuen Gebiet Außenposten errichtet und Milliarden in Forschung und Entwicklung sowie Zukäufe gesteckt. Der E-Learning-Markt wird auf über 100 Milliarden US-Dollar geschätzt und wächst jährlich um etwa 25 Prozent so GSV Advisors, eine angesehene Marktforschungsgruppe, die sich auf Bildungstechnologie spezialisiert hat. 4 In den Vereinigten Staaten betragen die Gesamtausgaben für Bildung happige 1,3 Billionen Dollar im Jahr: mit neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts die zweitgrößten Ausgaben nach dem Gesundheitswesen. 5 Am Ende geht es in diesem Buch aber um mehr als Bildung. Die Frage, wie sich ein wichtiger Gesellschafts- und Wirtschaftssektor Big Data zu eigen macht, dient uns als Fallstudie für die Veränderungen, die Big Data in allen Facetten des Lebens und der Wirtschaft mit sich bringen wird. Zwar konzentrieren wir uns hier auf die Entwicklungen im Bildungswesen, aber was wir dabei lernen, ist für alle Industrie- und Wirtschaftszweige und Organisationen relevant seien es Krankenhäuser, Ölkonzerne, Technologie-Start-ups, gemeinnützige Einrichtungen oder das Militär. Wir nehmen auch die weiter reichenden Auswirkungen auf das menschliche Wissen in den Blick nicht nur»wie lernen?«, sondern auch»was lernen?«. Unsere Gesellschaft muss ein profundes Verständnis für das probabilistische Wesen der Welt ent- 13

Big Data wickeln, sie darf sich nicht auf das Ursache-Wirkungs-Denken beschränken, das das menschliche Erkenntnisstreben seit jeher dominiert. Dieses Buch ist also als Orientierungshilfe für Fachleute aller Professionen gedacht, die sich für den bevorstehenden Epochenwandel zu Big Data wappnen wollen. Und es ist für jeden da, der verstehen will, wie Menschen im Big-Data-Zeitalter Wissen erwerben. Im nächsten Kapitel werden wir drei grundlegende Eigenschaften der Umgestaltung des Lernens durch Big Data behandeln: Feedback, Individualisierung und auf Wahrscheinlichkeiten basierende Vorhersagen. Wir werden uns Konzepte wie das»umgekehrte Klassenzimmer«ansehen, das durch die Khan Academy bekannt wurde: Die Teilnehmer sehen sich die Lektionen zu Hause an und lösen ihre Hausaufgaben in Gruppen, genau andersherum als in herkömmlichen Schulklassen. Kapitel 3 ist den unterschiedlichen Plattformen gewidmet, über die sich der Wandel des Lehrens und Lernens vollzieht von Onlinekursen bis zu E-Lehrbüchern. Wir vertiefen uns in das Konzept des angepassten Lernens, also den Zuschnitt von Lerntempo und -inhalt auf die individuellen Bedürfnisse, und in die Lernanalytik, mit der man die beim jeweiligen Schüler effektivste Lehrweise ermitteln kann. In Kapitel 4 untersuchen wir die potenziellen Gefahren von Big Data im Bildungswesen, von der besorgniserregenden Beständigkeit der Daten bis zu neuen Formen der Einstufung, bei denen Schüler und Studenten zu Opfern der Quantifizierung werden können: Ihr weiterer Weg wird nicht nur anhand ihrer tatsächlichen Leistung, sondern ebenso anhand von datenbasierten Vorhersagen festgelegt. 14

Dämmerung Das Buch endet mit Überlegungen zum Wandel auch der Lerninhalte durch den Einzug von Big Data in die Bildung: weg von Gewissheiten, hin zu Wahrscheinlichkeiten. Die Einführung von Big Data in das Lernen und Lehren zwingt uns, eine ganze Reihe pädagogischer Annahmen infrage zu stellen. Der Stundenplan und das Schuljahr wurden eingeführt, als die meisten Menschen noch auf Bauernhöfen arbeiteten. Neue Daten könnten belegen, dass diese Strukturierung nicht mehr zeitgemäß ist. Bisher werden Schüler nach Jahrgängen in Klassen zusammengefasst und rücken stufenweise vor. Aber in einem System, in dem sie ihr Lerntempo selbst bestimmen, mögen Klassenverbände sich als weniger notwendig erweisen und die Daten könnten zeigen, dass andere Ansätze effektiver sind. Wenn wir die Big-Data-Welt betreten, müssen wir uns fragen, ob wir bereit sind zu akzeptieren, was wir entdecken und auch danach zu handeln. Dawa betrachtet die schwarzen Linien, mit denen er sein Thangka skizziert hat, und hört sich die Rüge seines Meisters an. Dann versucht er noch einmal, die Vorlage, an der er ausgebildet wird, so exakt wie möglich zu kopieren. Der Ablauf erscheint zu mechanisch, um ihn als Bildung zu bezeichnen. Doch früher wurde in der westlichen Welt ganz ähnlich gelehrt, wie heute in Bhutan Thangka-Maler ausgebildet werden. Der Legende nach wussten französische Bildungsminister einst beim Blick auf ihre Taschenuhr genau, was jedes einzelne Kind im ganzen Land in dieser Minute lernte. In den USA tönte der nationale Erziehungskommissar William Harris 1899, die Schulen hätten die»anmutung von Maschinen«, und in ihnen würde ein jun- 15

Big Data ger Bursche lernen,»sich ordentlich zu betragen«und»an dem ihm zugedachten Platz zu bleiben«alles passive Eigenschaften. 6 Tatsächlich käme einer Person, die vor zwei oder drei Jahrhunderten gelebt hat, etwa Florence Nightingale in Großbritannien, Talleyrand in Frankreich oder Benjamin Franklin in Amerika, ein heutiges Klassenzimmer durchaus vertraut vor. 7 Sie würde vermutlich anmerken, dass sich hier nicht viel geändert habe anders als in der Welt außerhalb des Schulgeländes, die sie kaum wiedererkennen würde. Andererseits haben die Menschen neue Techniken schon immer als Chance zur Reform des Bildungswesens begriffen, ob nun CDs, Fernsehen, Radio, Telefon oder Computer.»Bücher werden in den Schulen bald überflüssig sein«da war sich Thomas Edison 1913 sicher. 8»Man kann jedes Gebiet menschlichen Wissens mittels bewegter Bilder lehren. Unser Schulsystem wird sich binnen eines Jahrzehnts vollständig verwandeln.«wird Big Data wirklich durchschlagen, wo andere Neuerungen kaum Kerben hinterlassen haben? Für Professor Ng vollzieht sich der Wandel schneller, als er es sich vorstellen konnte. Auf dem Campus zieht sein Kurs zum»maschinellen Lernen«pro Semester einige Hundert Studentinnen und Studenten an. Als er ihn 2011 erstmals online anbot, meldeten sich über 100.000 an. Etwa 46.000 fingen wirklich an und reichten die ersten Hausaufgaben ein. Am Ende des viermonatigen Kurses, der 113 Zehn-Minuten-Videos umfasste, hatten 23.000 den größten Teil der Aufgaben erledigt, und 13.000 Studenten schnitten gut genug ab, um eine entsprechende Bestätigung ihrer Leistung zu erhalten. 16

Dämmerung Eine Erfolgsquote von etwa zehn Prozent mag niedrig erscheinen. Aber bei anderen Onlinekursen liegt sie eher bei fünf Prozent. Tatsächlich hat Sebastian Thrun, einer von Professor Ngs Kollegen in Stanford und Mitgründer eines Coursera-Konkurrenten namens Udacity, MOOCs im Herbst 2013 für gescheitert erklärt, weil gerade diejenigen, die erschwingliche Bildung am nötigsten haben, in ihnen besonders schlecht abschneiden. Doch über solchen Bedenken darf man eines nicht verkennen: Trotz der bescheidenen Erfolgsquote gelangen in einem einzigen von Professor Ngs Online-Kursen so viele Studenten ans Ziel, wie er auf herkömmlichem Wege in seiner gesamten Laufbahn erreichen würde. 9 Big Data ist imstande, unser Bildungssystem so zu erschüttern, dass es sich transformieren kann. Und genau das wird passieren. 17

2. Kapitel Wandel Luis von Ahn sieht aus wie ein typischer amerikanischer Collegestudent, und er verhält sich auch so. Er spielt gerne Videospiele. Er fährt einen blauen Sportwagen. Und wie ein moderner Tom Sawyer lässt er gerne andere für sich arbeiten. Aber der Schein trügt. Tatsächlich ist von Ahn einer der angesehensten Informatikprofessoren der Welt. Und er hat etwa eine Milliarde Menschen arbeiten lassen. 10 Als 22-jähriger Student hat von Ahn vor einem Jahrzehnt etwas mitentwickelt, das CAPTCHA genannt wird: verzerrter Text auf einer Website, den man abtippen muss, um zum Beispiel eine kostenlose E-Mail-Adresse zu erhalten. So beweist man, dass man ein Mensch ist und kein Spambot. Bei der verbesserten Version namens recaptcha, die von Ahn an Google verkauft hat, wurde das abzutippende Textfragment nicht eigens für diesen Zweck generiert, sondern aus Googles Buchdigitalisierungsprojekt extrahiert: ein Wort, das Googles OCR-Programm nicht lesen konnte. Das war eine schöne Methode, zwei Fliegen mit einer Klappe zu erschlagen: sich online für etwas zu registrieren und zugleich ein Wort zu entziffern. 19

Big Data Seither sucht von Ahn, inzwischen Professor an der Carnegie Mellon University, nach weiteren derartigen Anwendungen, bei denen zahlreiche Personen kleine Datenmengen beisteuern, die mehreren Zwecken dienen. Daraus hat er ein Start-up entwickelt, das 2012 gegründet wurde: Duolingo. Eine Website und eine Smartphone- App helfen beim Erlernen einer Fremdsprache eine naheliegende Idee, zumal er selbst als kleiner Junge in Guatemala Englisch gelernt hatte. Aber der Unterricht erfolgt auf besonders clevere Weise. Das Unternehmen lässt die Leute kurze Textabschnitte übersetzen oder aber die Übersetzungen anderer Personen überprüfen und korrigieren. Statt erfundene Sätze zu präsentieren, wie es für Sprachlernsoftware typisch ist, verwendet Duolingo echte Sätze aus Dokumenten, für deren Übersetzung das Unternehmen von seinen Kunden bezahlt wird. Sobald hinreichend viele Sprachschüler einen bestimmten Satz unabhängig voneinander gleich übersetzt oder verifiziert haben, akzeptiert das System ihn, und dann fügt es all die Einzelsätze zum fertigen Dokument zusammen. Zu den Kunden zählen Medienunternehmen wie CNN und Buzz- Feed, die ihre Texte so für den Einsatz in fremdsprachigen Märkten aufbereiten. Wie recaptcha lebt Duolingo von einer reizvollen Win-win-Situation: Die Schüler erhalten kostenlosen Fremdsprachenunterricht und erzeugen im Gegenzug etwas, das einen Marktwert hat. Aber es gibt noch einen dritten Nutzen. Duolingo sammelt alle Daten der Besucher der Website: Informationen darüber, wie lange jemand braucht, um einen bestimmten Aspekt einer Sprache zu beherrschen, wie viel man idealerweise übt, welche Folgen ein paar Tage Auszeit haben und so weiter. Von Ahn hat erkannt, dass diese 20

Wandel Daten richtig aufbereitet zeigen können, wie Menschen am besten lernen. In einem nicht digitalen Umfeld wäre das schwer zu bewerkstelligen. Aber da Duolingo 2013 etwa eine Million Besucher pro Tag hatte, die jeweils über eine halbe Stunde auf der Website verweilten, konnte von Ahn eine riesige Population untersuchen. Die wichtigste Erkenntnis, die er dabei gewonnen hat: Schon die Frage»Wie lernen Menschen am besten?«ist falsch gestellt. Es geht nicht darum, wie»menschen«am besten lernen, sondern darum, wie welcher Mensch am besten lernt. Ihm zufolge wurde nur in wenigen Studien empirisch erforscht, wie man eine Fremdsprache am besten lehrt. Stattdessen gibt es eine Fülle von Theorien, denen zufolge beispielsweise die Adjektive vor den Adverbien behandelt werden sollten. Aber es mangelt an harten Fakten, sagt von Ahn. Und da, wo es doch Daten gibt, stammen sie für gewöhnlich aus so kleinen Studienpopulationen etwa von wenigen Hundert Studenten, dass sich daraus kaum belastbare Aussagen ableiten lassen. Warum also nicht die Daten von einigen Dutzend Millionen Sprachschülern über einige Jahre hinweg sammeln, um zu verlässlicheren Schlussfolgerungen zu gelangen? Duolingo macht das jetzt möglich. Bei der Verarbeitung von Duolingos Daten entdeckte von Ahn etwas Bedeutendes: Die beste Methode, eine Sprache zu lehren, hängt sowohl von der Muttersprache der Schüler als auch von der Fremdsprache ab. Wer etwa einem spanischen Muttersprachler Englisch oder Deutsch beibringen will, nimmt die Personalpronomina Wörter wie»er«,»sie«und»es«für gewöhnlich früh dran. Das Wort»es«aber verwirrt und verunsichert viele Menschen, die mit Spanisch aufgewachsen sind, da es in ihrer Muttersprache so nicht vorkommt. Daher hat von Ahn ein paar Tests durchgeführt 21

Big Data und dabei festgestellt: Zunächst nur»er«und»sie«zu lehren und die Einführung des»es«um ein paar Wochen zu verschieben, verringert die Abbrecherquote von Sprachschülern mit Spanisch als Muttersprache ganz erheblich. Einige Ergebnisse sind das genaue Gegenteil dessen, was man erwartet: Frauen sind bei Sportvokabeln besser, Männer führen bei den Wörtern, die sich aufs Kochen und Essen beziehen. In Italien lernen Frauen leichter Englisch als Männer. Und es tauchen ständig neue Einsichten dieser Art auf. Die Geschichte von Duolingo illustriert einen der vielversprechendsten Wege, auf denen Big Data die Bildung umgestaltet, und zeigt die drei wesentliche Eigenschaften von Big Data auf, die das Lernen verbessern werden: Feedback, Individualisierung und auf Wahrscheinlichkeiten basierende Vorhersagen. Feedback Unser Bildungsweg ist vom Kindergarten bis zum Universitätsabschluss mit Feedback durchtränkt. Wir bekommen Noten für unsere Hausaufgaben, für unsere Mitarbeit im Unterricht, für Aufsätze und Prüfungen. Manchmal erhalten wir sogar für bloße Anwesenheit eine Note. Während unserer Schul- und Hochschullaufbahn sammeln wir Hunderte solcher Datenpunkte an»small Data«-Signale, die anzeigen, wie gut unsere Leistung in den Augen unserer Lehrer war. Wir haben uns daran gewöhnt, auf dieses Feedback zu vertrauen, um unsere schulische Leistung zu beurteilen. Dabei ist dieses Feedbacksystem in so ziemlich jeder Hinsicht unzureichend. 22