DIE FAHRT INS BLAUE. Literatur - Erinnern - Unterricht. Abschlussarbeit für den Lehrgang Pädagogik an Gedächtnisorten 2016/17.

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1 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) DIE FAHRT INS BLAUE Literatur - Erinnern - Unterricht Abschlussarbeit für den Lehrgang Pädagogik an Gedächtnisorten 2016/17 martina.pieber@schule.at

2 Inhaltsverzeichnis Vorwort 4 1 Einleitung 5 2 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur Erinnerungsorte und das Konzept des kollektiven Gedächtnisses Pierre Nora und die lieux de mémoire Maurice Halbwachs und das kollektive Gedächtnis Jan und Aleida Assmann und das kulturelle Gedächtnis Gedächtniskonzepte in der Literaturwissenschaft Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses 17 3 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Alfred Döblin - Biografischer Überblick Die Fahrt ins Blaue Textanalyse Interpretation Alfred Döblins Fahrt ins Blaue (k)ein kollektiver Text? Der Kontext der Erzählung Thematisierung der NS-Euthanasie in der Nachkriegszeit (K)ein kollektiver Text? 44 4 Entwurf eines Unterrichtsmodells Theologische, ethische und didaktische Vorüberlegungen Verortung des Themas im Lehrplan Katholische Religion BHS Warum erinnern? Ziele, Kompetenzen und didaktische Überlegungen Aufbau der Unterrichtseinheiten Überblick über den Block Sterbehilfe, Hospizbewegung und Palliativmedizin Ausarbeitung des historischen Teils zur NS-Euthanasie Praktische Durchführung in zwei 3. Jahrgängen HLW Voraussetzungen und Durchführung Rückmeldungen der Schüler/innen 67 2

3 4.3.3 Persönliche Reflexion des Unterrichtsblocks 68 5 Zusammenfassung 70 6 Anhang Die Fahrt ins Blaue Text Verwendetes Unterrichtematerial Gruppenarbeit Arbeitsaufträge Gruppenarbeit Materialien Arbeitsblatt Expertenrunde Powerpoint Aufarbeitung und Gedenken Arbeitsblatt Warum erinnern? Verwendete Literatur Primärliteratur Sekundärliteratur Internetquellen 107 3

4 Vorwort Vorwort Bei der Lektüre von Götz Alys Buch Die Belasteten über die Euthanasie im Dritten Reich bin ich auf einen Hinweis auf den Text Die Fahrt ins Blaue von Alfred Döblin gestoßen. Dieser wird vom Autor folgendermaßen eingeführt: Nur einmal zwischen 1945 und 1988 war die Ermordung vieler Tausender Berliner Geisteskranker ein öffentliches Thema: Gleich nach dem Krieg erschien 1946 nicht in Berlin, sondern 800 Kilometer entfernt ein unscheinbarer Artikel in der Badischen Zeitung. 1 Da ich meiner Erstausbildung nach Literaturwissenschaftlerin bin, hat mich der Umstand interessiert, dass dieser literarische Zugang zeitlich scheinbar vor jeder anderen Thematisierung der NS-Euthanasie lag. Also habe ich mir den Text besorgt, was bereits kein ganz einfaches Unterfangen war. Denn als einer der kleinen Prosa- bzw. publizistischen Texte Alfred Döblins ist er in kaum einem Sammelband enthalten. In dem von Christina Althen herausgegebenen Band Alfred Döblin: Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen 2 wurde ich schließlich fündig. Der Text selbst hat mich sofort fasziniert und mir war klar, dass ich mich intensiver mit ihm beschäftigen wollte. Schnell kam mir der Gedanke, ihn auch im Unterricht zu verwenden. Denn Umfang und Sprachstil schienen mir durchaus für Jugendliche geeignet. So war die Idee geboren, einen Unterrichtsentwurf zu gestalten und diesen in den dritten Jahrgängen zu erproben. Mein besonderer Dank gilt den Schüler/innen meiner beiden dritten Jahrgänge des Schuljahres 2016/17 an der HLTW13 Bergheidengasse, die sich zunächst so bereitwillig auf das Thema NS-Euthanasie eingelassen haben und nach Abschluss der Unterrichtseinheiten auch bereit waren, ihre Gedanken zu diesem Thema und der Art der Aufbereitung mit mir zu teilen. 1 Vgl. Götz Aly: Die Belasteten. Euthanasie Eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt/Main: 2014, S.64 [In Folge zitiert als Aly, Belasteten]. 2 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946). In: Alfred Döblin: Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen. Mit einem Essay von Günter Grass. Hrsg. von Christina Althen. Düsseldorf: 2006, S Stellen aus diesem Text werden in der Folge mit in Klammern gesetzten Seitenzahlen zitiert. 4

5 Einleitung 1 Einleitung Innerhalb des literarischen Feldes bestand immer schon eine enge Beziehung zwischen Fiktion und Geschichte. Die Darstellung geschichtlicher Ereignisse bot die Möglichkeit, den Leser/innen exotisch anmutende Epochen der Vergangenheit zugänglich zu machen, die historischen Wurzeln zeitgenössischer Phänomene zu erklären oder unter historischem Deckmantel Kritik an den politischen Zuständen zu üben. Gleichzeitig wirkt fiktionale Literatur aber auch auf die Wahrnehmung historischer Themen durch die Leser/innen zurück. So schätzt Wolfgang Hardtwig die Bedeutung literarischer Texte gerade für die Rezeption der jüngeren Zeitgeschichte folgendermaßen ein: Das Bild, das sich der an Geschichte überhaupt interessierte Teil der deutschen Öffentlichkeit von der jüngeren und jüngsten Vergangenheit macht, basiert gewiß zu einem Gutteil auf der Wissensvermittlung durch die Schule, durch Informationen aus Fernsehsendungen und Presse, und insofern wenn auch mitunter in einem sehr verdünnten und verformten Zustand auf den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft. Was aber den Buchmarkt angeht, übertrifft unzweifelhaft die Vermittlung historischer Erfahrung und Orientierung durch die fiktionale Literatur diejenige durch geschichtswissenschaftliche Darstellungen um ein Vielfaches. 1 Daher muss die Geschichtswissenschaft nach Wolfgang Hardtwig zur Kenntnis nehmen, dass literarische Darstellungen geschichtlicher Ereignisse offensichtlich ein Bedürfnis der Leser/innen abdecken, die sie selbst so nicht befriedigen kann. Gleichzeitig ist mit dem linguistic turn stärker ins Bewusstsein getreten, dass auch die Geschichtswissenschaft letztlich erzählt wenn auch auf anderer Wissensgrundlage und mit anderem Erkenntnisinteresse. Der grundlegende Unterschied zur Literatur besteht darin, dass es der Wissenschaft um die möglichst genaue Rekonstruktion tatsächlich geschehener Ereignisse kurzer oder langer Dauer geht. 2 In literarischen Werken finden sich hingegen modellhaft Situationen, Konflikte, Wertungen und Weltdeutungen, wie sie gewesen sein könnten, d.h. wie sie vorstellbar sind. Die Autor/innen haben hier mehr Freiheiten bei der Selektion, Betonung, Zuspitzung etc., die der Geschichtswissenschaft versagt bleiben. Schriftsteller/innen können sich auf das institutionell überlieferte Wissen stützen, sie müssen es im Gegensatz zu Historiker/innen aber nicht. Dadurch kann Literatur ein anderes Level an Komplexität erreichen: Schriftsteller erzählen Geschichten von einer Komplexität und inneren Spannung, die der Historiker mit seinen expliziten, analytischen und insofern immer höchst reduktionistischen Erklärungsansprüchen nicht erreichen kann. Sie beglaubigen vielfach explizit oder implizit ihre Geschichten mit dem Erfahrungsreichtum und der unmittelbaren Betroffenheit der Zeitzeugenschaft, die der professionelle Historiker als Gefährdung seiner Objektivität zumindest virtuell bewusst und ostentativ einklammert. 3 1 Wolfgang Hardtwig: Fiktive Zeitgeschichte? Literarische Erzählung, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur in Deutschland. In: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte in Konflikt. Frankfurt, New York: 2002, S , S.102, für das Folgende vgl. S.103 [In Folge zitiert als Hardtwig, Fiktive Zeitgeschichte]. 2 Hardtwig, Fiktive Zeitgeschichte, S Hardtwig, Fiktive Zeitgeschichte, S.121. Vgl. auch Wolfgang Hardtwig: Zeitgeschichte in der Literatur Eine Einleitung. In: Erhard Schütz / Wolfgang Hardtwig (Hg.): Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach Göttingen: 2008, S.7-25, S.22f. [In Folge zitiert als Hardtwig, Zeitgeschichte]. 5

6 Einleitung Gleichzeitig kann Literatur hier auch eine kritische Funktion übernehmen, indem sie das thematisiert, was gesellschaftlich, aber auch wissenschaftlich unbehandelt bleibt und beiseitegeschoben wird. Weitaus kritischer zur Leistungsfähigkeit literarischer Werke im Bezug zur Zeitgeschichte äußert sich Erhard Schütz. Diese Einschätzung begründet er interessanter Weise gerade durch die Berufung auf einen Aufsatz von Alfred Döblin mit dem Titel Der historische Roman und wir (1936). 4 Diesem entnimmt er den Titel seiner Einleitung: Jeder Roman ist ein historischer Roman. 5 Denn nach Alfred Döblin konstituiert sich jeder Roman in einem Wechselspiel von Faktualität und Fiktion. Auch historische Romane entwerfen eine erzählte Welt, in diesem fiktionalen Raum wird dann Geschichte konstruiert und vergegenwärtigt. Die Autor/innen verfahren eigenmächtig mit den historischen Stoffen und dem sprachlichen Material. Und so ist auch ein historischer Roman erstens ein Roman und zweitens keine Historie. 6 Allerdings spricht Alfred Döblin den Schriftsteller/innen zu, dass sie - im Gegensatz zum Anspruch der Historiker/innen wissen, dass die historische Wahrheit nicht darstellbar ist und dieses Wissen zum Fundament ihrer Gestaltung machen. 7 Auf die Frage danach, was Literatur mit Geschichte erreichen möchte, gibt es nach Meinung Erhard Schütz eine Vielzahl von Antworten. Diese reichen von Erinnern und Nichtvergessen über Vergegenwärtigung oder Gegenwartsbestimmung bis zum angestrebten Erfolg auf dem Buchmarkt, indem die historischen Interessen des potenziellen Lesepublikums bedient werden. 8 Auch hier führt er zur Begründung ein Zitat aus dem Aufsatz Alfred Döblins an: Mit Geschichte will man etwas. 9 Denn diese künstlerisch geschaffene Realität darf und soll parteiisch sein. Dennoch ist es unbestritten, dass literarische Darstellungen einen wesentlichen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten. Denn wie Erinnerung beruht auch Literatur auf der Verknüpfung von Ereignissen und deren Verortung in der Zeit. Ihr Potential zur Herstellung und Semantisierung von Zeitverhältnissen macht Literatur zu einem Medium der Erinnerung durch diese narrative Dimension von Erinnerungsprozessen wird Zeiterfahrung sinnhaft gestaltet Vgl. Erhard Schütz: Jeder gute Roman ist ein historischer Roman Aber nicht jeder zeitgeschichtliche Roman ist ein historischer Roman... Noch eine Einleitung. - In: Erhard Schütz / Wolfgang Hardtwig (Hg.): Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach Göttingen: 2008, S.26-34, S.30 [In Folge zitiert als Schütz, Roman]. 5 Alfred Döblin: Der historische Roman und wir (1936). In: Alfred Döblin: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur. Olten, Freiburg/Breisgau: 1989, S , S.303 (= Alfred Döblin: Ausgewählte Schriften in Einzelbänden. Hrsg. Anthony W. Riley; 29) [In der Folge zitiert als Döblin, Roman]. 6 Döblin, Roman, S Vgl. Katharina Grätz: Schriften zur Ästhetik und Poetik ( ). In: Sabina Becker (Hg.): Döblin-Handbuch. Leben Werk Wirkung. Stuttgart: 2016, S , S Vgl. Schütz, Roman, S.32f. 9 Döblin, Roman, S Stephanie Wodianka: Zeit Literatur Gedächtnis. - In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlagen und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: 2005, S , S.184 (= Media and Cultural Memory / Medien und kulturelle Erinnerung; 2). 6

7 Einleitung Aus diesem Grund sind literarische Darstellungen auch für Historiker/innen wichtig. Wolfgang Hardtwig hebt hervor: Insofern literarische Texte wichtige Medien nationaler und vielleicht auch transnationaler Erinnerungskultur sind, stellen sie eine unverzichtbare Quelle für Historiker dar teils weil Historiker und Schriftsteller gemeinsam wesentliche Träger des Erinnerungsdiskurses sind, teils weil literarische Texte, wie andere Texte auch, als Quellen zur Erschließung der Erinnerungskulturen dienen können. 11 Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Themenfeld Literatur Erinnern Unterricht. Anhand eines konkreten Textes, Alfred Döblins Die Fahrt ins Blaue, soll danach gefragt werden, welche Rolle Literatur in der Erinnerungskultur einer Gesellschaft spielt und welche Faktoren darüber entscheiden, ob ein literarischer Text eine solche Funktion im Erinnern übernehmen kann oder in Vergessenheit gerät. Der Unterrichtsentwurf soll eine Möglichkeit aufzeigen, diese literarische Darstellung der NS-Euthanasie wieder in die Auseinandersetzung mit dem Thema einzubringen. Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich demnach mit der Rolle von Literatur in der Erinnerungs- und Gedächtniskultur. Nach einer kurzen Darstellung der wesentlichen theoretischen Ansätze in diesem Bereich wird auf die in der Literaturwissenschaft entwickelten Gedächtniskonzepte eingegangen. Abschließend wird die Rolle von Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses beleuchtet. Im zweiten Teil der Arbeit steht der Text Die Fahrt ins Blaue von Alfred Döblin im Mittelpunkt. Nach einer Textanalyse soll geklärt werden, warum diese literarische Darstellung keine Wirkung in der Erinnerungskultur entfalten konnte. Dazu werden der Kontext des Textes sowie der Umgang mit der NS-Euthanasie in der Nachkriegszeit erarbeitet. Der letzte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Entwicklung eines Unterrichtentwurfs, der auf dem Text Alfred Döblins beruht. Abschließend wird die Durchführung in zwei dritten Jahrgängen der HLTW13 Bergheidengasse reflektiert, wobei auch die mit Hilfe eines Fragebogens erhobenen Antworten der Schüler/innen miteinbezogen werden. Im Anhang finden sich alle im Unterricht verwendeten Materialien. Diese Arbeit konzentriert sich auf die Frage, welche Rolle literarische Texte in der Erinnerungskultur spielen können. Auf eine Darstellung der Geschichte der NS-Euthanasie, der entsprechenden bürokratischen Strukturen, der Täter/innen und Opfer wird verzichtet. Dies hätte den Rahmen dieser Abschlussarbeit endgültig gesprengt. 11 Hardtwig, Zeitgeschichte, S.16. 7

8 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur 2 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur Mit der Jahrtausendwende sind wie Astrid Erll in ihrer Einführung Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen feststellt - auch Kunst und Literatur vom Gedächtnisboom erfasst worden. 1 Bevor jedoch auf die Gedächtniskonzepte eingegangen wird, die von der Literaturwissenschaft entwickelt wurden, sollen im nächsten Abschnitt die einflussreichsten theoretischen Konzeptionen in diesem Bereich vorgestellt werden: das Forschungsparadigma der Erinnerungsorte von Pierre Nora, die Theorie des kollektiven Gedächtnisses von Maurice Halbwachs und die des kulturellen Gedächtnisses von Aleida und Jan Assmann. Im letzten Abschnitt des Kapitels wird schließlich die Rolle von Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses behandelt. 2.1 Erinnerungsorte und das Konzept des kollektiven Gedächtnisses Pierre Nora und die lieux de mémoire Der Begriff Erinnerungsort (lieux de mémoire) wurde in den 80er- und 90er-Jahren vom französischen Historiker Pierre Nora geprägt. Im Vorwort zu From Lieux de mémoire to Realms of Memory definiert er diesen folgendermaßen: [ ] a lieu de memoire is any significant entity, whether material or nonmaterial in nature, which by dint of human will or the work of time has become a symbolic element of the memorial heritage of any community (in this case, the French community). 2 Ort ist somit im übertragenen Sinn zu verstehen. Uwe Koreik und Jörg Roche sprechen von Metapher 3, Cornelia Siebeck von diskursive[n] Chiffren 4, in denen sich überindividuelle Erinnerungen verdichten bzw. materialisieren. Neben tatsächlichen Orten können mit diesem Begriff auch zahlreiche andere Phänomene analysiert werden, die für den entsprechenden Gedächtnis- und Identitätsdiskurs relevant scheinen. Cornelia Siebeck zählt unter anderem historische Daten, Jahreszahlen, Begriffe, Slogans, Dinge, Feste, Rituale, Personen oder mythische Figuren auf. 5 Pierre Nora beschreibt die so entstehende Form der Geschichtsschreibung als history of the second degree 6 eine Geschichte, die sich nicht so sehr an historischen Ereignissen orientiert, sondern an deren Konstruktion und Tradierung in der Zeit. 1 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: , S.58 [In Folge zitiert als Erll, Kollektives Gedächtnis]. 2 Pierre Nora: From Lieux de mémoire to Realms of Memory. Preface to the English-Language Edition. In: Pierre Nora / Lawrence D. Kritzman (Hg.): Realms of Memory. Rethinking the French Past, - New York 1996, S. XV-XXIV, S. XVII, abrufbar als PDF unter [In Folge zitiert als Nora, Preface]. 3 Uwe Koreik / Jörg Roche: Zum Konzept der Erinnerungsorte in der Landeskunde für Deutsch als Fremdsprache eine Einführung. In: Jörg Roche / Jürgen Röhling (Hg.): Erinnerungsorte und Erinnerungskulturen. Konzepte der Sprach- und Kulturvermittlung. Baltmannsweiler: 2014, S.9-26, S Cornelia Siebeck: Erinnerungsorte, Lieux de Mémoire. Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, , online abrufbar unter [In Folge zitiert als Siebeck, Erinnerungsorte]. 5 Vgl. Siebeck, Erinnerungsorte. 6 Nora, Preface, S.XXIV. 8

9 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur Die Einführung des Konzepts der Erinnerungsorte fiel in die Anfänge des internationalen Gedächtnis- und Identitätsbooms der 80er-Jahre, was sicherlich zu dessen außergewöhnlichem Erfolg beitrug. Nachdem die moderne Fortschrittsperspektive der 70er-Jahre an Überzeugungskraft eingebüßt hatte, verlagerte sich die Suche nach Orientierung von der besseren Zukunft in die Konstruktion einer traditions- und identitätsstiftenden Herkunft. Somit wurden Identität, Gedächtnis und Erinnerungskultur nach Cornelia Siebeck zu wesentlichen Schlagwörtern in soziopolitischen Verständigungsprozessen. 7 Auf Pierre Noras siebenbändige Ausgabe französischer Erinnerungsorte Les Lieux mémoire 8 folgten zahlreiche ähnliche Unternehmen auf nationaler 9 und transnationaler 10 Ebene. Peter Carrier folgend kann das Forschungsparadigma der Erinnerungsorte daher gleichzeitig als Diagnose und Symptom des zeitgenössischen Erinnerungskultes 11 beschrieben werden. Pierre Nora selbst zeigt sich bezüglich dieser traditions- und identitätsstiftenden Seite der Erinnerungsorte ambivalent. Denn die Antwort, ob es nun um eine kritisch-reflexive Sichtung nationaler Traditionsbestände geht oder ob diese mit identitätsstiftender Absicht kanonisiert werden sollen, bleibt er letztlich schuldig. Anhaltspunkte lassen sich für beide Sichtweisen finden. So streicht Cornelia Siebeck hervor, dass sich Erinnerungsorte historisch entwickelt haben und dabei bzgl. Symbolik und Bedeutung stets im Wandel sind. Nationales Gedächtnis und Identität erscheinen somit als Ergebnis historischer Konstruktionsprozesse. Jedoch gerade bzgl. des Begriffs der Nation finden sich bei Pierre Nora auch Ansätze, die in eine andere Richtung weisen. Gleichzeitig wird sie [die Nation, MP] aber in der Konzeption des Forschungsparadigmas eben doch essentialisierend als tatsächliche (Erinnerungs-)Gemeinschaft vorausgesetzt. Frankreich, die Franzosen und ein pauschales wir figurieren in Noras Texten als Kollektivsubjekt, das eine Identität hat und diese in Erinnerungsorten ausdrückt, deren Untersuchung wiederum Aufschluss über das nationale Selbstverständnis geben soll. 12 Pierre Noras Projekt erscheint somit letztlich auch identitäts- und geschichtspolitisch motiviert. Die monumentale Kanonisierung nationaler Erinnerungsorte behauptet eine Einheit der Nation und hat die Stiftung eines nationalen Gedächtnisses zum Ziel. Neben diesem Zug nationaler Identitätsstiftung bezieht sich die Kritik an Pierre Noras Konzept auf die staats- und elitenzentrierte Perspektive, die sowohl die koloniale Vergangenheit als auch die muslimische Minderheit in Frankreich ausblendet, sowie die zunehmende theoretisch-methodologische Unbestimmtheit 7 Vgl. Siebeck, Erinnerungsorte. 8 Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire. 7 Bde. Paris: Vgl. z.b. Etienne François / Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München: 2001 oder Emil Brix u.a. (Hg.): Memoria Austriae. 3 Bde. Wien: Vgl. z.b. Pim den Boer u.a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte. 3 Bde. München: Peter Carrier: Pierre Noras Les Lieux de mémoire als Diagnose und Symptom des zeitgenössischen Erinnerungskultes. - In: Gerald Echterhoff / Martin Saar (Hg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Konstanz: 2002, S , S Siebeck, Erinnerungsorte. 9

10 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur des Konzepts. Diese ergibt sich nicht nur aus der Diversifizierung des Forschungsansatzes, sondern ist bereits in den Texten Pierre Noras selbst angelegt, die verschiedene Definitionsangebote enthalten. 13 Der Begriff Erinnerungsort fungiert somit oft als Schlagwort, mit dem sehr unterschiedliche Phänomene bezeichnet werden können. So werden Erinnerungsorte im interdisziplinären Handbuch Gedächtnis und Erinnerung zwar in der Rubrik Medien des Gedächtnisses genannt, letztlich kommen Jens Kroh und Anne-Katrin Lang jedoch zum Schluss, dass der Begriff mehr Nachteile aufweist, als er neue Aspekte in die Diskussion einbringt: Erinnerungsorte sind eher als alternative Begrifflichkeit zur Benennung von verschiedenen in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung diskutierten Medien des Gedächtnisses wie etwa Archive, Literatur, Denkmale, Museen oder Rituale zu verstehen [ ] von letzteren heben sie sich vor allem durch die ihnen zugeschriebene Relevanz für die Identität eines Kollektivs ab. 14 Literarische Texte kommen bei Pierre Nora als Erinnerungsorte nur in den Blick, wenn sie Teil eines etablierten Literaturkanons sind und so der Konstruktion des nationalen Selbstverständnisses dienen. Birgit Neumann weist darauf hin, dass so ein großer Teil der Literaturproduktion ausgeblendet wird. Aber gerade die breit rezipierte Populärliteratur kann in der Erinnerungskultur wirksam werden Maurice Halbwachs und das kollektive Gedächtnis Der Begriff kollektives Gedächtnis geht auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs zurück, der sich bereits in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit dieser Thematik beschäftigt hat. Nach Astrid Erll erweisen sich drei Aspekte als besonders relevant für die weitere Entwicklung: Die These zur sozialen Bedingtheit des individuellen Gedächtnisses: Als Ausgangspunkt für seine Theorie des kollektiven Gedächtnisses fungieren bei Maurice Halbwachse die cadres sociaux, die den sozialen Bezugsrahmen für die individuelle Erinnerung bilden. Durch die kommunikative Teilhabe in unterschiedlichen sozialen Gruppen erwerben wir Denkschemata, mit deren Hilfe das Gedächtnis ein Bild von der Vergangenheit erstellt. 17 Erinnerungen werden nach Maurice Halbwachs durch kommunikative Prozesse weitergegeben. Dabei werden sie durch kollektive soziale und kulturelle Normen transformiert und so an gesellschaftliche, zeitgebundene Umstände angepasst. 13 Vgl. Patrick Schmidt: Zwischen Medien und Topoi: Die Lieux de mémoire und die Medialität des kulturellen Gedächtnisses. In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität Historizität. Kultuspezifität. Berlin, New York: 2004, S.25-43, S.25f. 14 Jens Kroh / Anne-Katrin Lang: Erinnerungsorte. - In: Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar: 2010, S , S Vgl. Birgit Neumann: Literatur als Medium kollektiver Erinnerungen und Identitäten. In: Astrid Erll / Marion Gymnich / Ansgar Nünning (Hg.): Literatur Erinnerung Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: 2003, S.49-77, S.57 [In Folge zitiert als Neumann, Medium]. 16 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 12. Wo nicht anders angegeben stützt sich das Folgende auf Erll, Kollektives Gedächtnis, S Vgl. auch Sabine Moller: Das kollektive Gedächtnis. In: Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar: 2010, S.85-92, S.85 [In Folge zitiert als Moller, Das kollektive Gedächtnis]. 10

11 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen gesellschaftlichen Rahmen des Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maße fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert. 18 Allerdings handelt es sich beim kollektiven Gedächtnis nach Maurice Halbwachs nicht um eine Metapher oder eine Art Kollektivpsyche, sondern individuelles und kollektives Gedächtnis bedingen einander und stehen in permanentem Austausch. So formuliert Sabine Moller: Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung ist immer das Individuum, ebenso wie das individuelle Gedächtnis immer ein soziales Phänomen ist. 19 Das kollektive Gedächtnis kann auch nur über individuelle Erinnerungsakte einsehbar gemacht werden. Maurice Halbwachs bezeichnet das individuelle Gedächtnis daher als Ausblickspunkt 20 auf das Gedächtnis der Gruppe. Gemeint ist damit der Standort des jeweiligen Menschen, den er durch seine Sozialisation und kulturelle Prägung in verschiedenen sozialen Gruppen erhalten hat und auf Grund derer er über gruppenspezifische Erfahrungen und Denkformen verfügt. Somit wäre nach Maurice Halbwachs nicht die Erinnerung selbst das individuelle, sondern die Kombination der Erinnerungsformen und -inhalte, die sich aus den verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten ergeben. 2. Die Untersuchungen zu Formen und Funktionen des intergenerationellen Gedächtnisses: Eng mit dem Wandel des sozialen Rahmens verbunden ist bei Maurice Halbwachs das Generationengedächtnis. Ein Beispiel für diesen Typ des kollektiven Gedächtnisses ist das Familiengedächtnis. Soziale Interaktion durch gemeinschaftliche Handlungen und geteilte Erfahrungen sowie wiederholtes gemeinsames Vergegenwärtigen der Vergangenheit innerhalb des geteilten Erfahrungshorizonts des Familienlebens schafft ein intergenerationelles Gedächtnis, das soweit zurückreicht wie die Erinnerungen der ältesten Familienmitglieder. Maurice Halbwachs geht von einem Gegensatz von Geschichte und Gedächtnis aus. Während er Geschichte als universal und objektiv versteht, ist das kollektive Gedächtnis partikular, seine Träger/innen sind zeitlich und räumlich begrenzt, ihre Erinnerungen orientieren sich weniger an der Vergangenheit als an den gegenwärtigen Bedürfnissen der Gruppe. Daher verfährt es stark selektiv und rekonstruktiv. Während sich die Geschichte um ein Abbild der Vergangenheit bemüht, ist das Gedächtnis von Verzerrungen und Umgewichtungen gekennzeichnet. So schreibt Maurice Halbwachs: [ ] die Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen 18 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin, Neuwied: 1966, S.21 (= Soziologische Texte; 34) (Original: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris: 1925). 19 Moller, Das kollektive Gedächtnis, S Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/Main: 1991, S.31 (Original: La mémoire collective. Paris: 1950) [In Folge zitiert als Halbwachs, Gedächtnis]. 11

12 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur Gegebenheiten und wird im Übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommenen Rekonstruktionen vorbereitet. 21 Geschichte beginnt für Maurice Halbwachs dort, wo das Gedächtnis erlischt. 3. Die Ausweitung des Begriffs kollektives Gedächtnis auf den Bereich kultureller Überlieferung: Mit seiner Studie zur christlichen Gedächtnis-Topografie des heiligen Landes 22 wendet sich Maurice Halbwachs schließlich einem stärker geformten kollektiven Gedächtnis zu, dessen Zeithorizont sich über knapp zwei Jahrtausende erstreckt. Während für das Generationengedächtnis das Medium der alltäglichen Kommunikation und individuell-autobiografischen Erinnerungen ausreichen, benötigt diese Form des kollektiven Gedächtnisses Gegenstände und Gedächtnisorte wie Architektur, Pilgerwege oder Gräber, um eine ferne Vergangenheit kollektiv zu konstruieren und als Tradition überliefern zu können. Kritisiert wird an Maurice Halbwachs Position neben der offensichtlich objektivistischen Sicht der Geschichte der Begriff des kollektiven Gedächtnisses selbst. Denn auch wenn er stets betont, dass sich immer Individuen erinnern, legen manche Ausführungen die Vorstellung einer Kollektivpsyche nahe. Kollektive Erinnerungen so Reinhart Koselleck würden kollektive Handlungssubjekte wie das Volk oder die Kirche benötigen, wodurch die Vielfalt persönlicher Erinnerungen in der kollektiven Homogenität untergeht: Die Redeweise von einer kollektiven Erinnerung gerät also in Gefahr, auf hoch abstrakter Ebene Verallgemeinerungen substantiell festschreiben. [ ] Daher sei ein Vorschlag zur Behutsamkeit angeboten. Es gibt keine kollektive Erinnerung, wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerung. 23 Sabine Moller sieht bei der Verwendung des Begriffs die Gefahr, dass die Vielfalt von Zugehörigkeiten zugunsten einer suggerierten Homogenität übergangen wird. Dieser irreführenden Tendenz sowie der Möglichkeit einer politischen Inanspruchnahme müsse mit einer entsprechenden Differenzierung im Konkreten begegnet werden. 24 Zur Verbindung von literarischen Texten und kollektivem Gedächtnis finden sich bei Maurice Halbwachs nur vereinzelte Hinweise. Dies ist vor allem durch die Annahme bedingt, dass das kollektive Gedächtnis alleine in der Kommunikation von Individuen entsteht. Wenn sich dieses in Schriften materialisiert, handelt es sich nicht mehr um Gedächtnis, sondern um Geschichte. Literarische Texte können aber als potenzieller Rahmen der individuellen Orientierungs- und Gedächtnisbildung fungieren Halbwachs, Gedächtnis, S Vgl. Maurice Halbwachs: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis. Konstanz: 2003 (Original: La topographie légendaire des Evangiles en Terre Sainte. Étude de mémpire collective. Paris: 1941). 23 Reinhart Koselleck: Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangenheiten. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch Göttingen: 2001, S.19-32, S Vgl. Moller, Das kollektive Gedächtnis, S.87f. 25 Vgl. Neumann, Medium, S.53f. 12

13 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur Jan und Aleida Assmann und das kulturelle Gedächtnis Jan und Aleida Assmann greifen den Begriff kollektives Gedächtnis von Maurice Halbwachs auf, gehen aber über dessen Ansatz hinaus. Sie übernehmen den Grundgedanken von Erinnerung als identitätsstiftendes, kommunikatives Mittel zur Selbstvergewisserung einer Gruppe in Abhängigkeit von deren aktuellen Bedürfnissen, beziehen diesen aber auf weitaus größere Gruppenformationen. Weiters geben sie die strikte Trennung von Gedächtnis und Geschichte auf. Außerdem kritisiert Jan Assmann die mangelnde begriffliche Schärfe und dass bei Maurice Halbwachs die Bedeutung der Schrift als Speichermedium kollektiver Erinnerung ausgeblendet wird. 26 Im Zentrum ihres Konzepts des kulturellen Gedächtnisses steht die Frage, wie kulturelle Tradierung in der Gesellschaft funktioniert und wie kulturelle Erinnerung, kollektive Identitätsbildung und politische Legitimierung zusammenspielen. Jan Assmann geht in seiner Studie Das kulturelle Gedächtnis von zwei Modi bzw. Gedächtnisrahmen aus: 27 Das kommunikative Gedächtnis vergleichbar dem Generationengedächtnis bei Maurice Halbwachs entsteht durch Alltagsinteraktion, beinhaltet die Geschichtserfahrungen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen und ist damit auf einen Zeithorizont von 80 bis 100 Jahre begrenzt. Seine Inhalte sind veränderlich, ohne feste Zuschreibung von Bedeutung. Jede/r gilt hier als gleichermaßen kompetent, Vergangenes zu erinnern und zu deuten. Das kulturelle Gedächtnis umfasst hingegen den Bereich der objektivierten Kultur und der organisierten Kommunikation. In seinem 1988 erschienenen Aufsatz Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität definiert Jan Assmann den Begriff kulturelles Gedächtnis folgendermaßen: Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Widergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren Pflege sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Eigenheit und Eigenart stützt. 28 Das kulturelle Gedächtnis ist somit an feste Objektivationen gebundene, gestiftete und in Zeremonien vergegenwärtigte Erinnerung. Es verfügt über einen festen Bestand von Inhalten und Sinnstiftungen, zu deren Vermittlung Spezialist/innen wie z.b. Priester/innen oder Archivar/innen ausgebildet werden. Es 26 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: , S.45f. [In Folge zitiert als Assmann, Kulturelles Gedächtnis]. 27 Vgl. Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S Eine gute Zusammenfassung findet sich auch in Aleida Assmann / Jan Assmann: Das Gestern im heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Klaus Merten / Siegfried Schmidt / Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: 1994, S Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Jan Assmann / Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/Main: 1988, S.9-19, S.15 [In Folge zitiert als Assmann, Kollektives Gedächtnis]. 13

14 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur fungiert als Brücke der jeweiligen Gemeinschaft zu einer sinnstiftenden, mythologischen Vergangenheit, die ritualisiert vergegenwärtigt wird. In der Theorie Jan Assmanns weist das kulturelle Gedächtnis folgende Merkmale auf: 29 Identitätskonkretheit: Das kulturelle Gedächtnis wird von sozialen Gruppen konstruiert, die daraus ihre Identität ableiten und so Zugehörige von Nichtzugehörigen trennen. Rekonstruktivität: Das kulturelle Gedächtnis ist ein retroperspektives Konstrukt, d.h. es ist immer auf die Gegenwart bezogen. Geformtheit: Dieses Merkmal unterscheidet kommunikatives und kulturelles Gedächtnis. Letzteres übermittelt Sinn in festen Ausdrucksformen und -medien. Zentral ist dabei die Bildung von Erinnerungsfiguren, die ein Bild mit einem Begriff oder Narrativ verbinden. Organisiertheit: Das kulturelle Gedächtnis ist an Institutionen und eine spezialisierte Trägerschaft gebunden. Es muss gepflegt werden. Verbindlichkeit: Indem sich das kulturelle Gedächtnis auf das normative Selbstbild der Gruppe bezieht, vermittelt es auch die mit diesem verbundenen Werthaltungen. Reflexivität: Das kulturelle Gedächtnis spiegelt Lebenswelt und Selbstbild der Gruppe sowie sich selbst wieder. Das kulturelle Gedächtnis ist nach Jan und Aleida Assmann also medial verfasst. Astrid Erll und Ansgar Nünning kritisieren allerdings die Gleichordnung von literarischen und nichtliterarischen Texten, die u.a. aus der vorrangigen Beschäftigung mit dem Unterschied zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit resultiert. Auf diese Weise kann das spezifische Leistungsvermögen der Literatur als Medium der Erinnerungskultur nicht in den Blick kommen. 30 Während der Begriff Gedächtnis auf der Ebene des kommunikativen Gedächtnisses das entsprechende menschliche Organ bezeichnet, wird er im Falle des kulturellen Gedächtnisses metaphorisch auf die Gedächtnisfunktion von Kultur bezogen verwendet. Allerdings können die beiden Modi, wie Sabine Moller betont, nicht voneinander getrennt werden: Ebenso wenig wie man sich ohne Sprache und kommunikativen Austausch erinnern kann, so wenig lässt sich Kultur als Gedächtnis losgelöst von Individuen beschreiben Für das Folgende vgl. Assmann, Kollektives Gedächtnis, S Vgl. Astrid Erll / Ansgar Nünning: Literatur und Erinnerungskultur. Eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorieskizze mit Fallbeispielen aus der britischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Günter Oesterle (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen: 2005, S , S.186 (= Formen der Erinnerung; 26). 31 Moller, Das kollektive Gedächtnis, S

15 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur Kritisiert wird am Ansatz von Jan und Aleida Assmann das Postulat eines singulären Gedächtnisses, dem eine Kollektividentität zugrunde liegt. Dies scheint jedoch der zunehmenden gesellschaftlichen Pluralisierung nicht gerecht zu werden. Eher ist mit einer Vielfalt von Vergangenheitsauslegungen zu rechnen, die um die gesellschaftliche Deutungshoheit konkurrieren. 32 Allerdings rechnet Aleida Assmann sehr wohl damit, dass ein offizielles Gedächtnis immer auch subversive Gegengedächtnisse hervorbringt, die ersteres zu delegitimieren versuchen. Insofern wird nicht ausgeschlossen, dass innerhalb einer Gesellschaft verschiedene Erinnerungsgemeinschaften miteinander in Konkurrenz treten. 33 Auch Aleida und Jan Assmann gehen auf die Bedeutung von literarischen Texten für das kulturelle Gedächtnis nicht systematisch ein, sondern diese fallen wie alle anderen Texte in die Kategorie Schrift und stehen damit auf einer Ebene mit religiösen und philosophischen Schriften. 34 Auf diese Weise kann das spezifische erinnerungskulturelle Leistungsvermögen literarischer Werke nicht in den Blick kommen. 35 Angesichts der Diversität der Ansätze im Forschungsfeld Gedächtnis und Erinnerung, in dem sich die unterschiedlichen natur- und kulturwissenschaftlichen Diskurse kreuzen, schlagen Nicolas Pethes und Jens Ruchatz vor, das Gedächtnis als diskursives Konstrukt 36 zu verstehen, das sich in verschiedenen Kontexten unterschiedlich konstituiert und daher auf unterschiedliche Weise problematisiert, erforscht und beschrieben werden muss. Um die Vielfalt der in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen entstandenen Konzepte und Herangehensweisen abzudecken, plädiert Astrid Erll für einen weiten Begriff von kollektivem Gedächtnis. Ihre vorläufige Definition lautet: Das kollektive Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle jene Vorgänge biologischer, medialer und sozialer Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in kulturellen Kontexten zukommt Vgl. z.b. Birgit Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin, New York: 2005, S , S.149f. [In Folge zitiert als Neumann, Literatur]. 33 Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: 1999, S.138f. 34 Eine Ausnahme bildet der Aufsatz Was sind kulturelle Texte? von Aleida Assmann. Auf die dort vorgenommene Unterscheidung von kulturellen und literarischen Texten wird in Kapitel 2.3. eingegangen. Vgl. Aleida Assmann: Was sind kulturelle Texte? - In: Andreas Poltermann (Hg.): Literaturkanon Medienereignis kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin: 1995, S [In Folge zitiert als Assmann, Kulturelle Texte]. 35 Vgl. Neumann, Medium, S.59f. 36 Nicolas Pethes / Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek: 2001, S Erll, Kollektives Gedächtnis, S.5. 15

16 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur 2.2 Gedächtniskonzepte in der Literaturwissenschaft Seit der Jahrtausendwende ist die Anzahl der Veröffentlichungen zum Thema Literatur und Gedächtnis massiv angestiegen. Da Literatur als ein zentrales Medium des Gedächtnisses fungiert, erwies sich diese Thematik für die Literaturwissenschaft als besonders ergiebig. Literarische Texte sind als Medien des kollektiven Gedächtnisses allgegenwärtig: Das lyrische Gedicht, der Groschenroman, der historische Roman, Fantasy-Fiction oder Liebesgeschichten Texte aller Gattungen und Genres, sowohl der populären Trivialliteratur als auch die kanonisierte Hochliteratur dienen und dienten als Medien des kollektiven Gedächtnisses. Sie erfüllen vielfältige erinnerungskulturelle Funktionen, wie die Herausbildung von Vorstellungen über vergangene Lebenswelten, die Vermittlung von Geschichtsbildern, die Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen und die Reflexion über Prozesse und Probleme des kollektiven Gedächtnisses. Literatur wirkt in der Erinnerungskultur. (Hervorhebungen Erll) 38 Entsprechend dieser vielfältigen Funktionen literarischer Texte in der Erinnerungskultur wurden in der Literaturwissenschaft verschiedene Gedächtniskonzepte entwickelt. Astrid Erll ordnet diese in folgende Kategorien ein: 1. Ars memoria: Dieser Zweig der Gedächtnisforschung beschäftigt sich mit der Bedeutung antiker Mnemotechnik in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur und ist somit literaturhistorisch ausgerichtet. 2. Gedächtnis der Literatur: Dieser Begriff bezeichnet üblicherweise den zeitlichen Konnex von Literatur und Gedächtnis und geht von der Annahme aus, dass Literatur nur im diachronen Zusammenhang zu begreifen ist. Gedächtnis der Literatur kann in zweifacher Weise verstanden werden. Als genetivus subiectivus (I) bezeichnet diese Metapher das Gedächtnis der Literatur an sich selbst in Form von Intertextualität, als genetivus obiectivus (II) die gesellschaftlich institutionalisierte Weise, in der Literatur erinnert wird. Gedächtnis der Literatur I: In Form von intertextuellen Bezügen wird in literarischen Werken an vorgängige Texte, Topoi, Formen und Gattungsmuster erinnert. Die entsprechenden literaturwissenschaftlichen Ansätze geben somit einen Einblick in das Gedächtnis des Symbolsystems Literatur. Gedächtnis der Literatur II: Kanonforschung und Literaturgeschichtsschreibung hingegen untersuchen, wie das Sozialsystem Literatur funktioniert. Denn Kanonbildung und Literaturgeschichte sind wesentliche Mechanismen und Medien, die Literatur erinnern und kollektive Identität stiften. 38 Erll, Kollektives Gedächtnis, S.167. Für das Folgende vgl. Astrid Erll: Artikel Literaturwissenschaft. In: Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar: 2010, S [In Folge zitiert als Erll, Literaturwissenschaft] und Erll, Kollektives Gedächtnis, S

17 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur 3. Gedächtnis in der Literatur: Die Beschäftigung mit der literarischen Repräsentation bzw. Inszenierung von Gedächtnis richtet sich stärker auf die synchrone Dimension, auf den Dialog zwischen Literatur und außerliterarischen Gedächtnisdiskursen. Denn literarische Werke nehmen auf diese Bezug, reorganisieren sie im Medium der Fiktionalität und machen sie so beobachtbar. Dieser Forschungszweig umfasst ein weites Spektrum von narratologischen und diskursanalytischen Ansätzen bis hin zur literaturwissenschaftlichen Traumaforschung. 4. Literatur und Medialität des Gedächtnisses: Literatur wird heute als Medium des individuellen wie kollektiven Gedächtnisses verstanden, sie kann die kulturelle Erinnerungskultur maßgeblich mitprägen. Somit stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen literarische Werke gedächtnisbildend wirksam werden können. Entsprechende Ansätze untersuchen daher das Verhältnis von Literatur und Gedächtnis im Hinblick auf (inter-)mediale und medienkulturelle Prozesse. 2.3 Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses Eine zentrale Frage bzgl. der Erforschung des kollektiven Gedächtnisses ist die nach dessen Medien. Denn erst durch mediale Repräsentation und Distribution können individuelle Erinnerungen für das kollektive Gedächtnis relevant werden. So betont Astrid Erll: Die Konstitution und Zirkulation von Wissen und Versionen einer gemeinsamen Vergangenheit in sozialen und kulturellen Kontexten werden erst durch Medien ermöglicht: durch mündliche Sprache, Buch, Fotografie und Internet etwa. Auf kollektiver Ebene ist Gedächtnis stets medial vermittelt bzw. [ ] wird es oftmals überhaupt erst medial konstruiert. 39 Denn Medien sind keine neutralen Träger von Informationen, sondern formen oft erst das, was sie vermitteln. Sie fungieren damit nicht nur als Vermittlungsinstanzen, sondern auch als Transformatoren zwischen individueller und kollektiver Dimension des Erinnerns. 40 Literarische Texte sind als Medien des kollektiven Gedächtnisses allgegenwärtig. Astrid Erll erklärt deren Bedeutung für die Erinnerungskultur mit den Ähnlichkeiten und Differenzen des Symbolsystems Literatur mit kulturellen Gedächtnisprozessen. Denn sowohl Literatur als auch Gedächtnis konstruieren Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen. In der Folge arbeitet Astrid Erll Überschneidungen wie Unterschiede zwischen den beiden Bereichen heraus Astrid Erll: Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität Historizität Kulturspezifität. Berlin, New York: 2004, S.3-22, S Vgl. auch Erll, Kollektives Gedächtnis, S Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, S.167, für das Folgende vgl. S

18 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur 1. Schnittpunkte von Literatur und kollektivem Gedächtnis: Erinnerung entsteht in einem schöpferischen, konstruktiven Prozess. Die verfügbaren Daten werden ausgewählt, neu organisiert und verdichtet. Erst durch diesen Verarbeitungsprozess kann das Ausgewählte zur Erinnerung werden. Vergleichbare Verfahren lassen sich auch in der Literatur finden. Konkret nennt Astrid Erll Verfahren der Verdichtung wie z.b. Metaphorik oder Intertextualität, verschiedene narrative Strategien und konventionalisierte Darstellungsformen, sogenannte Gattungsmuster. Mit Hilfe dieser Verfahren wird sowohl in literarischen Texten, als auch im kollektiven Gedächtnis Welt erzeugt und Bedeutung gestiftet. 2. Unterschiede zwischen Literatur und kollektivem Gedächtnis: Allerdings weist Literatur im Vergleich mit anderen Symbolsystemen des kollektiven Gedächtnisses auch spezifische, unterscheidende Charakteristika auf. Astrid Erll nennt hier an erster Stelle fiktionale Privilegien, aber auch Restriktionen. Zu ersteren zählt sie z.b. fiktionale Erzählinstanzen, Innenweltdarstellungen oder die Ausformulierung alternativer Wirklichkeiten. Aus dieser Mischung von Realem und Irrealem ergeben sich aber auch Restriktion wie der stark eingeschränkte Anspruch auf Referenzialität, Faktentreue und Objektivität. Als weitere Unterschiede zu anderen Symbolsystemen nennt Astrid Erll Interdiskursivität, da literarische Werke die Diskursvielfalt in der Erinnerungskultur widerspiegeln können, und Polyvalenz, d.h. die im Vergleich mit anderen Medien des kollektiven Gedächtnisses höhere Komplexität und Mehrdeutigkeit. Birgit Neumann nennt drei Spezifika, durch die literarischen Texten eine besondere Rolle unter den Gedächtnismedien zukommt: Literatur steht mit anderen Mediensystemen im Dialog. Sie kann sich daher textintern auf verschiedene Gedächtnismedien beziehen und deren Funktionsweise, Wirkungs- und Erinnerungspotenzial thematisieren. 2. Literatur ist gleichzeitig ein Medium der kulturellen Selbstwahrnehmung sowie der kritischen Reflexion derselben. Sie kann daher die medialen Bedingungen der Vergangenheitsaneignungen kritisch perspektivieren. 3. Literarische Texte können selbst zum Gedächtnismedium und somit zum Teil der Erinnerungskultur werden. Indem sie vergangene Ereignisse darstellen, mediale Gedächtnisbildung inszenieren und re- 42 Für das Folgende vgl. Birgit Neumann: Literarische Inszenierungen und Interventionen: Mediale Erinnerungskonkurrenz in Guy Vanderhaeghes The Englishman s Boy und Michael Ondaatjes Running in the Family. - In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität Historizität Kulturspezifität. Berlin, New York: 2004, S , S.198f. 18

19 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur flektieren, werden alternative Vergangenheitsversionen geschaffen. Diese können wieder zur Voraussetzung für eine veränderte Wahrnehmung von Modalitäten kollektiver Gedächtniskonstitutionen werden. Astrid Erll fasst die Bedeutung von Literatur in der Erinnerungskultur schließlich folgendermaßen zusammen: Das spezifische Leistungsvermögen von Literatur in der Erinnerungskultur beruht auf dem Zusammenspiel von Ähnlichkeiten mit Prozessen kollektiver Gedächtnisbildung und Differenzen zu Objektivationen benachbarter Symbolsysteme. Literatur ist eine Weise der Gedächtniserzeugung unter anderen. Sie teilt viele Verfahren mit der Alltagserzählung, der Geschichtsschreibung oder dem Denkmal. Doch zugleich erzeugt sie aufgrund ihrer symbolsystem-spezifischen Merkmale Sinnangebote, die sich von denen anderer Gedächtnismedien deutlich unterscheiden. Literatur kann so Neues und Anderes in die Erinnerungskulturen einspeisen. 43 Literatur fungiert somit als Medium des individuellen wie kollektiven Gedächtnisses. Beide können von literarischen Darstellungen maßgeblich mitgeprägt werden. Dementsprechend unterscheidet Astrid Erll die Ebene des collective von der des collected memory: 44 Auf der kollektiven Ebene fungieren literarische Texte als Speichermedien, Zirkulationsmedien und als medialer cue, d.h. als Erinnerungsanlass. 45 Während die Funktion als Speichermedien vor allem sogenannte kulturelle Texte 46 betrifft, spricht die Autorin bzgl. der Funktion als Zirkulationsmedien auf synchroner Ebene von kollektiven Texten. Diese werden im Gegensatz zu kulturellen Texten nicht als verbindliche Elemente des kulturellen Gedächtnisses rezipiert, sondern spielen in der Konstruktion und Vermittlung von Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen eine wesentliche Rolle, d.h. literarische Darstellungen können Geschichtsbilder und Identitätskonzepte mitgestalten. Auch Birgit Neumann kritisiert, dass Aleida Assmanns Beschränkung auf kanonische Texte den Großteil der literarischen Produktion ausschließt, gleichzeitig aber auch das wesentliche Element von Literatur als Gedächtnismedium ausblendet, nämlich die ihr eigene Vieldeutigkeit. 47 Mit dem Begriff kollektive Texte kann die Bedeutung literarischer Texte für die Erinnerungs- und Gedächtniskultur jenseits der kanonischen Verbindlichkeit in den Blick genommen werden. Bezüglich der Rezeption solcher Texte spricht Astrid Erll von einer paradoxalen Aneignungsweise. 48 Die Leser/innen nehmen literarische Texte als Fiktionen wahr, weisen ihnen aber gleichzeitig Referenzialität zu. Indem sie deren Inhalte auf die Wirklichkeit beziehen, ermöglichen sie deren Interpretation den Eintritt in eine Welt außerhalb des Textes. Nach Astrid Erll geht es bei diesem Wirklichkeitsbezug 43 Erll, Kollektives Gedächtnis, S Für das Folgende vgl. Astrid Erll: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin, New York: 2005, S , S [In Folge zitiert als Erll, Literatur als Medium], Erll, Kollektives Gedächtnis, S und Erll, Literaturwissenschaft, S Vgl. auch die Erläuterungen in Erll, Literatur als Medium, S Astrid Erll folgt hier der Begrifflichkeit von Aleida Assmann. Kulturelle Texten haben kanonischen Status und vermitteln so Vorstellungen von nationalen, kulturellen und religiösen Identitäten sowie kollektiv geteilte Werte und Normen. Vgl. Assmann, Kulturelle Texte, S.237f. 47 Vgl. Neumann, Literatur, S Erll, Kollektives Gedächtnis, S

20 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur jedoch weniger um den Verweis auf historisches Geschehen als auf die entsprechenden Sinnhorizonte des gegenwärtigen kollektiven Gedächtnisses. Um kollektiv wirksam werden zu können, muss das literarische Werk diesen Bezug ermöglichen: Kollektive Texte müssen passen, anschließbar sein an die Sinnhorizonte, kulturspezifischen Schemata und Narrationsmuster sowie Imaginationen der Vergangenheit in der zeitgenössischen Erinnerungskultur. 49 Auf diachroner Ebene verwendet Astrid Erll den Begriff literarisches Nachleben. Multiperspektivisch kann in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte mit sozialgeschichtlichen, medienkulturwissenschaftlichen und textanalytischen Methoden der Einfluss bestimmter literarischer Texte in der Erinnerungskultur erforscht werden. Als Medium des collected memory können literarische Werke zum medialen Rahmen des autobiographischen Erinnerns werden. Sie stellen Modelle und Schemata zur Verfügung, die die Wirklichkeitserfahrung mitprägen und zu deren Deutung herangezogen werden können. Angesichts dieser Bedeutung von kulturellen Plots, narrativen Schemata und Metaphorik für das individuelle Erinnern spricht Astrid Erll von einer inhärenten Literarizität des Gedächtnisses. Somit weist Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses zwei grundlegende Funktionspotenziale in der Erinnerungskultur auf. Einerseits dient sie der Gedächtnisbildung auf der Ebene des collected memory prägen literarische Darstellungen unsere persönlichen Erinnerungen mit, auf der Ebene des collective memory formen sie unsere Vorstellungen von der historischen Vergangenheit. Andererseits ermöglicht sie Gedächtnisreflexion, denn anhand von Literatur lassen sich individuelle wie kollektive Erinnerungsprozesse beobachten. Weiters können literarische Werke affirmativ in der Erinnerungskultur vorhandene Vorstellungsmuster bestärken, sie können diese aber auch dekonstruieren und neue, bislang ausgeblendete Perspektiven einbringen. Auf diese Weise kann eine Revision von Geschichtsbildern, Wertstrukturen sowie der Vorstellungen vom Eigenen und Fremden angestoßen werden. 50 Birgit Neumann sieht die spezifische Funktion von Literatur in der Erinnerungskultur gerade in diesem Potenzial, ihre imaginativen Gestaltungsspielräume dazu zu nutzen: [ ] innovative Perspektiven auf gesellschaftlich vorherrschende Identitäts- und Vergangenheitskonzepte zu werfen und kulturelle Alternativen zu explorieren. Literatur vermag auch solche Erfahrungsbereiche auszuloten und zum Gegenstand kultureller Sinnwelten zu machen, die in anderen Diskursen unartikuliert bleiben. 51 So können auch bisher historisch wie literarisch marginalisierte Stimmen in den Erinnerungsdiskurs einbezogen werden. Indem literarische Texte Gegen-Erinnerungen entwerfen, können im Medium Literatur Erinnerungskonkurrenzen ausgehandelt werden Erll, Kollektives Gedächtnis, S Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, S.188 sowie Erll, Literatur als Medium, S Neumann, Literatur, S Vgl. Erll, Literatur als Medium, S

21 Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur In dieser Hinsicht kann Literatur auch eine Entlastungsfunktion in den Verhandlungen um verschiedene Vergangenheitsversionen haben. Kirsten Prinz beschreibt die Funktion literarischer Texte im öffentlichen Diskurs anhand der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass folgendermaßen: Indem literarische Äußerungen als vorgängig aufgefasst werden, übernehmen sie gegenüber journalistischen Texten eine entlastende Funktion; denn Zeitschriften und Zeitungen beziehen sich auf die im fiktiven Bereich durchgespielten Vergangenheitsdeutungen und Erinnerungsmodi als auf bereits in der Öffentlichkeit kursierende Auffassungen. Die Grenze zwischen Fiktion und Non-Fiktion erhält somit eine funktionale Bedeutung: Literatur kann unter den Bedingungen einer relativen Unverbindlichkeit und Wirklichkeitsentlastung Vergangenheitsdarstellungen erproben, deren gesellschaftliche und politische Relevanz im journalistischen Bereich benannt wird. 53 Denn die Vielfalt von Erinnerungskollektiven mit je unterschiedlichen Vergangenheitsdeutungen führt häufig zur Konkurrenz, zum Streit um die Deutungshoheit im öffentlichen Raum. So unterscheidet Birgit Neumann das gesellschaftlich dominante Kollektivgedächtnis, das von einem entsprechenden Bevölkerungsanteil getragen wird und einen gesellschaftlichen Konsens zum Ziel hat, von partikularen, (sub)kulturellen Gedächtnissen weiterer Erinnerungsgemeinschaften, die sich von dieser offiziellen Vergangenheitsrepräsentation unterscheiden. Da die Anerkennung der eigenen Vergangenheitsversion eine unhintergehbare Voraussetzung der politischen Legitimation gruppenspezifischer Identität bildet, sind Erinnerungsminderheiten bestrebt, den gesellschaftlich etablierten Erinnerungshorizont durch die Integration ihrer marginalisierten oder vergessenen Erfahrungen aufzubrechen. 54 Birgit Neumann greift hier auf den Begriff des Gegengedächtnisses von Michael Foucault zurück, das die Homogenisierungstendenzen des dominanten kollektiven Gedächtnisses durch das Einbringen alternativer Erinnerungsversionen unterläuft. Die Artikulation konkurrierender Vergangenheitsdeutungen fungiert für marginalisierte Gruppen auch als Handlungsermächtigung und dient der Rekonstruktion der eigenen Gruppenidentität. 55 Literarische Texte können eine wesentliche Rolle dabei spielen, alternative Vergangenheitsdeutungen aus dem partikulären Gruppengedächtnis gesamtgesellschaftlich zu thematisieren und somit auch verfügbar zu machen. 53 Kirsten Prinz: Mochte doch keiner was davon hören Günter Grass Im Krebsgang und das Feuilleton im Kontext aktueller Erinnerungsverhandlungen. In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität Historizität Kulturspezifität. Berlin, New York: 2004, S , S Neumann, Medium, S Vgl. Neumann, Medium, S.65f. und Birgit Neuman: The Literary Representation of Memory. In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Berlin, New York: 2008, S , S.341 (= Media and Cultural Memory / Medien und kulturelle Erinnerung; 8) [In Folge zitiert als Neumann, Representation]. 21

22 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) 3 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Der Text Die Fahrt ins Blaue erschien am 3. Mai 1946 in der Badischen Zeitung in Freiburg. Verfasst wurde er von einem der bedeutendsten deutschen Autoren der Moderne von Alfred Döblin. Das folgende Kapitel gibt zunächst ein Überblick über die Biografie von Alfred Döblin. Der zweite Abschnitt ist der Analyse und Interpretation der Fahrt ins Blaue gewidmet. Abschließend soll die Frage beantwortet werden, ob es sich bei diesem Text um einen kollektiven Text im Sinne von Astrid Erll handelt. 3.1 Alfred Döblin - Biografischer Überblick 1 Alfred Döblin wurde am 10. August 1878 in einer assimilierten jüdischen Familie in Stettin geboren. Bereits in seiner Gymnasialzeit begann er zu schreiben. Nach dem Abitur studierte er Medizin in Berlin und Freiburg, wobei er das Fachgebiet der Psychiatrie wählte promovierte er in Freiburg bei Alfred Hoche, dessen gemeinsam mit dem Juristen Karl Binding verfasste Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form (1920) als eine Wegbereiterin des NS-Euthanasie-Programms gilt. 2 Nach Beendigung seiner universitären Ausbildung arbeitete er in verschiedenen Spitälern und eröffnete schließlich 1911 eine Praxis in Berlin. Parallel war er weiter als Schriftsteller tätig. Im November 1912 erschien der Erzählband Die Ermordung der Butterblume und andere Erzählungen. Im selben Jahr heiratete er die Medizinstudentin Erna Reiss. Aus dieser Verbindung gingen drei Söhne hervor erschien sein bekanntester Roman Berlin Alexanderplatz, der als grundlegendes Werk der deutschen Moderne gilt. Politisch gehörte Alfred Döblin zum sozialistischen Lager der Weimarer Republik. Er war politisch sehr interessiert, was sich auch in den verschiedenen Veröffentlichungen und Aktivitäten zeigte. Nach dem Reichstagsbrand 1933 überzeugten ihn Freunde und Bekannte von der Notwendigkeit, Deutschland zu verlassen. Zunächst ging Alfred Döblin in die Schweiz. Die Ernsthaftigkeit der Lage wurde ihm aber erst bewusst, als auch seine Frau und Kinder nach Frankreich kamen. Diese Erfahrungen schilderte er im Text Als ich Abschied nahm 3 (1946). Da Alfred Döblin in der Schweiz nicht als Arzt praktizieren durfte, ließ sich die Familie schließlich in Paris nieder nahmen sie die französische Staatsbürgerschaft an flüchtete Alfred Döblin aus dem kapitulierenden Frankreich über Lissabon in die USA. Dort ließ er sich in Hollywood nieder und versuchte, sich mit Arbeiten für die Filmindustrie über Wasser zu halten. Da er in diesem Bereich kaum Erfolg hatte, war er letztlich von Unterstützungen jüdischer Organisationen abhängig. 1 Zur Biografie Alfred Döblins vgl. z.b. Armin Arnold: Alfred Döblin. Berlin: 1996, Oliver Bernhardt: Alfred Döblin. München: 2007 oder Wilfried F. Schoeller: Döblin. Eine Biographie. München: Vgl. Hans Burkhard Schlichting: Alfred Döblin in Baden-Baden. Marbach: 2016, S.8 (= Spuren, H.109 (2016)) [In Folge zitiert als Schlichting, Döblin]. 3 Vgl. Alfred Döblin: Als ich Abschied nahm (1946). In: Alfred Döblin: Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen. Mit einem Essay von Günter Grass. Hrsg. von Christina Althen. Düsseldorf: 2006, S

23 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) 1941 konvertierte er zum Katholizismus. Dieser Schritt kostete ihn die Unterstützung namhafter Weggefährten wie Bertold Brecht und Gottfried Benn. Am 9. November 1945 kehrte Alfred Döblin mit seiner Ehefrau nach Deutschland zurück und ließ sich in Baden-Baden in der französischen Besatzungszone nieder. Als Kulturoffizier arbeitete er in der Umerziehungsabteilung der französischen Armee. Aber auch in seiner alten Heimat konnte er nicht mehr Fuß fassen bzw. an die Erfolge der Zwischenkriegszeit anknüpfen. In seinem Text Als ich wieder kam (1946) widmet sich Alfred Döblin seiner versuchten Rückkehr: Und als ich wiederkam, da kam ich nicht wieder. Es gibt einen schönen amerikanischen Roman mit dem Titel: Du kannst nicht nach Hause zurück. Warum kann man nicht? Du bist nicht mehr der, der wegging, und du findest das Haus nicht mehr, das du verließest. Man weiß es nicht, wenn man weggeht; man ahnt es, wenn man sich auf den Rückweg macht, und man erfährt es bei der Annäherung, beim Betreten des Hauses. Dann weiß man alles, und siehe da: noch nicht alles emigrierte Alfred Döblin ein zweites Mal nach Frankreich. Da ein längerer Krankenhausaufenthalt in Frankreich nicht finanzierbar war, musste er mit dem Fortschreiten seiner Parkinson-Erkrankung nach Deutschland zurückkehren. Am 26. Juni 1957 verstarb Alfred Döblin in der psychiatrischen Heil- & Pflegeanstalt Emmerdingen bei Freiburg. Günter Grass schreibt in seinem Essay Über meinen Lehrer Döblin: Zu Lebzeiten vergessen. Döblin lag nicht richtig. Er kam nicht an. Den progressiven Linken war er zu katholisch, den Katholiken zu anarchistisch, den Moralisten versagte er handfeste Thesen, fürs Nachtprogramm zu unelegant, war er dem Schulfunk zu vulgär; [ ]. Soweit die Marktlage; der Wert Döblin wurde und wird nicht notiert Die Fahrt ins Blaue Textanalyse Der Text Die Fahrt ins Blaue beruht auf einem autobiografischen Erlebnis, das Alfred Döblin in einem kleinen Schwarzwalddorf bei einem zufälligen Zusammentreffen mit einem Medizinerkollegen aus der Berliner Zeit gehabt hat. 6 4 Alfred Döblin: Als ich wiederkam (1946). In: Alfred Döblin: Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen. Mit einem Essay von Günter Grass. Hrsg. von Christina Althen. Düsseldorf: 2006, S , S.188. In etwas anderer Form findet sich dieses Zitat auch in Alfred Döblin: Schicksalsreise. Bericht und Erkenntnis. Solothurn, Düsseldorf: 1993, S.306 (= Alfred Döblin: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Hrsg. Anthony W. Riley; 27) [In Folge zitiert als Döblin, Schicksalsreise]. 5 Günter Grass: Über meinen Lehrer Döblin. In: Alfred Döblin: Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen. Mit einem Essay von Günter Grass. Hrsg. von Christina Althen. Düsseldorf: 2006, S.9-15, S Vgl. Götz Aly: Die Fahrt ins Blaue. Alfred Döblin und die Berliner Listenkranken. In: Götz Aly: Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen. Frankfurt/Main: 2003, S , S.99 [In Folge zitiert als Aly, Fahrt]. Hans Burkhard Schlichting lokalisiert dieses Zusammentreffen in Döblins ehemaligem Studienort Freiburg. Vgl. Schlichting, Döblin, S.8. 23

24 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) 1. Titel: Alfred Döblin hat seinem Text über das NS-Euthanasie-Programm den Titel Die Fahrt ins Blaue gegeben. Ins Blaue hinein bedeutet, etwas auf Verdacht, ohne notwendige Vorabinformationen zu tun. Im Wörterbuch der Brüder Grimm findet sich die Erklärung, dass ins Blaue die Bedeutung von ins Weite, Unabsehbare, Nebelhafte hat. Die Redewendung ins Blaue fahren bzw. eine Fahrt ins Blaue machen meint demnach, einen Ausflug an einen unbekannten, vorher nicht bestimmten Ort zu unternehmen. Blau wird hierbei als die Farbe der Ferne, für etwas Unbestimmtes oder Unklares gebraucht. 7 Der Titel Die Fahrt ins Blaue nimmt Bezug auf die Verlegungen der Anstaltspatient/innen. Denn zunächst ist weder dem medizinischen Personal noch den Patient/innen klar, wohin die Transporte wirklich gehen. Es fehlen die Informationen, erst später erhärtet sich der Verdacht über das Ziel und den eigentlichen Zweck dieser Maßnahmen. Gleichzeitig handelt es sich bei der Verwendung dieser Redewendung im Zusammenhang mit dem Euthanasie-Programm im Nationalsozialismus um einen Euphemismus, bezeichnet diese doch üblicherweise etwas Schönes, einen Ausflug mit unbekanntem Ziel. Dies mag auch ein Verweis auf die in der Literatur immer wieder berichteten Täuschungsversuche sein, bei denen den Patient/innen gesagt wurde, dass sie nur einen Ausflug machen. 2. Inhalt: In Die Fahrt ins Blaue berichtet der Ich-Erzähler von einem Erlebnis, das er bei einer Reise ins Land gehabt hat. Auf der Straße wurde er von einem Arzt angesprochen, der ihn deswegen erkannt hatte, weil sie in Berlin an der gleichen Anstalt tätig gewesen waren. 8 Nach mehreren Besuchen erzählte ihm dieser Bekannte schließlich, was zwischen 1940 und 1942 in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten geschehen war. In der Folge beschreibt der Text sehr eindringlich den Ablauf der Aktion T4, d.h. die Erstellung der Listen für die Transporte, die Konflikte mancher Ärzte, Ärztinnen und Pfleger/innen mit dieser Aufgabe, das Sterben der Patient/innen und die Reaktion der Angehörigen. Beim letzten Treffen bei der Verabschiedung am Bahnhof offenbart der Arzt schließlich das Dilemma, in dem er sich befunden hatte. Als Vater eines behinderten Sohnes hatte er diesen bei Freunden versteckt, um ihn zu schützen. Aber jedes Mal, wenn er einen Namen auf diese Listen setzen musste, schien es ihm, das eigene Kind zum Tod zu verurteilen. 7 Vgl Bei diesem Arzt dürfte es sich um einen ehemaligen Kollegen aus der Anstalt Berlin-Buch gehandelt haben, in der Alfred Döblin vier Jahre lang als Psychiater tätig gewesen war. Vgl. Heilmann, Fahrt, S

25 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) 3. Historische Authentizität: Interessant ist die historische Genauigkeit des Textes, der zahlreiche Details der Euthanasie-Aktion beschreibt: Die Listen, deren Sinn zunächst sowohl der Anstaltsleitung, als auch den Ärzten und Ärztinnen unklar bleibt, die Auflösung des Verbrecherhauses als Beginn der Aktion, die Busse mit den mit Papier verklebten Fenstern, der Abtransport jener Kranken, die bereits länger in der Anstalt lebten, nicht arbeitsfähig waren und als unheilbar galten, das anfängliche Unwissen über das Ziel der Transporte, der Umbau der geräumten Stationen in Einrichtungen für Patient/innen der chirurgischen und inneren Abteilung, das Ankommen der Urnen auf den Friedhöfen und der Liste mit den Todesursachen in den Anstalten, die Empörung mancher Angehöriger, die Kennzeichnung der Patient/innen mittels Farbstift ein Vorgehen, das es so nur in den Berliner Einrichtungen gab, weil es bei der Verwendung der sonst üblichen Klebestreifen zu Verwechslungen gekommen war und schließlich eine letzte Selektion durch einen jungen Arzt, nachdem die meisten Kranken bereits abtransportiert worden waren. 9 Götz Aly urteilt bezüglich der historischen Genauigkeit: Jedes Detail des kurzen Zeitungsartikels stimmt. Sein Verfasser, der französische Besatzungsoffizier Alfred Döblin, beschrieb in äußerst knapper Form die wichtigsten Elemente der Aktion T4 in Berlin. 10 Der Text bleibt somit nahe an den geschichtlichen Fakten, was ihm eine hohe Authentizität verleiht. Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass der Text wenig enthält, was der erzählende Arzt nicht aus eigenem Erleben wissen kann. Dazu zählt das Prozedere in den Tötungsanstalten selbst, das geschilderte Sterben der Patient/innen und das Ankommen der Urnen auf den Friedhöfen. All dies könnte er aber durch Gespräche mit Pfleger/innen und Angehörigen erfahren haben oder Alfred Döblin hat es aus seinem Wissen über die Euthanasie-Aktion ergänzt. Für die zweite Möglichkeit mag die Nen- 9 Götz Aly identifiziert diesen jungen Arzt als Irmfried Eberl, den Leiter der Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg. Nach zahlreichen Zeugenaussagen und Dokumenten hatte dieser im Herbst 1941 die Anstalten nochmals nach lebensunwerten Patient/innen durchforstet. Vgl. Aly, Fahrt, S Aly, Fahrt, S

26 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) nung von Linz als Ziel der Transporte sprechen. Die dortige Heilanstalt Niedernhart fungierte als Zwischenstation für den Weitertransport in die Tötungsanstalt Hartheim, die vor allem für den bayrischen und österreichischen Raum zuständig war. 4. Struktur und Erzählstil des Textes: Den Hauptteil des Textes bildet die Schilderung des Ablaufs der Aktion T4. Gerahmt wird dieser durch eine Einleitung und einen Abschluss, die sich in Erzählstil und Charakteristik vom restlichen Text abheben. Denn nur in diesem Rahmen tritt der Ich-Erzähler auf, gleichzeitig ist von einer emotionalen Bewegung die Rede, die diesen Abschnitten im Gegensatz zum sachlich-nüchternen Stil des Hauptteils eine andere, emotionalere Färbung verleiht. Die Einleitung umfasst die ersten beiden Absätze. Alfred Döblin lässt sie mit folgendem Satz beginnen: Vor einigen Wochen, bei einer Reise ins Land, habe ich eine Geschichte gehört, die ich im großen Ganzen schon kannte, aber die durch ihre Einzelheiten mich berührte, als wäre sie neu. (S.193) Dieser Einstieg bereitet das Setting für die Erzählung, lenkt aber auch die Erwartungen der Leser/innen an die weitere Lektüre. Der Text wird sie mit Geschehnissen konfrontieren, die zu einer emotionalen Herausforderung werden können. Dieser Einleitung entsprechen die letzten drei Absätze des Textes, in denen ebenfalls wieder der Ich- Erzähler in den Vordergrund tritt. Auch die emotionale Färbung des Beginns greift Alfred Döblin in den letzten Sätzen seines Artikels wieder auf: Seine Lippen bebten. Ich vermochte nichts zu sagen. Er griff nach meiner Hand. (S.198) Diese Stelle vermittelt eine tiefe Verbundenheit zwischen dem erzählenden Arzt und dem Ich-Erzähler, die durch das Teilen der so gerahmten Erzählung entstanden ist. Gleichzeitig ist hiermit der Punkt erreicht, zu dem die Leser/innen bei ihrer Lektüre gelangen sollen. In der Einleitung darauf vorbereitet, dass die geschilderten Ereignisse emotional berühren, werden sie am Ende in diese Gefühlsstimmung von Betroffenheit, Schmerz, vielleicht auch Verzweiflung hineingenommen, die durch das Teilen und Mittragen des Leidens hervorgerufen wird. Innerhalb dieses Rahmens befindet sich der stilistisch sachlich-neutral gehaltene Bericht über die Geschehnisse der Aktion T4. Der Aufbau folgt der Chronologie der Ereignisse, wie sie sich aus der Sicht des erzählenden Arztes darstellt. Der Ich-Erzähler tritt völlig hinter die Erzählung seines Gesprächspartners zurück. Nur einmal scheint er in einem wir miteinbegriffen. Interessanter Weise ist auch hier von einem emotionalen Bewegtsein die Rede. Denn der so hervorgehobene Absatz spricht vom Abtransport jener Patient/innen, die sozusagen zum Inventar der Heilanstalt gehörten: Man hat die aufgesammelt, welche seit Jahren durch die Korridore der Häuser gehen oder auf dem Boden sitzen und da vor sich stieren und die manchmal singen, manchmal grell schreien, weinen, greinen und manchmal im Zorn die Scheiben zerschlagen. So ist das Menschengesicht entstellt und noch immer ein Menschengesicht. Wir fassen uns an die Brust. (S.195, Hervorhebung MP) 26

27 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) In diesem Absatz tritt die Grundhaltung des Textes klar hervor: Trotz aller Einschränkungen in körperlicher oder geistiger Hinsicht handelt es sich um Menschen, die daher ein Recht darauf besitzen, menschenwürdig behandelt zu werden. Das Ignorieren dieser Grundannahme, indem Menschen auf Grund ihrer Beeinträchtigungen das Lebensrecht abgesprochen wird, löst Beklemmung und Betroffenheit aus. Nur zwei Mal wird in diesem Hauptteil der sachlich-referierende Erzählstil verlassen. In beiden Fällen handelt es sich um Auseinandersetzungen, bei deren Schilderung das Stilmittel der direkten Rede eingesetzt wird. Zunächst ist dies bei den Beschwerden der Angehörigen der Fall, die die Ärzte und Ärztinnen als Mörder beschimpfen. (Vgl. S.196) Ebenfalls in direkter Rede wird die Konfrontation mit dem jungen Arzt erzählt, der nochmals alle Krankengeschichten überprüft. Dadurch kommt der Konflikt zwischen der persönlichen Haltung des erzählenden Arztes und seiner Verpflichtung, dem Eid auf den Führer zu gehorchen, deutlicher und eindrucksvoller zum Ausdruck. Die direkte Rede lässt in den Leser/innen einen lebendigeren Eindruck von diesen Auseinandersetzungen entstehen und nimmt sie so direkt in das Geschehen hinein. Das gleiche Stilmittel setzt Alfred Döblin dann auch im letzten Abschnitt beim Gespräch auf dem Bahnhof ein, um die Leser/innen in die Gefühlsstimmung der beiden Ärzte zu inkludieren Interpretation Das Setting der Erzählung erinnert an eine Psychotherapie oder in religiöser Terminologie an ein Beichtgespräch. Der ehemalige Kollege kommt täglich wieder, um zu erzählen. Der Grund dafür ist dem Ich-Erzähler zunächst nicht klar. Schnell zeigt sich aber, dass es dem Gesprächspartner wie in einer Therapie oder Beichte - darum geht, sich etwas von der Seele zu reden. Der Halbsatz ich wusste nicht so recht warum (S.193) verweist gleich zu Beginn auf einen tieferen Grund, auf etwas Verborgenes, das wie in einer Psychotherapie erst aufgedeckt werden muss. Dieses Geheimnis verleiht dem Text eine gewisse Spannung und wird schließlich am Ende der Erzählung knapp vor dem Abschied auf dem Bahnhof - aufgelöst. Der erzählende Arzt versucht im Gespräch, die Mitschuld, die ihn am Tod seiner Patient/innen trifft, zu bewältigen. Die Geheimhaltung, die Bedrohung des eigenen Kindes, die erlebte Ohnmacht, wie sie in der Szene mit dem jungen Arzt zum Ausdruck kommt, scheinen schwer auf ihm zu lasten. Erzählen bedeutet hier ein Teilen belastender Erinnerungen, der Ich-Erzähler erweist sich als wohlwollender, anteilnehmender Zuhörer. Er nimmt dem erzählenden Arzt gegenüber die Haltung eines Psychotherapeuten oder gütigen Beichtvaters ein: er lässt seinen Gesprächspartner reden, unterbricht kaum, sodass sich dieser von der Last des Ungesagten, Verschwiegenen befreien kann. Und das therapeutische Gespräch zeigt Wirkung. Beschreibt der Ich-Erzähler seinen Gesprächspartner zunächst als immer leicht beklommen und erregt (S.193), heißt es am Beginn des abschließenden Rahmenteils aber noch vor der endgültigen Auflösung: Es tat ihm wohl, dies erzählt zu haben. Ich verstand nun seine Unruhe und Beklommenheit und warum er mich Tag um Tag aufsuchte. (S.197) Der erzählende 27

28 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Arzt hat einen verständnisvollen, anteilnehmenden Zuhörer gefunden, der ihm einen ersten Schritt in der Bewältigung des Erlebten ermöglicht hat. Diese Haltung des Wohlwollens und der Anteilnahme zeichnet den gesamten Text aus. Denn auch in den sachlich gehaltenen Passagen, die die Geschehnisse der Aktion T4 schildern, zeigt sich eine tiefe Sympathie für die beteiligten Personen. So werden vor allem die Anstaltspatient/innen mit vielen liebevollen Details charakterisiert. Eine für den Abtransport bestimmte Frau wird z.b. folgendermaßen beschrieben: Sehen Sie die Frau, die man aus der Tür auf das Trottoir schiebt. Sie hält den Kopf schief und macht einen spitzen Mund, einen zerdrückten uralten Hut trägt sie auf den grauen wirren Haaren. Die Positur, die sie sofort eingenommen hat, einen Arm fest am Leib, den anderen horizontal gekrümmt vor sich in Augenhöhe, gefällt ihr. Man muss sie Schritt für Schritt vorwärtsschieben, die Stufen zum Auto heraufheben. (S.194f.) Die Aufforderung Sehen Sie (S.194) spricht die Leser/innen direkt an und appelliert an ihr Vorstellungsvermögen. Die liebevoll geschilderten Details leiten die Entstehung des inneren Bildes. Auf diese Weise werden die Rezipient/innen in die Szene des Abtransports hineingenommen. Aber auch den Pfleger/innen gehört Alfred Döblins Sympathie. Er schildert die Kennzeichnung der Patient/innen durch die Beschriftung mit ihrem Namen als etwas Furchtbares (S.196), das dem Pflegepersonal abverlangt wurde und begründet diese Wertung mit der engen Beziehung, die diese zu ihren Schützlingen aufgebaut haben. Die Pfleger und Pflegerinnen sind Menschen, und wenn die Jahre umgehen, sind sie mit den Kranken verwachsen wie mit Verwandten. (S.196) Diese Beschreibung legt eine enge, fast organische Bindung nahe und lässt den Schmerz erahnen, der auch den Pfleger/innen durch die erzwungene Trennung zugefügt wurde zumal sie sich selbst am organisatorischen Ablauf beteiligen mussten. Ebenso viel Verständnis wird den Angehörigen entgegengebracht, die von der Verlegung nicht informiert ihre Angehörigen besuchen wollen, aber diese nicht mehr vorfinden. Weiter wird geschildert, wie sie mit dem Verweis auf die Fliegerangriffe, die diese Veränderungen erzwungen haben, beruhigt werden. Und schließlich beschreibt der Text anschaulich die Empörung mancher, als mit dem Eintreffen der Urnen auf den Friedhöfen durchsickert, womit der Transport der Patient/innen wirklich geendet hat. Wieder verwendet Alfred Döblin das Stilmittel der direkten Rede und durchbricht so die sachlich-neutrale Erzählung. Der anklagende Schrei Mörder! Ihr seid Mörder! (S.196) nimmt die Leser/innen in diese emotional aufgeladene Szene hinein und lässt sie die Empörung direkt erleben. Völlig nüchtern wird dann im folgenden Satz geschildert, wie die Angehörigen zwischen den verschiedenen Instanzen der Bürokratie hin und her geschickt werden, bis sie schließlich aufgeben. Dennoch bleiben die Personen in dieser emotionalen Szene seltsam gesichtslos. Die zweimalige Verwendung von man lässt sowohl die Angehörigen als auch die Ärzte und Ärztinnen in einer anonymen Masse verschwinden. Dies erscheint auffällig, da der Text in der Regel die Akteur/innen des Geschehens konkret benennt. Möglicherweise können die unpersönlichen Formulierungen als Ausdruck der Fremdbestimmung 28

29 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) aller Beteiligten interpretiert werden. Die Ereignisse werden von einer bedrohlichen Bürokratie im Hintergrund bestimmt, die die Personen in der Anstalt zu Spielbällen macht, während deren eigentliche Akteur/innen jedoch unsichtbar und gesichtslos bleiben. Als einzige eindeutig negativ gezeichnete Figur tritt der junge Arzt (S.197) in Erscheinung, der nochmals alle Kranken auf ihre Entbehrlichkeit hin überprüft und mit dem erzählenden Arzt in Konflikt gerät. Ihm wird die zynische Bemerkung in den Mund gelegt: Wir müssen feststellen, ob diese Kranken durch ihre Arbeit fürs Haus wirklich unentbehrlich sind. Es wäre sonst ungerecht gehandelt an denen, die wir schon fortgebracht haben. (S.197) Die Einwände des erzählenden Arztes wischt er mit dem Verweis auf den Willen des Führers zur Seite. Alfred Döblin zeichnet in seinem Text Die Fahrt ins Blaue das Bild einer übermächtigen, kalten Bürokratie, die das Handeln im Gesundheitswesen bestimmt und der die verschiedenen Akteur/innen medizinisches Personal, Patient/innen und Angehörige ohnmächtig ausgeliefert scheinen. Dem entspricht der sachlichreferierende Erzählstil des Hauptteils, der in krassem Widerspruch zum erzählten Geschehen, der massenhaften Tötung unschuldiger Menschen, steht. Hier fehlt jegliche emotionale Beteiligung. Stattdessen regieren die Kategorien, nach denen der Lebenswert eines Menschen bemessen wird und die sich letztlich an kalten Kosten-Nutzen-Rechnungen orientieren. Emotionen kommen in dieser sachlich-nüchternen Darstellung nur ins Spiel, wo Menschen mit diesem unmenschlichen System direkt in Konflikt kommen wie z.b. in der Auseinandersetzung der Angehörigen mit den Ärzten und Ärztinnen, nachdem diese vom wahren Ende der Verlegungen erfahren haben. Aber selbst in dieser Situation erscheint die NS-Bürokratie übermächtig, die berechtigte Empörung versickert im Instanzengewirr. Etwas anders verläuft die Auseinandersetzung mit dem jungen Arzt. Denn hier bekommt die bedrohliche Bürokratie des Gesundheitswesens plötzlich ein konkretes Gesicht. Dementsprechend wird er kalt, emotionslos und zynisch gezeichnet. Er handelt auf Grundlage der NS-Ideologie, die die Vernichtung lebensunwerten Lebens fordert, und ist gewillt, dieses Ziel zu erreichen. Als Rechtfertigung dient ihm eine völlig verschobene Gerechtigkeitsvorstellung, die Töten gebietet, weil man bereits andere getötet hat. Dass dieser junge Arzt quasi als Verkörperung des NS-Regimes fungiert, zeigt sich auch in seinem Verweis auf den Willen des Führers als die höchste Instanz, die ihn jeder weiteren Notwendigkeit zu argumentieren enthebt. Alfred Döblins Sympathie gilt hingegen eindeutig dem medizinischen Personal, den Patient/innen und den Angehörigen. Diese erscheinen jedoch ohnmächtig und fremdbestimmt. Mit der liebevollen Charakterisierung der Patient/innen unterstreicht Alfred Döblin seine Grundhaltung, dass es sich um Menschen handelt mit einem Recht auf menschenwürdige Behandlung. Dennoch haben sie in der Erzählung keine eigene 29

30 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Stimme. Über sie wird entschieden von einer übermächtigen Bürokratie, deren Entscheidungsträger zumeist unsichtbar bleiben, und vom medizinischen Personal, das sich den Anordnungen fügt und die Maßnahmen durchführt. Die Angehörigen dürfen zwar ihre Empörung angesichts der Tötung ihrer Lieben äußern, bleiben aber ebenso ohnmächtig, ruhiggestellt durch vorgeschobene Gründe oder erschöpft durch den bürokratischen Dschungel, durch den sie geschickt werden. Den größten Raum erhält die Auseinandersetzung des erzählenden Arztes mit dem Repräsentanten der übergeordneten Instanzen des NS-Gesundheitswesens, dem jungen Arzt. Wieder wird der Konflikt mit dem Mittel der direkten Rede präsentiert. Die bis dahin gesichtslose NS-Bürokratie erhält nicht nur Gesicht, sondern auch Stimme. Die Art und Weise, wie Alfred Döblin dieses Streitgespräch gestaltet, spiegelt die Machtverteilung zwischen den beiden Kontrahenten. Denn nur der junge Arzt kommt wirklich zu Wort, seine Argumente werden in direkter Rede wiedergegeben. Die Frage des Gesprächspartners, wozu das wäre (S.197), wird immerhin noch in indirekter Rede gestellt, bei seiner Erwiderung wird ihm bereits das Wort abgeschnitten und schließlich verstummt er ganz. Also bleiben auch am Ende dieser Konfrontation nur Ohnmacht und ein wenn auch widerwilliges Sich-Fügen. Letztlich ist es der Wille des Führers nicht hinterfragbar und letztgültig -, der das System trägt und zusammenhält und dem sich auch der kurz aufbegehrende Arzt fügt: Da konnte ich nichts sagen; ich war auf ihn vereidigt. (S.197) Somit kann der erzählende Arzt auch als Repräsentant jener gelesen werden, denen das Verbrecherische dieses Handelns klar war, die dann aber dem Eid, den sie auf den Führer abgelegt hatten, doch eine höhere Wertigkeit zumaßen als der Einsicht ihres Gewissens. Auf diese Weise in ein verbrecherisches System verstrickt, blieb ihnen keine Wahl als das Euthanasie-Programm mitzutragen. Dieser Abschnitt scheint somit eine Schlüsselstelle des Textes zu sein. In ihm tritt die ohnmächtige Situation des erzählenden Arztes angesichts einer unmenschlichen Bürokratie, in die er zugleich eingebunden ist, deutlich hervor. 3.3 Alfred Döblins Fahrt ins Blaue (k)ein kollektiver Text? Im letzten Abschnitt des dritten Kapitels soll nun geklärt werden, ob es sich bei Alfred Döblins Die Fahrt ins Blaue um einen kollektiven Text im Sinn von Astrid Erll handelt. Birgit Neumann weist darauf hin, dass die Bedeutung literarischer Texte in der Erinnerungskultur immer vor dem Hintergrund kultur- und epochenspezifischer Wirklichkeitsmodelle gesehen werden muss. 11 Auch Alon Confino betont, dass die Rezeption eines literarischen Textes nur in Beziehung zur Mentalitätsgeschichte betrachtet werden kann. Denn erst durch diese kann die zentrale Frage bzgl. der Erinnerungskultur beantwortet werden: 11 Vgl. Neumann, Literatur, S

31 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) And it emphasizes that the crucial issue in the history of memory is not how a past is represented, but why it was received or rejected. For every society sets up images of the past. Yet to make a difference in a society it is not enough for a certain past to be selected. It must steer emotions, motivate people to act, be received; in short it must become a socio-cultural mode of action. 12 Um zu klären, warum ein bestimmter literarischer Text vom Publikum rezipiert bzw. nicht entsprechend rezipiert wurde, muss somit der zeitgeschichtliche und sozialgeschichtliche Zusammenhang beleuchtet werden. Daher soll in diesem Kapitel zunächst der Kontext erläutert werden, in dem Alfred Döblin seinen Text verfasst und publiziert hat. Danach wird das Verhältnis der Justiz, der Medizin und der Öffentlichkeit zum Thema NS-Euthanasie beleuchtet und schließlich der Text in diese Zusammenhänge eingeordnet Der Kontext der Erzählung Nach seiner Rückkehr aus dem Exil ließ sich Alfred Döblin in der französischen Besatzungszone nieder. Vor seiner Auswanderung in die USA hatte er in Frankreich gelebt und 1936 die französische Staatsbürgerschaft angenommen. Zwei seiner Söhne hatten in der französischen Armee gegen Deutschland gekämpft, einer war 1940 in den Vogesen gefallen und wurde dort begraben. Vermutlich war dies ein wesentlicher Grund, warum Alfred Döblin nicht nach Berlin zurückkehrte, sondern sich in Baden-Baden niederließ. Zunächst arbeitete er als Kulturoffizier in der Umerziehungsabteilung der französischen Besatzungsmacht. In seinem autobiografischen Werk Schicksalsreise beschreibt er die Situation der Deutschen nach Ende des Nazi-Regimes folgendermaßen: Denn wie ich schon sagte, hier lebt unverändert ein arbeitsames, ein ordentliches Volk. Sie haben, wie immer, einer Regierung, so zuletzt dem Hitler pariert, und verstehen im Großen und Ganzen nicht, warum Gehorchen diesmal schlecht gewesen sein soll. Es wird viel leichter sein, ihre Städte wieder aufzubauen, als sie dazu zu bringen, zu erfahren, was sie erfahren haben, und zu verstehen, wie es kam. 13 So veröffentlichte Alfred Döblin während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses die politische Aufklärungsbroschüre Der Nürnberger Lehrprozess allerdings unter dem Pseudonym Hans Fiedeler. Zentrales Anliegen war es, breitenwirksam über das Geschehene wie die Funktion des Prozesses zu informieren. Weiters sollten die Leser/innen von dessen ethischer Rechtfertigung überzeugt werden. Nach Thorsten Hahn stand auch die Verwendung eines Pseudonyms im Dienste dieses Programms. Denn indem der Text eine Stimme der inneren Emigration nachahmt, kann der Autor auf das wir zurückgreifen, was den Abstand zwischen dem Remigranten Alfred Döblin und den Leser/innen bedeutend reduzierte und so die Chance auf eine entsprechende Rezeption vergrößerte. Denn die Deutschen sollten das Geschehene akzeptieren und es aktiv verantworten. 14 Allerdings war Alfred Döblin selbst trotz des Verkaufs von Exemplaren seiner Broschüre von dieser pädagogischen Wirkung nicht überzeugt. So schrieb er im Journal 1952/53 im Abschnitt Ich kannte die Deutschen: Hatten die Hefte eine Wirkung? Mir scheint: kaum. Sie 12 Alon Confino: Memory and the History of Mentalities. - In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Berlin, New York: 2008, S.77-84, S.81 (= Media and Cultural Memory / Medien und kulturelle Erinnerung; 8). 13 Döblin, Schicksalsreise, S Vgl. Torsten Hahn: Politische Schriften. In: Sabina Becker (Hg.): Döblin-Handbuch. Leben Werk Wirkung. Stuttgart: 2016, S , S.202f. [In Folge zitiert als Hahn, Politische Schriften]. 31

32 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) hatten vielleicht eine entgegengesetzte Wirkung und wurden darum so gekauft, nämlich wegen ihrer Bilder, der Photos der Hauptakteure in diesem Prozeß. 15 Hans-Dieter Heilmann vermutet, dass auch die Publikation Die Ermordeten waren schuldig? Amtliche Dokumente der Direction de la Santé Publique der französischen Militärregierung, die 1946 in Baden-Baden erschien und Dokumente sowie Untersuchungsergebnisse über das Morden in den psychiatrischen Kliniken der französischen Besatzungszone enthielt, auf das Wirken Alfred Döblins als französischer Besatzungsoffizier zurückging. 16 Hans-Walter Schmuhl hingegen gibt Robert Poltrot als Autor dieser Studie an. 17 Dass Alfred Döblin das NS-Euthanasieverbrechen in den psychiatrischen Anstalten am Beginn des Zeitungsartikels als eine Geschichte [ ], die ich im großen Ganzen schon kannte (S.193) bezeichnet, legt nahe, dass er sich mit diesem Thema bereits beschäftigt hatte. Es kann somit vermutet werden, dass auch hinter der Veröffentlichung des Textes Die Fahrt ins Blaue das pädagogische Motiv stand, die Deutschen mit den Geschehnissen während des Nationalsozialismus zu konfrontieren und so ein Lernen aus der Geschichte zu initiieren. Torsten Hahn sieht dieses Ziel auch in den verwendeten Stilmitteln, die die Leser/innen direkt in das Geschehen hineinnehmen sollen: Der Erzähler gibt diese Beichte direkt wieder, auf die Inquit-Formel wird nur am Anfang und am Schluss zurückgegriffen, was den Grad der Vermittlung reduziert und die Distanz von Leser und berichtetem Geschehen aufhebt. Der Text konfrontiert mit dem verübten Grauen; er will den Leser affizieren bzw. Mechanismen der Verleugnung oder Ignoranz durchbrechen. 18 Allerdings schienen Alfred Döblins Bemühungen ins Leere zu gehen. An seinen Landsleuten bemerkte er, dass sich die nationalsozialistische Propaganda auch nach dem Sturz des Regimes weiter auswirkte. In der Schicksalsreise beschreibt er die Situation in Deutschland folgendermaßen: Die Menschen sind dieselben, die ich 1933 verließ. [ ] Neu ist mir eine gewisse geistige Schwerfälligkeit. Sie sind wie eingerostet. Sie verfügen über ein kleines Repertoire an Vorstellungen, das man ihnen eingeprägt hat, und damit arbeiten sie, und man kann sie schwer daraus ziehen. Das hat das Regime hinterlassen. Und darum prallen von ihnen auch alle Aufrufe ab, die man an sie richtet, und die Broschüren zur Aufklärung wirken darum kaum und werden ablehnend und empört gelesen, als wenn der Diktator noch im Lande wäre. Und darum kann man auch bei Diskussionen über die Schuldfrage mit ihnen nicht weiter kommen. Darum sperren sie sich auch gegen politische Unterhaltungen mit Leuten, die eine andere Auffassung haben. Sie sind verstört, gequält und wollen zufrieden gelassen sein. Wie begreiflich Alfred Döblin: Journal 1952/53. In: Alfred Döblin: Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen. Olten, Freiburg/Br.: 1980, S , S.491 (= Alfred Döblin: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Hrsg. Anthony W. Riley; 19) [In Folge zitiert als Döblin, Journal]. 16 Vgl. Hans-Dieter Heilmann: Döblins Fahrt ins Blaue. In: Wolfgang Ayaß u.a.: Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik. Berlin: 1988, S , S.208 (= Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik; 6) [In Folge zitiert als Heilmann, Fahrt]. 17 Vgl. Hans-Walter Schmuhl: Die Patientenmorde. In: Angelika Ebbinghaus / Klaus Dörner (Hg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen. Berlin: 2000, S , S.296 Anm. 2. (S.563) [In Folge zitiert als Schmuhl, Patientenmorde]. 18 Hahn, Politische Schriften, S Döblin, Schicksalsreise, S

33 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Durch diese Nachwirkungen der vom Nationalsozialismus vorgegebenen Denkschemata, die kollektive Desorientierung und die Sorge um das alltägliche Überleben werden die Menschen aber auch für die pädagogischen Maßnahmen der Aliierten unerreichbar. Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden so weit wie möglich ausgeblendet. 20 In seinem Journal 1952/53 zeichnet er schließlich im Abschnitt Ich kannte die Deutschen ein ernüchterndes Bild von seinen ehemaligen Landsleuten: Ich suchte mich zu informieren, ich suchte nach einem überzeugten Nazi und traf keinen. Wen auch immer ich sprach: er wußte nichts, er wußte von nichts, er leugnete, bemäntelte und verschwieg. 21 Bereits der Titel des Abschnitts zeigt die Entfremdung zwischen dem Remigranten Alfred Döblin und seinen Landsleuten an. Für Sabine Kyora wird hier gleichzeitig ein Bruch in der Lebensgeschichte des Autors deutlich, der es nicht mehr schafft, an sein Leben vor dem Exil anzuschließen. In der ihm fremd gewordenen Heimat wiederholt sich nun die Erfahrung des Exils. Wahrscheinlich zeigt sich hier auch die unschließbare Lücke zwischen Döblins Leben in Deutschland vor 1933, seinem Wissen um den NS und seine Verbrechen, und dem Deutschland nach Ich kannte die Deutschen vor 1933, schreibt er und kann nicht erklären, was danach mit ihnen passiert ist. Dazu kommt der Eindruck, dass die Deutschen auch kaum ansprechbar sind. 22 Nur einmal - schreibt Alfred Döblin - hat ein Deutscher ihm gegenüber sein Schweigen gebrochen jener Arzt, der dem Autor von der Euthanasie-Aktion in den deutschen Pflege- und Heilanstalten erzählte. Dementsprechend heißt es weiter im Journal: Ein einziges Mal traf ich einen Verräter, das war ein Arzt, der erklärte, mich von den Berliner Anstalten her zu kennen. Unaufgefordert begann er mir zu erzählen, wie die Nazis bei Kriegsbeginn vorgegangen seien, um sich der chronisch Kranken, der unheilbar Geisteskranken zu entledigen. Er erzählte grauenhafte Details. Er gab mir einiges am Schluß noch schriftlich. Ich habe Stücke aus seinem Bericht zu einem Zeitungsartikel zusammengestellt, - ich schickte den Aufsatz an eine badische Zeitung, es brauchte Monate über Monate, bis sich die Zeitung dazu entschloß, den Artikel zu drucken. 23 Nach Götz Aly war Die Fahrt ins Blaue bis 1988 der einzige Text in Deutschland, in dem die Vorgänge während der sogenannten Aktion T4 öffentlich thematisiert wurden. 24 Auch wenn es - wie im folgenden Kapitel gezeigt wird bereits ab 1945 Literatur im Umfeld der Psychiatrie zu diesem Thema gab, handelt es sich bei diesem Text um eine frühe literarische Aufarbeitung, die über das Medium Zeitung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich war Thematisierung der NS-Euthanasie in der Nachkriegszeit Nach dem Zusammenbruch einer jeden diktatorischen politischen Ordnung stellt sich die Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit, d.h. die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, der Verstrickung einzelner und ganzer Gruppen in das Unrecht, aber auch die Notwendigkeit der Integration, Versöhnung und 20 Vgl. auch Sabine Kyora: Ich kannte die Deutschen. Alfred Döblins Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust. In: Christine Maillard / Monique Mombert (Hg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Strasbourg Der Grenzgänger Alfred Döblin, Biographie und Werk. Bern: 2006, S , S.190 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A; 75) [In Folge zitiert als Kyora, Die Deutschen]. 21 Döblin, Journal, S Kyora, Die Deutschen, S Döblin, Journal, S.490f. 24 Vgl. Aly, Belasteten, S

34 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Wiedergutmachung. Voraussetzung für ein gutes Gelingen solcher Prozesse sind nach Peter Steinbach die Anerkennung von Verantwortung und die Einsicht in Schuld. 25 Daher ist es notwendig, in einem nächsten Schritt die Auseinandersetzung mit den NS-Medizinverbrechen in den Bereichen Justiz, Medizin und Öffentlichkeit zu klären. 1. Aufarbeitung in der Justiz: Nach Peter Steinbach beruht der Vorwurf, die Justiz habe bei der Aufarbeitung der NS-Gewaltverbrechen versagt, vor allem auf den Erfahrungen in drei Bereichen: 26 Die langsame Ahndung der Medizinverbrechen, die fast vollständige Entlastung der Täter in der Justiz und die geringe Bestrafung der Führungsschichten der Wirtschaft und des Staates. Für die Ahndung der Euthanasie-Verbrechen waren in Österreich die Volksgerichte 27 zuständig, die von 1945 bis 1955 bestanden. Vor diesen fanden auch die Euthanasie-Prozesse der Jahre 1946 bis 1950 statt: 28 Der Prozess gegen Dr. Niedermoser und Pflegepersonal des Landeskrankenhauses Klagenfurt (1946), das Spiegelgrund-Verfahren in Wien (1946), das Hartheim/Niedernhart-Verfahren in Linz (1947) und das Gugging/Mauer-Öhling-Verfahren in Wien (1948). Weiters fand in Wien 1949 ein Verfahren gegen einen Arzt aus Hohenberg bei Lilienfeld statt, der sechs Patient/innen getötet hatte. In Innsbruck musste sich ein Arzt wegen der Auslieferung von Kranken an die Tötungsanstalt Hartheim verantworten. Ein generelles Problem dieser Prozesse war, dass in den meisten Fällen die Haupttäter fehlten. Diese hatten sich der Verfolgung durch Suizid oder Flucht entzogen bzw. waren bei Kriegsende bereits tot Vgl. Peter Steinbach: NS-Prozesse in der Öffentlichkeit. In: Claudia Kuretsidis-Haider / Winfried R. Garscha (Hg.): Keine Abrechnung. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach Leipzig, Wien: 1998, S , S.397f. [In Folge zitiert als Steinbach, NS-Prozesse]. 26 Für das Folgende vgl. Steinbach, NS-Prozesse, S Bei diesen handelte es sich um Schöffengerichte, die aus zwei Berufsrichter/innen und drei Laien bestanden. Sie alle mussten politisch unbelastet sein. Die Volksgerichte urteilten zunächst in erster und einziger Instanz, nach dreimonatiger Erfahrung mit der Arbeit der Wiener Volksgerichte wurde die Möglichkeit einer Prüfung durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs eingeführt. Vgl. Winfried R. Garscha / Claudia Kuretsidis-Haider: Die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen eine Einführung. In: Thomas Albrich / Winfried R. Garscha / Martin F. Polaschak (Hg.): Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich. Innsbruck, Wien, Bozen: 2006, S.11-25, S.19f. [In Folge zitiert als Garscha/Kuretsidis-Haider, Strafrechtliche Verfolgung]. 28 Einen Überblick über die einzelnen Verfahren, ihren Verlauf und ihre Urteile geben Martin Achrainer / Peter Ebner: Es gibt kein unwertes Leben. Die Strafverfolgung der Euthanasie -Verbrechen. In: Thomas Albrich / Winfried R. Garscha / Martin F. Polaschak (Hg.): Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich. Innsbruck, Wien, Bozen: 2006, S [In Folge zitiert als Achrainer/Ebner, Kein unwertes Leben]. 29 Vgl. Achrainer/Ebner, Kein unwertes Leben, S

35 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) 1950 wurde schließlich das Verfahren gegen Heinrich Gross eröffnet, das nach Martin Achrainer und Peter Ebner das unrühmliche Ende der `Euthanasie-Verfahren 30 darstellte. Nachdem der Oberste Gerichtshof das Urteil mit einer Strafe von zwei Jahren aufgehoben hatte, wurde das Verfahren 1951 eingestellt. Dr. Heinrich Gross, der als Leiter des Spiegelgrunds und als Gerichtsgutachter in der Zweiten Republik Karriere gemacht hatte, wurde ab 1979 in der öffentlichen Wahrnehmung schließlich zur Symbolfigur für jene NS-Täter/innen, die es sich gerichtet hatten. Das 1997 eröffnete Verfahren wurde 2000 wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten unterbrochen und nach dessen Tod eingestellt wurde in Folge des großen Frankfurter Euthanasie-Prozesses ein neues Hartheim-Verfahren in Linz eröffnet. Denn mittlerweile waren auch die engen Zusammenhänge zwischen der Aktion T4 und der Aktion Reinhardt bekannt geworden. Allerdings führten diese Ermittlungen zu keinen strafrechtlichen Ergebnissen. 31 In ihrer Bilanz schreiben Martin Achrainer und Peter Ebner, dass die Praxis der Euthanasie-Verfahren vor den Volksgerichten relativ einheitlich ausfiel. Die meisten Urteile wurden strafrechtlich wegen Mord bzw. Beihilfe zum Mord gefällt. Die Gerichte ließen weder die Berufung auf die Ermächtigung durch Adolf Hitler noch auf die geheimen Runderlässe des Reichsinnenministeriums zu. Das Strafausmaß schwankte zwischen zwei Jahren und dem Todesurteil, wobei die höchsten Strafen 1946 ausgesprochen wurden, generell aber bis 1949 immer wieder hohe Strafen verhängt wurden. Nach den beiden Autoren liegt das größte Versäumnis dieser ersten Jahre weniger in Fehlurteilen als darin, dass Verfahren vorschnell eingestellt wurden. 32 Die Euthanasie-Verfahren bildeten mit fünf Todesurteilen und elf Strafen zwischen zehn und 20 Jahren einen deutlichen Schwerpunkt in der österreichischen Volksgerichtsbarkeit. In dieser Phase gab es nach Claudia Kuretsidis-Haider auch die intensivste justizielle Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Die Abschaffung der Volksgerichte 1955 und die NS-Amnestie 1957 führten zur Einstellung noch offener Verfahren und zur zunehmenden Bagatellisierung von NS-Verbrechen. 33 In Deutschland wurde der Großteil der Verfahren wegen NS-Gewaltverbrechen vor Gerichten der Alliierten verhandelt. Eine Ausnahme unter den Medizinverbrechen bildete die NS-Euthanasie, für die die deutschen Gerichte zuständig waren. Angeklagt wurden jene, die direkt mit den Tötungen zu tun hatten Ärzte und Ärztinnen, Pflege- und Verwaltungspersonal. Mitarbeiter/innen der zentralen Behörden blieben so gut wie unbehelligt. Ähnlich wie in Österreich kam es auch hier nach 1950 zu einem Rück- 30 Achrainer/Ebner, Kein unwertes Leben, S Vgl. Achrainer/Ebner, Kein unwertes Leben, S.78f. 32 Vgl. Achrainer/Ebner, Kein unwertes Leben, S Vgl. Claudia Kuretsidis-Haider: NS-Verbrechen vor österreichischen und bundesdeutschen Gerichten. In: Thomas Albrich / Winfried R. Garscha / Martin F. Polaschak (Hg.): Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich. Innsbruck, Wien, Bozen: 2006, S , S.332f. [In Folge zitiert als Kuretsidis-Haider, NS-Verbrechen]. 35

36 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) gang der Verfahren und Verurteilungen. Erst mit der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung Ludwigsburg und der Tätigkeit des Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer begann in Deutschland eine neue Phase intensiverer justizieller Aufarbeitung Thematisierung in der Medizin: Nach Klaus Dörner war den Ärzten und Ärztinnen aus den Anstalten und Landeskrankenhäusern, die am Euthanasieprogramm beteiligt waren, durchaus bewusst, dass sie in Verbrechen verstrickt waren. In keinem anderen NS-Verbrechensbereich haben so viele Täter in der sogenannten Stunde Null oder kurz danach den Ausweg des Suizids gewählt. Die anderen zeichneten sich nach 1945 durch eine permanente Verteidigungshaltung aus, als ob sie sich vor Gericht befänden und das, obwohl die meisten ihre Karriere fast ungehindert fortsetzen konnten. 35 Innerhalb der Medizin, so stellt Sascha Topp in seiner Studie Geschichte als Argument in der Nachkriegsmedizin fest, hat es von 1945 an eine Thematisierung der NS-Euthanasie gegeben. Auch wenn das Angebot an Literatur in den 50er-Jahren begrenzt war, waren die entsprechenden Informationen der Öffentlichkeit prinzipiell zugänglich. 36 So erschien noch während des Ärzteprozesses in Nürnberg 1946/47 die Dokumentation Das Diktat der Menschenverachtung von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke. Die beiden Autoren waren Mitglieder der deutschen Ärztekommission, die im Auftrag der westdeutschen Ärztekammer den Prozess beobachten und Bericht erstatten sollten. Jürgen Peter zeigt anhand der Stellungnahmen der medizinischen Fakultäten Freiburg und Göttingen, dass mit der Tätigkeit dieser Kommission von Anfang an die Hoffnung verbunden war, die Ergebnisse würden die deutsche Ärzteschaft von einer Kollektivschuld freisprechen, indem sie zeigten, dass nur eine kleine nationalsozialistisch gesinnte Gruppe in die Verbrechen verwickelt gewesen, der Großteil des Berufsstandes aber seiner humanistischen Gesinnung treu geblieben wäre. 37 In Fachkreisen fand die Broschüre durchaus Beachtung, in die Öffentlichkeit gelangte sie allerdings kaum. Maßgebliche Personen in der Ärztekammer sahen die Gefahr, dass die Veröffentlichung das Vertrauen zwischen Ärzten bzw. Ärztinnen und Patient/innen untergraben könnte. Auch kam es zu Klagen gegen die Autoren und den Verlag, weil manche die Nennung ihres Namens im Zusammenhang mit den NS-Medizinverbrechen unterbinden wollten Vgl. Kuretsidis-Haider, NS-Verbrechen, S.334 und Vgl. Klaus Dörner: NS-Medizin und die Stunde Null. Der Blick auf die Opfer, Täter und Einrichtungen nach In: Alfred Fleßner u.a. (Hg.): Forschungen zur Medizin im Nationalsozialismus. Vorgeschichte Verbrechen Nachwirkungen. Göttingen: 2014, S , S.136 (= Schriftenreihe der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten; 3). 36 Vgl. Sascha Topp: Geschichte als Argument in der Nachkriegsmedizin. Formen der Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Euthanasie zwischen Politisierung und Historiographie. Göttingen: 2013, S.49 (= Formen der Erinnerung; 53) [In Folge zitiert als Topp, Geschichte]. 37 Vgl. Jürgen Peter: Die von Alexander Mitscherlich, Fred Mielke und Alice von Platen vorgenommene Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses. In: Stephan Braese / Dominik Groß (Hg.): NS-Medizin und Öffentlichkeit. Formen der Aufarbeitung nach Frankfurt / New York: 2015, S.17-55, S [In Folge zitiert als Peter, Dokumentation]. 38 Vgl. Peter, Dokumentation, S

37 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) 1949 veröffentlichten Alexander Mitscherlich und Fred Mielke die Dokumentationsschrift Wissenschaft ohne Menschlichkeit, die Auflage betrug Exemplare und sollte vorrangig über die Ärztekammern an ihre Mitglieder abgegeben werden. In den Buchhandel gelangten nur wenige 100 Exemplare, die großen öffentlichen Bibliotheken wie z.b. die Deutsche Bibliothek in Frankfurt erhielten keine Belegexemplare. Somit blieb die Publikation sowohl der Ärzteschaft wie auch der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. 39 Immerhin ermöglichten die beiden Veröffentlichungen 1951 die Aufnahme der deutschen Ärzteschaft und ihrer Standesvertretung in den Weltärztebund. Denn sie wurden von diesem als Zeichen der Distanzierung und kritischen Reflexion der Medizinverbrechen in der NS-Zeit gewertet. 40 Ein ähnliches Schicksal widerfuhr auch der 1948 erschienenen Monographie Die Tötung Geisteskranker in Deutschland von Alice von Platen, die sich mit der NS-Euthanasie befasste. Die Autorin war ebenfalls Mitglied der Ärztekommission beim Nürnberger Ärzteprozess gewesen und stützte sich in ihrer Arbeit auf die dort eingesehenen Dokumente. 41 Ulrich Trenckmann nennt noch den Aufsatz Euthanasie und Menschenversuche von Viktor von Weizsäcker aus dem Jahr 1948 und das Buchmanuskript Selektion in der Heilanstalt des Psychiaters Gerhard Schmidt, das dieser an der Medizinischen Fakultät in Hamburg als Habilitationsschrift eingereicht hatte, wo es schließlich verschwand. Erst 1965 konnte ein Verleger für das Werk gewonnen werden. 42 Rolf Forsbach verweist weiters auf den Sammelband Um die Menschenrechte der Geisteskranken, der vom Psychiater und Medizinhistoriker Werner Leibbrand 1946 in Nürnberg herausgegeben wurde. Dieser war als einziger deutscher Arzt als Gutachter am Nürnberger Prozess beteiligt. 43 Eine ausführliche Darstellung der Konflikte um die Publikation findet sich in Jürgen Peter: Unmittelbare Reaktionen auf den Prozess. In: Angelika Ebbinghaus / Klaus Dörner (Hg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen. Berlin: 2000, S [In Folge zitiert als Peter, Reaktionen]. 39 Vgl. Peter, Dokumentation, S.44f. Was mit den von den Ärztekammern aufgekauften Exemplaren wirklich geschehen ist, ist bis heute unklar. Für Ralf Forsbach erscheint die These, die Standesvertretungen hätten das Buch unterdrückt, zunehmend unwahrscheinlicher. Nach der Auflage von 1949 bestand keine Nachfrage, man wollte sich mit dem Thema nicht auseinandersetzen. Aus diesem Grund war eine aktive Unterdrückung nicht notwendig. Vgl. Ralf Forsbach: Die öffentliche Diskussion der NS-Medizinverbrechen. In: Stephan Braese / Dominik Groß (Hg.): NS-Medizin und Öffentlichkeit. Formen der Aufarbeitung nach Frankfurt, New York: 2015, S , S.107 [In Folge Forsbach, Diskussion] wurde die Dokumentation mit dem Titel Medizin ohne Menschlichkeit als Fischer-Taschenbuch neu aufgelegt. 40 Vgl. Peter, Dokumentation, S.46. Ebenso Peter, Reaktionen, S.452 und Vgl. Peter, Dokumentation, S Vgl. Ulrich Trenckmann: Nach Hadamar. Zur Rezeption der NS-Vergangenheit durch die deutsche Psychiatrie. In: Franz-Werner Kersting / Karl Teppe / Bernd Walter (Hg.): Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Paderborn: 1993, S , S.274 [In Folge zitiert als Trenckmann, Hadamar]. 43 Vgl. Forsbach, Diskussion, S

38 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Ebenfalls zu den frühen Auseinandersetzungen zählt die bereits erwähnte Studie von Robert Poltrot Die Ermordeten waren schuldig? (1945), die von der französischen Militärregierung herausgegeben wurde. 44 Diese Veröffentlichungen führten jedoch nicht zu einer breiten Thematisierung der NS-Medizin in der Öffentlichkeit. Und so urteilen Stefanie Westermann, Tim Ohnhäuser und Richard Kühl über die Haltung der Psychiatrie zu den NS-Medizinverbrechen: Trotz der bekannten, erstmals 1948 veröffentlichten Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke sollte es noch knapp drei Jahrzehnte dauern, bevor sich die (medizin)historische Forschung näher mit den Euthanasie -Morden befasste. Die Psychiatrie selbst brauchte Jahrzehnte, um sich der eigenen Vergangenheit selbstkritisch zu stellen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) hat sich erst jetzt, 65 Jahre nach Kriegsende für die Verbrechen ihrer Kollegen im Nationalsozialismus entschuldigt, und ein Forschungsprojekt initiiert, welches sich der Rolle der psychiatrischen Fachgesellschaften im Dritten Reich annimmt. 45 Sascha Topp greift zur Periodisierung der Auseinandersetzung der Medizin mit der NS-Euthanasie auf das Modell von Volker Roelcke zurück. Dieser geht in den ersten Nachkriegsjahren von einer Phase der breiten Konfrontation und offenen Analyse aus, die eng mit den ersten Ärzteprozessen verbunden war. Die entsprechenden Studien verschwanden jedoch schnell aus der Öffentlichkeit und waren in den 50er- und 60er-Jahren weitgehend vergessen. Für die Zeit danach unterscheidet er drei Paradigmen, d.h. Interpretationsmuster, die mit spezifischen Geschichtsbildern bzw. Modi der Erinnerung verbunden sind: 46 a) Isolationsparadigma (The Isolation Paradigm): In den 1960er-Jahren verfassten Vertreter der Psychiatrie veranlasst durch Nachfragen ausländischer Kolleginnen und Kollegen sowie eigener Student/innen erste historische Darstellungen zum Thema. Diese beruhten auf eigenen Erinnerungen die Autoren hatten die NS-Zeit als junge Ärzte erlebt -, zeitgenössischen Quellen und teilweise auch Prozessunterlagen. Diese Darstellungen vereint der Versuch, die eigene Vergangenheit isoliert zu betrachten. D.h. die NS-Zeit wird aus dem Entwicklungszusammenhang wie z.b. den Euthanasie-Debatten vor 1933 und den medizinethischen Problematisierungen zum ungeborenen Leben nach 1945 herausgelöst. Die Psychiatrie selbst wird entlastet, die Schuld dem Staats- und Parteiapparat zugeschoben, der die Umsetzung der Euthanasie erzwungen hätte. Überzeugungstäter/innen hätte es kaum gegeben. Das Leiden der Patient/innen und deren Angehörigen wird nur vereinzelt thematisiert, die Forderung der Betroffenen nach erinnerungspolitischer Anerkennung und Wiedergutmachung erhielt keine Unterstützung. 44 Vgl. Schmuhl, Patientenmorde, S.296 Anm. 2. (S.563). 45 Stefanie Westermann / Tim Ohnhäuser / Richard Kühl: Euthanasie Verbrechen und Erinnerung. In: Stefanie Westermann / Tim Ohnhäuser / Richard Kühl (Hg.): NS- Euthanasie und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung Gedenkformen Betroffenenperspektiven. Berlin: 2001, S.7-15, S.7f. (= Medizin und Nationalsozialismus; 3). 46 Volker Roelcke: Trauma or Responsibility? Memories and Historiographies of Nazi Psychiatry in Postwar Germany. In: Austin Sarat / Nadav Davidovich / Michal Alberstein (ed.): Trauma and Memory. Reading, Healing and Making Law. Stanford: 2007, S , S

39 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Zentrales Motiv im Isolationsparadigma ist offensichtlich die Selbstentschuldung der Nachkriegspsychiatrie und deren Akteur/innen, die sich vor dem Vorwurf einer Kollektivschuld und dem damit verbundenen Ansehensverlust schützen wollten. b) Kontinuitätsparadigma (The Continuity Paradigm): In den 1970er-Jahren stand die erneute Auseinandersetzung mit dem Thema im Kontext der Diskussionen um eine Psychiatriereform. Nun wurde nach den langfristigen Entwicklungslinien gefragt, gegenwärtige Missstände in der Psychiatrie wurden auf die NS-Zeit zurückgeführt. Dementsprechend wurden die personellen, institutionellen und konzeptionellen Kontinuitäten von vor 1933 und über 1945 hinaus hervorgehoben. Das Leid der Betroffenen rückte in den Mittelpunkt und eine verstärkte historische Aufarbeitung des Themas begann. Die Psychiatrie selbst rückte aus dem Opferstatus in die Rolle der Initiatorin und aktiv Beteiligten, die maßgeblich für die NS-Euthanasie verantwortlich zeichnet. Mit dem Aufzeigen der Kontinuitäten konnte die fundamentale Kritik an den zeitgenössischen Verhältnissen in der Psychiatrie gerechtfertigt werden. c) Komplex-lokalisierendes bzw. lokalisierend-kontextuales Paradigma (The Complex-localizing Paradigm): Mit Ende des Kalten Krieges 1989/90 entstand eine neue Interpretation der NS-Vergangenheit. Im Zentrum des Interesses stand nun die lokale Praxis sowie das implizite Rationalitätsdenken der Akteur/innen. Trotz der langfristigen Entwicklungslinien (Paradigma 2) und des politischen Drucks (Paradigma 1) gab es auf lokaler Ebene Handlungsspielräume, die verschieden genutzt wurden. Somit rückten die Besonderheit und die Komplexität der jeweiligen lokalen Gegebenheiten in den Vordergrund. Hier lassen sich die Motive schwieriger ausmachen. Nach Sascha Topp liegt das auch daran, dass zunehmend Medizinhistoriker/innen zu diesem Thema forschen, die selbst keinen beruflichen Bezug zur Psychiatrie aufweisen. Dadurch verlieren emotionale und politische Impulse ihre Bedeutung. 47 Dieses Paradigmen-Modell hat nach Sascha Topp zwei Vorteile. Es lässt sich mit dem Drei-Phasen-Modell der Vergangenheitspolitik von Norbert Frei 48 vereinbaren. Die drei Paradigmen entsprechen zeitlich 47 Vgl. Topp, Geschichte, S Norbert Frei unterscheidet vier Phasen in der deutschen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit: : Phase der Säuberungspolitik (Entnazifizierung und Re-Education unter Regie der alliierten Besatzungsmächte) er-Jahre: Phase der Vergangenheitspolitik (weitreichende Amnestierung und Integration belasteter Nationalsozialist/innen bei gleichzeitiger normativer Abgrenzung von Nationalsozialismus) /70er Jahre: Phase der Vergangenheitsbewältigung (Skandale um personelle und institutionelle Kontinuitäten bewirken ein Umdenken bei Intellektuellen, dann im Zuge der Studentenproteste; die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und schließlich die Ausstrahlung der US-Serie Holocaust (1979) lösen eine bundesweite Debatte aus) 39

40 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) und inhaltlich den drei letzten Phasen dieses Modells. Zweitens können mit dem Paradigmen-Modell progressive und restaurative Strömungen in ihrer Gleichzeitigkeit beschrieben werden. 49 Trotz dieser Thematisierung innerhalb der Psychiatrie blieben Zwangssterilisation und NS-Euthanasie in der Öffentlichkeit ein Tabu. Somit erfuhren auch die Betroffenen Überlebende und Angehörige - keine entsprechende Aufmerksamkeit. Während verantwortliche Mediziner bis auf wenige Ausnahmen in beiden deutschen Staaten unbehelligt ihre berufliche Karriere fortsetzen konnten, sogar Gutachtertätigkeiten im Rahmen von Entschädigungsverfahren ausübten, lebten die meisten Betroffenen von Zwangssterilisation und Angehörigen von Euthanasie-Opfern - ohne politische Anerkennung und finanzielle Entschädigung des ihnen zugefügten Unrechts oft an der Armutsgrenze. Ihre Traumatisierung, ihre Geschichte der anhaltenden Stigmatisierung wurde bis vor wenigen Jahren in der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit der Kampf um Anerkennung: Den in den Lagern Inhaftierten brachte der Einmarsch der Alliierten die Befreiung. Schnell bildeten sich Sonderhilfsausschüsse, die sich um die Bereitstellung von Wohnraum und Nahrungsmittel für die Opfer kümmerten. 51 Für die Überlebenden in den psychiatrischen Heilanstalten änderte sich mit der Befreiung 1945 personell und strukturell kaum etwas. Die Lebensmittelknappheit führte dazu, dass sich das Hungersterben in den Anstalten zunächst auch nach Kriegsende fortsetzte. 52 Psychisch Kranken, geistig Beeinträchtigten oder sozial unangepassten Menschen wurde weiterhin das moralische Recht und die Fähigkeit abgesprochen, das erlittene Unrecht zu thematisieren. In den Anstalten und Behörden waren sie oft mit denselben Gutachter/innen konfrontiert, die bereits vor 1945 über sie geurteilt hatten. Ämter griffen kritiklos auf die NS-Akten der Betroffenen und die darin enthaltenen Diagnosen und Prognosen zurück. 53 Aber auch innerhalb der Opfergruppen bildete sich bald eine Hierarchie heraus. Denn nur Personen, die aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt worden waren, erhiel bis heute: Phase der Vergangenheitsbewahrung (Debatten drehen sich darum, welche Vergangenheit in der Zukunft bewahrt werden soll) Vgl. Norbert Frei: Deutsche Lernprozesse. NS-Vergangenheit und Generationenfolge. In: Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München: 2005, S.23-40, S Vgl. Topp, Geschichte, S.55f. 50 Topp, Geschichte, S.201. Zu Brüchen und Kontinuitäten in der Psychiatrie nach 1945 vgl. auch Hans-Walter Schmuhl: Kontinuität oder Diskontinuität? Zum epochalen Charakter der Psychiatrie im Nationalsozialismus. In: Franz-Werner Kersting / Karl Teppe / Bernd Walter (Hg.): Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Paderborn: 1993, S Vgl. Henning Trümmers: Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik. Göttingen: 2011, S.40 [In der Folge zitiert als Trümmers, Anerkennungskämpfe]. 52 Vgl. Döner, NS-Medizin, S Vgl. Ute Hoffmann: Aspekte der gesellschaftlichen Aufarbeitung. In: Stefanie Westermann / Tim Ohnhäuser / Richard Kühl (Hg.): NS- Euthanasie und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung Gedenkformen Betroffenenperspektiven. Berlin: 2001, S.67-75, S.68f. (= Medizin und Nationalsozialismus; 3) [In Folge zitiert als Hoffmann, Aspekte]. 40

41 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) ten den Status von NS-Verfolgten, der auch mit finanziellen Wiedergutmachungsleistungen verbunden war. Entscheidend für diese Einstufung war die Einschätzung, ob die Geschädigten Opfer typischen NS-Unrechts geworden waren. 54 Euthanasie-Geschädigte 55 oder von Zwangssterilisation Betroffene fielen nicht in diese Gruppe, da eugenische Maßnahmen wie Sterilisationsgesetze auch in anderen Ländern wie der Schweiz, den USA oder Skandinavien existierten. Somit wurde diese nicht als typisches NS-Unrecht gesehen. In Deutschland wurde dies mit dem Bundesergänzungsgesetz geregelt, das am 1. Oktober 1953 in Kraft trat und die unterschiedliche Entschädigungsgesetzgebung der Besatzungszonen vereinheitlichen sollte. 56 In Österreich wurden im ersten Opferfürsorgegesetz vom 17. Juni 1945 (StGBl. Nr.90/1945) zunächst nur österreichische Widerstandskämpfer/innen als Opfer des Nationalsozialismus angesehen, denen bei sozialer Bedürftigkeit und gesundheitlichen Schäden Fürsorgemaßnahmen, Vergünstigungen und Renten zuerkannt wurden. Das zweite Opferfürsorgegesetz von 1947 (BGBl. Nr.183/1947) bezog auch rassisch Verfolgte mit ein. Zahlreiche weitere Novellen führten zur Erweiterung des Kreises der Bezugsberechtigten, dennoch blieben viele Opfer-Gruppen ausgeschlossen. Zu diesen zählten auch die Euthanasie-Geschädigte, die erst mit durch den 1995 geschaffenen Nationalfonds (BGBl. Nr.433/1995) Anspruch auf eine Entschädigung erhielten. 57 Henning Trümmers nennt in Bezug auf die Zwangssterilisierten vier Gründe, warum sie nicht als Verfolgte anerkannt wurden. Diese können in ähnlicher Form auch für die Euthanasie-Geschädigten gelten: 58 Sterilisationen galten nur dann als NS-Verbrechen, wenn sie aus rassischen oder politischen Gründen erfolgten, gehörten sie doch auch in anderen Ländern zur gesundheitspolitischen Praxis. Bzgl. der Euthanasie-Praxis wurde argumentiert, dass Euthanasie als gesundheitspolitische Maßnahme umstritten und ihre rechtliche Zulassung nicht endgültig entschieden war Zum Begriff typisches NS-Unrecht vgl. Rolf Surmann: Was ist typisches NS-Unrecht? Die verweigerte Entschädigung für Zwangssterilisierte und Euthanasie -Geschädigte. In: Margret Hamm (Hg.): Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und Euthanasie. Frankfurt/Main: 2005, S , S.201 [In Folge zitiert als Surmann, NS-Unrecht]. 55 Der Begriff Euthanasie-Geschädigte bezieht sich auf die unmittelbaren Angehörigen jener, die der NS-Euthanasie zum Opfer gefallen sind. 56 Vgl. Trümmers, Anerkennungskämpfe, S Vgl. ( ). 58 Für das Folgende soweit es sich auf die Zwangssterilisationen bezieht vgl. Trümmers, Anerkennungskämpfe, S Vgl. die Argumentation des Verteidigers von Viktor Brack beim Nürnberger Ärzteprozess in Angelika Ebbinghaus: Strategien der Verteidigung. - In: Angelika Ebbinghaus / Klaus Dörner (Hg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen. Berlin: 2000, S , bes. S.415f. Zur langen Auseinandersetzung um das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in der BRD sein Außerkrafttreten, sofern es im Bundesrecht weiterbestand, wurde erst 1974 vom Bundestag beschlossen, 2007 wurde es endgültig aufgehoben - vgl. Andreas Scheulen: Zur Rechtslage und Rechtsentwicklung des Erbgesundheitsgesetzes In: Margret Hamm (Hg.): Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und Euthanasie. Frankfurt/Main: 2005, S und Surmann, NS-Unrecht. 41

42 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Zwangssterilisierte hatten keine einflussreiche Lobby, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Zwangseingriffe zum Wohle der Volksgesundheit waren international üblich. Die Opfer der NS-Euthanasie waren tot, die Überlebenden in den psychiatrischen Anstalten hatten keine Stimme, zumal sie gesellschaftlich stigmatisiert und marginalisiert waren. Aber auch euthanasiegeschädigte Angehörige konnten sich kaum Gehör verschaffen, trugen ja auch sie das Stigma einer erblichen Belastung durch eine psychische Erkrankung in der Familie. Insgesamt ist das Bestreben festzustellen, den Kreis der Anspruchsberechtigten möglichst eng zu ziehen, um den desolaten Staatshaushalt nicht zusätzlich zu belasten. Andere Opfergruppen sprachen sich gegen eine Einbeziehung der Zwangssterilisierten und Euthanasie-Geschädigten aus, weil sie nicht mit Schwachsinnigen in einem Atemzug genannt werden wollten. So benennt auch Christian Pross das Fortbestehen solch diskriminierender Denkmuster als wesentlichen Grund für das Schweigen zahlreicher Opfergruppen: Andere Verfolgtengruppen, die nicht unter das Entschädigungsgesetz fielen, wie die Asozialen, die Zwangssterilisierten und Homosexuellen, haben es bis auf einige Ausnahmen nie gewagt, aus ihrer Anonymität und Vereinzelung herauszutreten und öffentlich ihr Recht einzufordern, da sie befürchten mußten, sich damit einer erneuten Diskriminierung auszusetzen. 60 Zu den weiterbestehenden Vorurteilen bzgl. dieser Opfergruppen kam eine gewisse gesellschaftliche Empathie 61 mit den Täter/innen. Nach Ute Hoffmann zeigt sich das in den Entschuldigungen, die für deren Handeln gefunden wurden: die Akzeptanz von Ausgrenzung v.a. in wirtschaftlich schlechten Zeiten, die Täter-Opfer-Umkehr durch das Argument, man wäre sonst ins KZ gekommen und die künstliche Herstellung einer Distanz zu echten Überzeugungstäter/innen, die keinesfalls mit durchschnittlichen Personen verglichen werden können. Stefanie Westermann sieht die Ursache für die Tendenz, gerade den Täter/innen der NS-Euthanasie gute Absichten zu unterstellen und die Betroffenen als Opfer ihrer Krankheit zu verstehen, in der offensichtlichen Schwierigkeit, für Menschen jenseits unserer Vorstellungen von Normalität Empathie empfinden zu können. Dies habe letztlich zur Verdrängung der Euthanasie-Opfer aus dem gesellschaftlichen wie auch familiären Gedächtnis geführt Christian Pross: Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer. Hrsg. vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Frankfurt/Main: 1988, S Hoffmann, Aspekte, S.71, für das Folgende vgl. S Vgl. Stefanie Westermann: Der verweigerte Blick in den Spiegel NS- Euthanasie -Opfer und wir. In: Stefanie Westermann / Richard Kühl / Tim Ohnhäuser (Hg.): NS- Euthanasie und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung Gedenkformen Betroffenenperspektiven. Berlin: 2011, S , S.231f. (= Medizin und Nationalsozialismus; 3) [In der Folge zitiert als Westermann, Blick]. 42

43 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Aber nicht nur in der Öffentlichkeit zeigte sich eine Kontinuität in der Einstellung zu den in der NS-Zeit als minderwertig gebrandmarkten Bevölkerungsgruppen. Zahlreiche Mediziner/innen traten auch nach 1945 für eine Beibehaltung eugenischer Maßnahmen wie der Zwangssterilisation ein. 63 Das Fortbestehen dieses Gedankenguts innerhalb der Medizin sowie in der Bevölkerung förderte den Rückzug der Euthanasie-Geschädigten und deren gesellschaftliche Ausblendung. C. Dorothee Roer fasst diese Faktoren in vier strukturelle Dimensionen 64 zusammen, die sich auch nach Ende des NS-Regimes destruktiv auf das Leben der Euthanasie-Überlebenden und Zwangssterilisierten auswirkten: Die Kontinuität der deutschen Psychiatrie, die sich im Wesentlichen personell, strukturell und wissenschaftlich-ideologisch unverändert über das Ende der NS-Zeit gerettet hatte, der rechtliche Umgang mit den Verbrechen in der Psychiatrie, der mit der Rechtfertigung und Entschuldigung der Täter/innen zum Verschwinden des Unrechts und dessen Opfern führte, die Medien und die veröffentlichte Meinung, deren Sympathien oft den Täter/innen galten, während die Opfer ignoriert oder sogar diffamiert wurden, was auf das Fortbestehen eugenischer Ideen in der Bevölkerung verweist, und die Frage der Anerkennung als Opfer des Faschismus, die sich im langen Ringen um gesellschaftliche Genugtuung und Entschädigung zeigt. Mit C. Dorothee Roer kann hier vermutlich zur Recht von einer sequentiellen Traumatisierung der Überlenden gesprochen werden. Die Euthanasie-Geschädigten blieben somit auch nach 1945 den Täter/innen gegenüber in einer unterlegenen Position. Bürokratische Hürden, umständliche Verwaltungsapparate, eine dem Leid der Betroffenen unangemessene Verwaltungssprache sowie Scham und Traumatisierungen erschwerten den Kampf um Anerkennung und gesetzliche Wiedergutmachung. 63 Auch die Alliierten hatten die Erbgesundheitsgesetze nicht als spezifisch nationalsozialistisch wahrgenommen, existierten gesetzliche Regelungen zur Zwangssterilisation auch in anderen Staaten wie z.b. den USA. Vgl. Trümmers, Anerkennungskämpfe, S.43f. Einen Überblick über die Diskussionen um eine letztlich nicht realisierte gesetzliche Neuregelung bzgl. Sterilisationen findet sich in Trümmers, Anerkennungskämpfe, S.60-67, zum Fortleben der Befürwortung eugenische Maßnahmen immer verbunden mit einer negativen Sichtweise der potenziell Betroffenen vgl. Trümmers, Anerkennungskämpfe, S C. Dorothee Roer: Erinnern, Erzählen, Gehört werden. Zeugenschaft und historische Wahrheit. In: Margret Hamm (Hg.): Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und Euthanasie. Frankfurt/Main: 2005, S , S.192. Wo nicht anders angegeben, bezieht sich der folgende Abschnitt auf S [In Folge zitiert als Roer, Erinnern]. Ebenso C. Dorothee Roer: Zeugenschaft als subjektive und soziale Herausforderung. In: Stefanie Westermann / Tim Ohnhäuser / Richard Kühl (Hg.): NS- Euthanasie und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung Gedenkformen Betroffenenperspektiven. Berlin: 2001, S.29-42, S (= Medizin und Nationalsozialismus; 3) [In Folge zitiert als Roer, Zeugenschaft]. 43

44 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) (K)ein kollektiver Text? Bei der Wirkung von Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur handelt es sich um ein Rezeptionsphänomen 65. Letztlich entscheidet die Aufnahme des Textes bei den Leser/innen darüber, ob dieser eine erinnerungskulturelle Wirkung entfalten kann. Lesen erweist sich als ein aktives, konstruktives Geschehen, an dem kulturelle Sinnsysteme, literarische Verfahren und Rezeptionsprozesse gleichermaßen beteiligt sind. Um zu erklären, wie Literatur Vergangenheit konstruiert und Gedächtnis erzeugt, greift Astrid Erll auf das Mimesis-Modell von Paul Ricœur 66 zurück, der die literarische Welterzeugung als Ergebnis dynamischer Transformationsprozesse begreift. Diese ergeben sich aus dem Zusammenwirken von drei unterschiedlichen Darstellungsstufen: der Präfiguration des Textes, d.h. dem Bezug zur Welt (Mimesis I), der textuellen Konfiguration zu einem fiktionalen Gebilde (Mimesis II) und der Refiguration durch den Leser (Mimesis III). Das bedeutet, dass ein literarisches Werk erst dann zum Ziel kommt, wenn die Leser/innen die Welt des Textes mit ihrer eigenen verbinden. Denn im Akt der Rezeption aktualisieren diese durch ihre je eigenen Bedeutungszuschreibungen nicht nur die literarische Darstellung, sondern diese kann auch auf ihre Wirklichkeitswahrnehmung und somit auch auf ihr Handeln in der Welt zurückwirken. Birgit Neumann beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: Literarische Texte sind auf vielfältige Weise mit kulturellen Konstruktionen und Konzepten von Erinnerung und Identität verwoben. Sie greifen bei ihrer Welterzeugung (Nelson Goodman) auf Elemente der präexistenten (Erinnerungs-)Kultur zurück und entwerfen mit formästhetischen Verfahren eigenständige, symbolisch verdichtete Erinnerungs- und Identitätsmodelle. Solche literarischen Inszenierungen vermögen wiederum auf die individuellen wie kollektiven Dimensionen der Erinnerungskultur zurückwirken und damit Vergangenheitsversionen sowie Selbstbilder aktiv mitprägen. 67 Indem literarische Texte eine mimesis of memory 68 kreieren, ermöglichen sie Einblicke in gesellschaftliche Sinngebungsprozesse, vorherrschende Gedächtnisinhalte und Werthierarchien. Astrid Erll spricht bzgl. in der Erinnerungskultur wirksamer Texte von kollektiver Refiguration: Literatur prägt Kollektivvorstellungen vom Ablauf und vom Sinn vergangener Ereignisse, deutet die Gegenwart und weckt Erwartungen für die Zukunft. Aus der kollektiven Refiguration können aber auch tatsächliche Handlungen, von veränderten Formen der Alltagskommunikation bis zur politischen Aktion, hervorgehen. 69 Bezüglich Deutung und Aneignung literarischer Werke geht sie von erinnerungskulturellen Interpretationsgemeinschaften aus, d.h. unterschiedliche soziale Gruppen verständigen sich auf mögliche Aktualisierungen 65 Erll, Kollektives Gedächtnis, S Paul Ricœur geht von einer Strukturidentität zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion aus und sieht eine tiefe Verwandtschaft zwischen diesen beiden narrativen Formen. Mit dem Modell der dreifachen Mimesis beschreibt er die grundsätzliche Korrelation des Erzählens einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung. Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. 3 Bde. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. München: Für das Folgende vgl. S Neumann, Literatur, S.149f. 68 Neumann, Representation, S Erll, Kollektives Gedächtnis, S

45 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) eines literarischen Textes. Dabei spielt der Machtfaktor eine bedeutende Rolle. Denn Deutungen der kollektiven Vergangenheit können affirmative, aber auch subversive Wirkungspotenziale entfalten. Indem solche Interpretationsgemeinschaften miteinander in Diskussion geraten, können neue Vorstellungen über die Vergangenheit in die lebensweltliche Wirklichkeit einfließen, die dann wiederum literarisch aufgegriffen und verarbeitet werden. 70 Auch Birgit Neumann schreibt literarischen Texten das Potenzial zu, über ihre ästhetische Wirkungsstruktur einen kulturellen Wandel zu ermöglichen. Im Medium der Fiktion inszenierte Erinnerungskonzepte können auf die außerliterarische Erinnerungskultur zurückwirken und die Herausbildung bzw. Reflexion individueller wie kollektiver Vergangenheitsbilder ermöglichen. Dies setzt jedoch eine entsprechende Aktualisierung durch die Rezipient/innen voraus. 71 Darüber, ob literarische Werken eine Wirkung in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur entfalten, entscheiden letztlich die Leser/innen. Horst Denkler betont daher die Bedeutung der Freiwilligkeit bzw. Freiheit bei der Rezeption: Die partielle Wirkungsbegrenzung und graduelle Wirkungseinbuße ergibt sich aber auch aus der Grundbefindlichkeit künstlerischer Produkte, die nichts anderes als ein Rezeptionsangebot bereithalten, das die Adressaten am ehesten erreicht, wenn es freiwillig wahrgenommen und nicht in verordneten Pflichtlektionen verabreicht wird: Reden müssen zunächst einmal angehört, Texte gelesen, Bilder angesehen, Denkmäler beachtet, Museen besucht werden, bevor sich Wirkungseindrücke ergeben können, über die der Rezipient dann immer noch frei verfügt. Diese Rezeptionsfreiheit setzt Rezeptionswilligkeit, Rezeptionsbereitschaft und Rezeptionsarbeit voraus und ergibt sich aus ihnen [ ]. 72 Literatur stellt Erinnerungsstoff zur Verfügung, ob und wie dieser von den Rezipient/innen aufgegriffen wird, lässt sich nicht wirklich programmieren oder steuern. Das Prosastück Die Fahrt ins Blaue erschien am 3. Mai 1946 in der Badischen Zeitung in Freiburg. In der Öffentlichkeit scheint der Text kaum Spuren hinterlassen zu haben. 73 Er scheint genauso vergessen 74 worden zu sein wie die Verbrechen der NS-Euthanasie und deren Opfer. Dafür scheinen mehrere Gründe ausschlaggebend zu sein: Die Psychiatrie selbst setzte sich erst ab den 60er-Jahren kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinander. Auch wenn es zuvor bereits Informationen zur NS-Euthanasie gab, verschwanden diese Studien schnell aus der Öffentlichkeit und damit auch aus dem Bewusstsein. Zu groß war die Angst, die Auseinanderset- 70 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, S Vgl. Neumann, Literatur, S Horst Denkler: Gedächtnisstütze. Binsenwahrheiten über die bescheidenen Möglichkeiten der deutschen Literatur im Rückblick und in Hinsicht auf den Holocaust. In: Manuel Köppen (Hg.): Kunst und Literatur nach Auschwitz. Berlin: 1993, S , S Christina Althen vermutet im Nachwort von Band 4 der Kleinen Schriften, dass Alfred Döblins Text einen Anteil daran gehabt haben könnte, dass die Verfolgung der NS-Euthanasie-Verbrechen in Baden-Württemberg bereits 1947 in Gang kam. Hier zitiert nach Schlichting, Döblin, S.8. Der von Christina Althen herausgegebene Band war mir nicht zugänglich. 74 Rolf Surmann bezeichnet vergessen in diesem Zusammenhang mit den von der NS-Euthanasie-Betroffenen als Euphemismus. Denn diese wurden bewusst ausgegrenzt. Vgl. Surmann, NS-Unrecht, S

46 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) zung mit den NS-Medizinverbrechen könnte das Vertrauensverhältnis zwischen Mediziner/innen und Patient/innen beschädigen. Die beteiligten Ärzte und Ärztinnen schwiegen auch aus Angst vor Strafverfolgung und Ehrverlust. Alfred Döblin selbst beklagt bereits die scheinbare Erfolglosigkeit der Umerziehungsmaßnahmen der Alliierten. Die Sorge um das alltägliche Überleben, die Nachwirkungen der NS-Propaganda und die allgemeine politische Desorientierung ließen die pädagogischen Bemühungen an den Deutschen abprallen. Norbert Frei beschreibt die Situation in Deutschland nach Kriegsende folgendermaßen: Die Ausgangslage bestand, pointiert gesagt, darin, daß die Mehrheit der Deutschen sich im Frühjahr 1945 zunächst weniger befreit als vielmehr besiegt empfand. Gewiß waren die meisten dankbar, den Krieg überlebt zu haben, und viele waren wohl auch erleichtert darüber, aus der Indienstnahme durch das Regime entlassen zu sein. Aber diese Dankbarkeit verband sich doch häufig mit dem zumindest untergründigen Gefühl einer volksgemeinschaftlichen Verstrickung: mit der Ahnung, moralisch nicht unbeschädigt durch die große Zeit gekommen zu sein und deshalb besser nicht über den Nachbarn zu richten. 75 Somit schätzt Norbert Frei das Bedürfnis der Bevölkerung nach politischer Abrechnung und Aufarbeitung gering ein. Die säuberungspolitischen Aktivitäten der Alliierten lösten daher in der Mehrheit bald das Gefühl aus, selbst die eigentlichen Opfer zu sein. Aleida Assmann streicht die Unterschiede zwischen Opfer und Täter/innen heraus, die sich auch auf einen unterschiedlichen Umgang mit Erinnerung beziehen. Eine gemeinsame Opfererfahrung hinterlässt eine unaustilgbare Spur im kollektiven Gedächtnis und schafft einen besonders starken Zusammenhalt in der Gruppe. Das Gedächtnis der Gruppe wird zur Basis einer neuen Identität und fordert mediale Aufmerksamkeit sowie soziale Anerkennung ein. Bedingung dafür ist jedoch, dass sich die geschädigte Gruppe als Kollektiv bzw. politische Solidargemeinschaft organisieren kann. 76 Im Gegensatz zum Opfergedächtnis bleibt das Tätergedächtnis vage. Während erstere um die öffentliche Anerkennung ihres Leidens kämpfen, sind letztere geradezu um Unsichtbarkeit bemüht. Auch hier ist ein Affekt im Spiel, dieser führt aber nicht zur Stabilisierung, sondern zur Abwehr von Erinnerung. Was der eigenen Identität widerspricht, ist schambesetzt und wird zurückgewiesen. Denn traumatische Erfahrungen von Leid, aber auch von Scham finden nach Aleida Assmann schwer ihren Platz im Gedächtnis, weil sie nur mit Mühe in ein positives, individuelles wie kollektives Selbstbild integriert werden können. 77 Das Tätergedächtnis steht daher unter dem Druck vitaler Vergesslichkeit 78. Ist das Schweigen der Opfer eine Durchgangsphase, um entlastet vom Schmerz des Erlebten ihre Identität wiederaufzubauen, bietet es den Täter/innen Schutz und Sicherheit vor Verfolgung. Somit ergeben sich für die beiden Gruppen gegenläufige Bestrebungen, wie Aleida Assmann schreibt: Tabuisierung der Tat ist 75 Norbert Frei: Die Rückkehr des Rechts. In: Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München: 2005, S.63-82, S Vgl. Aleida Assmann / Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach Stuttgart: 1999, S.44 und 79. [In Folge zitiert als Assmann/Frevert, Geschichtsvergessenheit]. 77 Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: 2006, S.75 [In Folge zitiert als Assmann, Schatten]. 78 Assmann/Frevert, Geschichtsvergessenheit, S

47 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) deshalb das Ziel des Täters, während aufarbeitende Erinnerung das therapeutische und moralische Ziel des Opfers ist. 79 Im Gegensatz zum Sieger- oder Verlierergedächtnis kann sich das Tätergedächtnis weder auf öffentliche Rituale noch auf politische Sinngebung stützen, sondern es verfestigt sich von innen durch den kollektiven Habitus des Beschweigens und Verdrängens. 80 Das Schweigen entsprach dem Bedürfnis der Täter/innen, sich nicht auf das Geschehene einlassen zu müssen. Wenn wurde deren Erinnern von den Gerichten erzwungen, vor denen sich manche zu verantworten hatten. Verbalisiert wurde dieses Beschweigen in der Forderung nach einem Schlussstrich, der das Vergessen ermöglichen sollte. 81 Ein weiteres Schlagwort, das die Debatten um den Umgang mit der NS-Zeit, mit Täter/innen und Verfolgten bestimmte, war das der Kollektivschuld 82. Mit diesem Begriff ist die These verbunden, dass das deutsche Volk als Ganzes im Nationalsozialismus schuldig geworden ist. Aus dem Faktum, dass es kein einziges offizielles Dokument gibt, in dem den Deutschen von den Siegermächten eine solche kollektive Schuld zugeschrieben wird, schließt Norbert Frei, dass dieser Begriff letztlich eine deutsche Erfindung war. Er deutet diese reflexhafte Antizipation eines pauschalen Schuldvorwurfs daher als Anzeichen dafür, dass in der deutschen Bevölkerung sehr wohl ein Gefühl der persönlichen Verstrickung vorhanden war. 83 Somit bot diese Abwehrhaltung die Möglichkeit, sich selbst als ungerecht behandeltes Opfer zu fühlen und die Frage nach der persönlichen Schuld außen vor zu lassen. Der Kampf gegen eine vermeintliche Kollektivschuld diente auf dieser Weise der sozialpsychologischen Selbststabilisierung und der Abwehr, sich weiter mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen. 84 Im Gegensatz zu Norbert Frei findet Aleida Assmann sehr wohl eine Erfahrungsgrundlage für die Kollektivschuldthese und zwar in der Veröffentlichung der Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern, die von den Alliierten als pädagogische Maßnahme eingesetzt wurden. Spätestens in diesem Moment war der dichte Nebel von Verheimlichung, Apathie und Nichtwissenwollen zerrissen und die begangenen Gräueltaten offensichtlich. Aber statt Annahme der Schuld und Reue entstand nach Aleida Assmann durch die demütigende Erfahrung kollektiver Scham ein Trauma, das jede Verwandlung blockierte: Das deutsche Trauma, das ich zu rekonstruieren versucht habe, ist für die deutsche Erinnerungsgeschichte von nachhaltiger Wirkung gewesen. Es entzündete sich nicht an den von Deutschen begangenen Verbrechen, sondern an den Umständen ihrer Veröffentlichung seitens der Alliierten. Es war ein Trauma nicht der Schuld, sondern der Scham. Und dieses kollektive Trauma der Scham ist [ ] ein nachhaltiger Schutzschild gegen Formen der öffentlichen und kollektiven Erinnerung geblieben Assmann, Schatten, S Vgl. Assmann/Frevert, Geschichtsvergessenheit, S Vgl. Assmann, Schatten, S Zur Auseinandersetzung mit der Schuldfrage und der Differenzierung verschiedener Schuldbegriffe bei Hannah Arendt und Karl Jaspers vgl. Assmann/Frevert, Geschichtsvergessenheit, S und Norbert Frei: Von deutscher Erfindungskraft. In: Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München: 2005, S , S [In Folge zitiert als Frei, Erfindungskraft]. 83 Vgl. Frei, Erfindungskraft, S Vgl. Frei, Erfindungskraft, S.154f. 85 Assmann/Frevert, Geschichtsvergessenheit, S.138f. 47

48 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Scham ist jedoch ein sozialer Affekt, der seine Wurzeln in der Angst vor Ausgrenzung hat und die Auseinandersetzung mit Schuld blockiert. Elisabeth Domansky betont, dass Erinnern und Vergessen eng zusammengehören, letztlich Vergessen nur eine andere Form des Erinnerns ist. So müsse jede Gesellschaft angesichts der konkurrierenden Erinnerungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen entscheiden, woran sie sich erinnern möchte. Das, was vergessen werden soll, kann aber nicht wirklich `vergessen werden, sondern es müssen Mechanismen entwickelt werden, die sicherstellen, dass man nicht vergißt, was es ist, das vergessen werden soll, damit dieses nicht plötzlich in den Kanon des Erinnerten einbricht und das individuelle oder gesellschaftliche Gleichgewicht stört. 86 Verbunden mit der Dichotomie von Erinnern und Vergessen ist die Frage, wer diese Prozesse kontrollieren kann. Hier ist nach den am Erinnerungsprozess beteiligten Gruppen zu fragen. So können kollektive und individuelle Erinnerungen einander ergänzen und verstärken. Sie können aber auch das Erinnerungsvermögen von Individuen, gesellschaftlichen Minderheiten oder marginalisierter Gruppen behindern bzw. sogar zerstören. 87 Für die BRD der 50er und 60er Jahre beobachtet Elisabeth Domansky eine bemerkenswerte Kongruenz von individueller, kollektiver und öffentlicher Erinnerung an den Nationalsozialismus und Holocaust. Diese Erinnerung war ein integraler Bestandteil der Neubestimmung nationaler Identität. In der Folge gab es nur noch Opfer und Widerstandskämpfer/innen, aber keine Täter/innen mehr. Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wird für die nationale Integration und Identitätsfindung funktionalisiert. Gruppen, die nicht in dieses Bild passten, wurden vergessen. Ähnliche Prozesse lassen sich auch in der DDR beobachten. Sie [die deutschen Staaten, MP] setzten damit, wenn auch auf unterschiedlicher Weise, in der Erinnerung das an den Opfern begangene Unrecht fort: Deren Verfolgung und Eliminierung aus der deutschen Gesellschaft hatte ja bereits im Dritten Reich dem Zweck der Schaffung einer neuen in jenem Fall rassenreinen Volksgemeinschaft gedient. Die Grundlagen für die vielbeschworene Einheit der deutschen Nation lag in den fünfziger und sechziger Jahren in der Schaffung einer gespaltenen Erinnerung, die das gespaltene Deutschland in einer gigantischen Verdrängungsanstrengung verband. Deren Form bewahrte die Erinnerung an den Gehalt dessen, was vergessen werden sollte, in sich auf: Aus der Erinnerung wurden weiterhin diejenigen ausgeschlossen, die aus der Gesellschaft des Dritten Reiches eliminiert worden waren. Die gewählten Verdrängungsstrategien waren die von Tätern. 88 Die Opfer hingegen kämpften gegen das Vergessen um Anerkennung. Sie wollten öffentlich beim Namen genannt und ihre Geschichten sollte gehört werden. Erst durch Anerkennung und Artikulation des bis dahin Ungesagten bzw. Nichtgehörten können die Erinnerungen Teil des kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses werden. Bis dahin ist es nach Aleida Assmann aber ein langer Weg. Entscheidend ist, ob es der Opfergruppe gelingt, sich als Kollektiv bzw. Solidargemeinschaft zu organisieren und generationenübergreifende Formen der Erinnerung zu entwickeln Elisabeth Domansky: Die gespaltene Erinnerung. In: Manuel Köppen (Hg.): Kunst und Literatur nach Auschwitz. Berlin: 1993, S , S.181 [In Folge zitiert als Domansky, Erinnerung]. 87 Vgl. Domansky, Erinnerung, S Domansky, Erinnerung, S.185, davor vgl. S Vgl. Assmann, Schatten, S

49 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) In einem Umfeld, in dem plötzlich niemand mehr Nationalsozialist/in gewesen sein wollte, in dem sich alle als Opfer des Regimes empfanden, war für die Opfer- und Leidensgeschichten tatsächlich Verfolgter nur wenig Platz. C. Dorothee Roer schreibt bzgl. der Euthanasie-Geschädigten: Aber auch die Erzählung der Fortsetzung der Geschichte euthanasie -geschädigter und zwangssterilisierter Menschen würde für den deutschen Normalbürger als NS-, Kriegs- und Vertreibungsgeschädigter eine schwer zu verkraftende Herausforderung darstellen, berichtet sie doch von dem Fortbestand von oben und unten, drinnen und draußen, Macht und Ohnmacht und davon, wie wenig viele der sogenannten Opfer aus Faschismus und Krieg gelernt haben. Nein, solche Geschichten haben im gesellschaftlichen Diskurs keinen Platz. Sie sind unerwünscht, sie passen auch nicht in das Geschichtsbild der offiziellen Nachkriegsgesellschaft. Die Folge: die wirklichen Opfer werden in ihrem Rückzug bestätigt. Die Kommunikation mit der sozialen Umwelt scheint von der Art, dass sogar die in der Holocaust-Forschung als Pakt des Schweigens bezeichnete, nicht-narrative Verbindung mit anderen Menschen seitens der Mehrheitskultur gekappt wurde. 90 Das Zeugnis der Euthanasie-Geschädigten störte die Selbstviktimisierung der Mehrheitsgesellschaft und konnte daher nicht entsprechend gehört werden. Bezogen auf das Individuum dienen erzählte Erinnerungen der narrativen Konstruktion der Identität, sie fungieren als Mittel des Selbstverstehens und der Selbstvergewisserung. Gesellschaftlich gesehen übersetzen sie das persönliche Erleben in gesellschaftliche Ausdrucksmuster, mit deren Hilfe sie in den gesellschaftlichen Diskurs eingebunden werden. Solche gesellschaftlichen Erinnerungen wirken gemeinschaftsbildend und verbindend. Allerdings kann nur das erzählt werden, wofür auch soziokulturelle Ausdrucksformen vorhanden sind. Was nicht als erzählbar akzeptiert ist, wird nicht erzählt - auch weil es nicht gehört wird. Das verweist nach C. Dorothee Roer auf eine weitere gesellschaftliche Dimension erzählter Erinnerung: Diese wird erst durch das Gehörtwerden, durch das Bezeugen der Erinnerung durch die Zuhörer/innen real. Folglich ist Nicht-erzählen-Können/Dürfen bzw. Nicht-gehört-Werden gleichbedeutend mit dem Ausschluss aus der Erinnerungsgemeinschaft. 91 Das kulturelle Archiv bietet den zwangssterilisierten und euthanasie -geschädigten Menschen immer noch keine Sprache, die ihren Erinnerungen angemessen wäre, keine Bilder und gemeinsam geteilten Bedeutungen, Zuschreibungen und Wertungen, mit deren Hilfe sie sich in das kulturelle Gedächtnis einschreiben könnten. Besonders die Tatsache sequentieller Traumatisierungen in der postfaschistischen Gesellschaft erschwerte oder verhinderte gar, dass sie sich mit ihrer ganzen Geschichte in Erinnerungsgemeinschaften verorteten, stattdessen wurden sie von der Mitgestaltung des kommunikativen Gedächtnisses des deutschen Volkes ausgeschlossen. 92 Sich dennoch immer wieder zu Wort melden, benötigte viel Mut, Zivilcourage und Leidensfähigkeit. Somit wird das Schweigen der meisten Opfer verständlich. Dementsprechend erfolglos war auch der Kampf der durch die NS-Euthanasie Geschädigten um Anerkennung und Entschädigung. Auch Aleida Assmann weist darauf hin, dass das Zeugnis der Opfer immer auf eine Gemeinschaft angewiesen ist, die dieses aufnimmt und den Bezeugenden den Status des Opfers zuerkennt. Daher bezeichnet sie die Kategorie des Opfers auch als soziale Konstruktion durch eine moralische Gemeinschaft in einem öffentlichen Raum Roer, Erinnern, S Vgl. Roer, Zeugenschaft, S.31f. 92 Roer, Erinnern, S Vgl. Assmann, Schatten, S

50 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Aber nicht nur die Opfer selbst schwiegen. Auch in den Familien wurden Euthanasie und Zwangssterilisation kaum thematisiert. Stefanie Westermann weist darauf hin, dass die in der NS-Zeit attestierte Minderwertigkeit eines Angehörigen auch für die Nachkommen einen bleibenden Bezugspunkt darstellt. So weisen Familienmitglieder im Gespräch oft auf die Normalität des/r Ermordeten hin, die psychische Krankheit wird aus den Lebensumständen erklärt. Auch der Verweis auf die Leistungen anderer Familienmitglieder dient dazu, sich vom Stigma der vermeintlichen Minderwertigkeit abzugrenzen. 94 Auf Grund dieser Stigmatisierung, die auf die ganze Familie ausstrahlte, wurden die Opfer in der Familiengeschichte oft totgeschwiegen. Achim Tischer berichtet über die Schwierigkeiten der Angehörigen im Umgang mit diesem Thema: Ist die Einweisung in die Psychiatrie per se ein negatives und streng gehütetes Familiengeheimnis, unterlagen Zwangssterilisierung und Krankenmord einer zusätzlichen Tabuisierung. Dieses doppelte Tabu zu brechen ist augenscheinlich eine Herausforderung an die zweite und dritte Nachkriegsgeneration, und häufig unternimmt ein Mitglied aus der nächsten Generation den Versuch einer Aussöhnung mit dem Opfer. 95 Nach der Statistik der Gedenkstätte Hadamar sind es oft Angehörige der Enkelgeneration, die die Geschichte ihrer verstorbenen Familienmitglieder rekonstruieren, um diesen ihre Individualität und Identität zurückzugeben. 96 In der Erinnerungskultur fand die NS-Euthanasie lange keinen Platz. Erst 1983 wurde in Hadamar die erste Gedenkstätte errichtet. Gedenkzeichen und -tafeln gab es an den Orten der NS-Euthanasie bereits früher. Diese erinnerten aber oft nur an einzelne Opfergruppen oder blieben diesbezüglich gänzlich unbestimmt. So ließ eine Organisation französischer Überlebender des KZ Mauthausen bereits 1950 in Hartheim ein Mahnmal für die in der Sonderaktion 14f13 ermordeten Kameraden errichten. Beim 1952/53 in der ehemaligen Gaskammer in Bernburg errichteten Gedenkzeichen bleibt unklar, ob von Anfang an auch der ermordeten Kranken oder nur den KZ-Häftlingen gedacht werden sollte. Diesbezüglich gänzlich unbestimmt war die Gedenktafel, die 1953 in Hadamar angebracht wurde wurden in Hartheim Gedenkräume eingerichtet, die den ehemaligen Aufnahmeraum sowie die Gaskammer umfassten. Damit war Hartheim der erste Ort der Aktion T4, an dem es einen wenn auch in der Praxis eingeschränkt zugänglichen Gedenkort mit Informationen gab Vgl. Westermann, Blick, S Achim Tischer: Angehörigenarbeit von Opfern der Psychiatrie und Gesundheitspolitik im Nationalsozialismus Ein Werkstättenbericht aus dem Bremer Krankenhaus-Museum. - In: Stefanie Westermann / Tim Ohnhäuser / Richard Kühl (Hg.): NS- Euthanasie und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung Gedenkformen Betroffenenperspektiven. Berlin: 2001, S , S.137 (= Medizin und Nationalsozialismus; 3). 96 Vgl. Georg Lilienthal: Opfer und Angehörige im Kontakt mit dem Ort des Verbrechens. Ein Bericht aus der Gedenkstätte Hadamar. - In: Stefanie Westermann / Tim Ohnhäuser / Richard Kühl (Hg.): NS- Euthanasie und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung Gedenkformen Betroffenenperspektiven. Berlin: 2001, S , S.144 (= Medizin und Nationalsozialismus; 3). 97 Eine genaue Darstellung der Entwicklung des Gedenkens an den Orten der NS-Euthanasie findet sich in Martin Hagmayr: mit Rücksicht auf die überlebenden Heimbewohner [ ] keine Gedenktafel angebracht Der Umgang mit den ehemaligen Tötungsorten der Aktion T4 in BRD, DDR und Österreich im Vergleich. Dipl. Arb. Univ. Wien 2013 (unveröffentlicht), besonders S

51 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Ab den 80er Jahren wurden an den Tötungsorten Gedenkstätten errichtet. Hadamar 1983 folgten Bernburg (1989), Sonnenstein-Pirna (2000), Hartheim (2003), Grafeneck (2005) und schließlich Brandenburg (2012). Weiters finden sich heute Gedenkstätten auch in Institutionen, aus denen Patient/innen in die Tötungsanstalten verlegt worden waren. 98 Während es zum Holocaust mittlerweile eine schwer zu überblickende Zahl literarischer Darstellungen gibt, wurde die NS-Euthanasie kaum von Schriftsteller/innen aufgegriffen. Alfred Döblins Text wurde nach der Veröffentlichung in der Badischen Zeitung 1946 nur drei Mal wieder abgedruckt: 1962 in einem Sammelband kleiner Prosatexte, 2005 im vierten Band der kleinen Schriften innerhalb der Gesamtausgabe der Werke Döblins und 2005 in dem in dieser Arbeit verwendeten Sammelband, beide herausgegeben von Christina Althen. 99 Nach Alfred Döblin 1946 wurde das Thema NS-Euthanasie erst wieder 1985 literarisch bearbeitet, als der oberösterreichische Schriftsteller Franz Riegler den historischen Roman Schattenschweigen oder Hartheim publizierte, eine Auseinandersetzung mit der Aktion T4 in der Tötungsanstalt Hartheim. Ebenfalls 1985 griff Hans Joachim Schädlich das Thema in zwei Erzähltexten mit den Titeln Fritz und Mechanik auf. In diesem Fall wurde die Auseinandersetzung mit dem Thema Euthanasie durch das Schicksal des 1940 ermordeten Onkels des Autors angeregt. 100 In den letzten Jahrzehnten kamen zunehmend familiengeschichtliche Darstellungen auf den Markt, die das Schicksal von Angehörigen beleuchten, die der Aktion T4 zum Opfer gefallen sind. Zusammenfassend gesagt handelt es sich nach Astrid Erll bei literarischen Werken um kollektive Texte, wenn sie breit rezipiert werden und die Leser/innen ihnen einen Wirklichkeitsbezug zusprechen. Unter diesen Voraussetzungen kann Literatur die erinnerte Vergangenheit mitprägen. Texte, die auf diese Weise in der Erinnerungskultur wirksam werden, können dann eventuell auch die gesellschaftliche und politische Praxis beeinflussen. Aus den in diesem Kapitel dargestellten Gründen erlangte Alfred Döblins Die Fahrt ins Blaue nicht die notwendige Breitenwirkung. Die Erzählung wurde von der deutschen Öffentlichkeit nicht in einer Weise rezipiert, dass er die Gedächtnis- und Erinnerungskultur hätte beeinflussen können. Daher kann er nicht als kollektiver Text verstanden werden. 98 Vgl. Hoffmann, Aspekte, S Alfred Döblin: Die Zeitlupe. Kleine Prosa. Olten, Freiburg/Breisgau: 1962, S Alfred Döblin: Kleine Schriften. Bd. 4. Olten, Freiburg/Breisgau: 2005 (= Alfred Döblin: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Hrsg. Anthony W. Riley; 24,4). 100 Vgl. Theo Buck: Tödliche Mechanik. Zu zwei Erzähltexten Hans Joachim Schädlichs über den nationalsozialistischen `Euthanasie - Mord. In: Gedächtnis und Widerstand. Festschrift für Irene Heidelberger-Leonhard. Hrsg. von Mireille Tabah in Zusammenarbeit mit Sylvia Weiter und Christian Poetini. Tübingen: 2009, S , S

52 Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue (1946) Dennoch handelt es sich bei diesem Werk um einen historisch interessanten Text, der einen schnellen Zugang zu den Ereignissen der NS-Euthanasie ermöglicht. Daher lohnt es sich, ihn auch mit Schüler/innen wiederzuentdecken und sich mit ihm zu beschäftigen. 52

53 Entwurf eines Unterrichtsmodells 4 Entwurf eines Unterrichtsmodells Ich unterrichte Katholische Religion in einer Höheren Lehranstalt für Tourismus und wirtschaftliche Berufe in Wien. Meine Schüler/innen sind in der Regel zwischen 14 und 20 Jahre alt. 4.1 Theologische, ethische und didaktische Vorüberlegungen Verortung des Themas im Lehrplan Katholische Religion BHS 1 Das Thema Euthanasie in der NS-Zeit kann an verschiedene Themen im Lehrplan für Katholische Religion der BHS angedockt werden. So ist im zweiten Jahrgang der Themenbereich Leben mit Behinderung vorgesehen, im dritten Jahrgang lassen sich Verbindungen zum Themenkomplex Menschenwürde Menschenrechte herstellen, aber auch zu verschiedenen Fragestellungen der angewandten Ethik wie z.b. Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik oder Gentechnik. Im Themenbereich Kirchengeschichte könnte das Thema ebenfalls behandelt werden. Wird der Schwerpunkt auf den Umgang mit der Vergangenheit und dem Wandel der Gedächtniskultur gelegt, wäre im vierten Jahrgang der Bereich Schuld und Versöhnung anschlussfähig. Im fünften Jahrgang könnte die NS-Euthanasie wieder mit entsprechendem Fokus auf einen anderen Aspekt im Themenfeld Gewissen Gewissensentscheidungen bearbeitet werden. Je nach Zuordnung zu einem dieser Lehrplanthemen muss die Beschäftigung mit der Euthanasie in der NS- Zeit verschieden eingeleitet und weitergeführt werden bzw. rücken unterschiedliche Aspekte des Themas in den Vordergrund. Ich habe mich schließlich dafür entschieden, das Thema NS-Euthanasie im dritten Jahrgang im Kontext Sterbehilfe zu behandeln Warum erinnern? Wer mit Schüler/innen zu historischen Themen arbeitet, wird schnell mit der Frage Warum? konfrontiert. Warum soll ich mich mit etwas beschäftigen, das schon längst vergangen ist? Warum soll ich mich erinnern? Der Theologe Thomas Laubach versucht, mit der Entwicklung einer anamnetischen Ethik eine Antwort auf diese Frage zu geben. Erinnerung stellt für ihn ein Grundwort ethischer Reflexion dar. Zwar sind Erinnerung, Gedächtnis und Reflexion Phänomene, die dem ethischen Zugriff vorausliegen, aber sie ermöglichen den Menschen eine Vergewisserung ihrer individuellen Handlungs- und Lebensoptionen, die Entwicklung von Wertzuschreibungen und die moralische Interpretation der Welt. Somit beruht das Vermögen, sittlich urteilen und handeln zu können, wesentlich auf der Fähigkeit zur Erinnerung. 1 Lehrpläne für den Katholischen Religionsunterricht an Berufsbildenden Höheren und Mittleren Schulen. Herausgegeben vom Interdiözesanen Amt für Unterricht und Erziehung (IDA). Wien: 2014, als PDF abrufbar unter ( ). 53

54 Entwurf eines Unterrichtsmodells Gleichzeitig fungiert Erinnerung als strukturelle Voraussetzung ethischer Reflexion. Indem sie geschichtliches Wissen medial vermittelt bereitstellt, ermöglicht sie erst einen Erkenntnisgewinn aus dem Vergangenen. Dies ist aber die Voraussetzung für eine Interpretation der Gegenwart, die immer vor dem Hintergrund der Vergangenheit erfolgt. Erinnerung ermöglicht kritische Distanz und kann warnende bzw. ermahnende Funktion übernehmen. So kann sie einerseits zur konstitutiven Größe für eine realistische Deutung der Gegenwart vor der Folie des Vergangenen werden, andererseits als Quelle des Widerstands gegen manipulierte bzw. verzerrte Geschichtsversionen fungieren. 2 Thomas Laubach beantwortet somit die Frage nach dem Warum des Erinnerns zunächst damit, dass wir Menschen nur erinnernd leben können. Wenn aber Erinnerung der ethischen Reflexion vorausgeht und diese mitkonstituiert, greift letztlich alle ethische Reflexion ohne Erinnerung zu kurz. Aleida Assmann spricht von einer ethischen Erinnerung 3, die vom Imperativ getragen wird, dass sich die Geschehnisse der NS-Zeit nicht wiederholen dürfen. Nach Thomas Laubach greift eine solche Erklärung zu kurz, um die Notwendigkeit von Erinnerung für die ethische Reflexion zu begründen: Menschen müssen sich nicht erinnern, weil dies und jenes passiert ist oder dies und jenes nicht wieder passieren soll; sie müssen sich vielmehr erinnern, weil nur ein erinnerndes Urteilen und Handeln auch ein qualifiziertes sittliches Urteilen und Handeln ist. Erinnern selbst ist normativ in dem Sinne, dass es zur Sittlichkeit konstitutiv gehört. 4 Der Verzicht auf Erinnerung bzw. deren Ausschluss aus dem Diskurs würde ethische Reflexion automatisch beschneiden und verkürzen. Der Themenkomplex Sterbehilfe, Sterbebegleitung, Palliativmedizin ist dem Bereich der angewandten Ethik zuzuordnen. Aus theologischer Perspektive bildet die Frage nach dem Menschen, seiner Würde und dem, was dieser entspricht, die Grundlage für die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen. Der Mensch ist Ausgangspunkt und Ziel eines jeden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Handelns, wie es das Personprinzip, eines der fünf Prinzipien der katholischen Soziallehre, formuliert. In christlicher Perspektive hat jeder Mensch eine unverlierbare Würde, die sich aus der Gottebenbildlichkeit (Gen 1,26) ergibt. In ihr liegt das religiöse Fundament der Menschenrechte, die diese Würde bewahren und absichern sollen. Niemand kann und darf Menschen diese verweigern bzw. absprechen. Am Thema NS-Euthanasie (sowie am Nationalsozialismus allgemein) kann somit auch gelernt werden, was geschehen kann, wenn nicht mehr der Mensch mit seiner Würde und seinen fundamentalen Rechte im Fokus von Überlegungen und Entscheidungen steht, sondern ideologische und ökonomische Kriterien dominant werden. 2 Vgl. Thomas Laubach: Warum sollen wir uns erinnern? Annäherungen an eine Anamnetische Ethik. Tübingen: 2006, S (= Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie; 23) [In Folge zitiert als Laubach, Warum erinnern?]. 3 Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: 2013, S Laubach, Warum erinnern?, S

55 Entwurf eines Unterrichtsmodells Nach Hans-Walter Schmuhl werden die NS-Medizinverbrechen vor allem im Kontext folgender bioethischer Debatten thematisiert: bzgl. Sterbehilfe und Früheuthanasie, der Sterilisation behinderter Menschen, im Zusammenhang mit Präimplantationsdiagnostik und Reproduktionsmedizin, gelegentlich auch bei der Zulassung fremdnütziger Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patient/innen. 5 Darüber, ob das historische Argument in diesen Diskussionen heute noch eine Rolle spielen soll, gibt es geteilte Meinungen. Während die einen in der Diskussion um die Sterbehilfe bzw. den assistierten Suizid gewisse Analogien zur nationalsozialistischen Euthanasie sehen, weisen andere die Berechtigung einer solchen Argumentation strikt zurück. Medizinethiker/innen wie z.b. Michael Burleigh empfinden das Geschichtsargument als Hemmschuh in den gegenwärtigen bioethischen Debatten. Er fordert daher, dass die Euthanasiedebatte ohne Rückgriff auf den Nationalsozialismus geführt werden müsse, und unterstellt, dass die NS-Analogien vorgeschoben werden, um sich nicht auf die Diskussion konkreter Fälle einlassen zu müssen. 6 Im Gegensatz dazu betont z.b. Michael Wunder, dass bioethische Debatten gerade in Deutschland nicht ohne Bezug auf Geschichte auskommen können. Eine besondere Rolle spielt dieser im Bereich der Euthanasie, wo die Frage nach dem Wert des Lebens am radikalsten gestellt wird. 7 Allgemein kann gesagt werden, dass die NS-Medizin als Argument stärker bei den Gegner/innen der Lockerung bestehender gesetzlicher Regelungen zu finden ist. Jedoch fallen diese Bezüge eher oberflächlich und undifferenziert aus. Weder Befürworter/innen noch Gegner/innen argumentieren nach dem Urteil von Hans-Walter Schmuhl auf der Höhe der geschichtswissenschaftlichen Forschung, sodass oft ein verzerrtes und verkürztes Bild des Nationalsozialismus entsteht. Daher folgert er: Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Rekurs auf die nationalsozialistische Vergangenheit im aktuellen Medizinethikdiskurs sofern es nicht bloß um die Diffamierung des Gegners geht bislang auf höchst oberflächliche Art und Weise erfolgt ist. Zu einem Austausch zwischen der Medizin- und Zeitgeschichte auf der einen, der Medizinethik auf der anderen Seite ist es bisher nur in Ansätzen gekommen. Es zeigt sich aber auch, dass die Möglichkeiten eines interdisziplinären Dialogs bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Mehr noch: Eine tragfähige Medizinethik ist ohne historische Reflexion nicht denkbar. 8 Keinesfalls kann es in der Argumentation um eine Gleichsetzung von NS-Euthanasie und Sterbehilfe heute gehen. Denn die gegenwärtigen Forderungen nach einer Liberalisierung der gesetzlichen Regelungen argumentieren mit dem Ideal der Autonomie, der individuellen Entscheidungsfreiheit sowie den Patientenrechten. Gerrit Hohendorf betont aber, dass ein Ignorieren der historischen Problematik auch nicht weiterführt: 5 Vgl. Hans-Walter Schmuhl: Nationalsozialismus als Argument im aktuellen Medizinethik-Diskurs. Eine Zwischenbilanz. In: Andreas Frewer / Clemens Eickhoff (Hg.): Euthanasie und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik. Frankfurt, New York: 2016, S , S.408 [In Folge zitiert als Schmuhl, Nationalsozialismus]. 6 Vgl. Michael Burleigh: Die Nazi-Analogie und die Debatten zur Euthanasie. In: Andreas Frewer / Clemens Eickhoff (Hg.): Euthanasie und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik. Frankfurt, New York: 2016, S , S.421 und Vgl. Michael Wunder: Medizin und Gewissen Die neue Euthanasie-Debatte in Deutschland vor historischen und internationalen Hintergründen. - In: Andreas Frewer / Clemens Eickhoff (Hg.): Euthanasie und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik. Frankfurt, New York: 2016, S , S Schmuhl, Nationalsozialismus, S

56 Entwurf eines Unterrichtsmodells Aber das so genannte Euthanasie-Tabu wird sich auch nicht dadurch auflösen lassen, dass man Geschichte Geschichte sein lässt. Vielmehr kann zumindest in Deutschland und Österreich eine gesellschaftliche Debatte über unseren Umgang mit kranken, behinderten und alten Menschen nur dann offen und ohne Tabuisierung geführt werden, wenn auch die Euthanasie -Toten gleichberechtigt zum gesellschaftlichen Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus dazugehören. 9 Interessanter Weise wählt auch Thomas Laubach als exemplarisches Anwendungsfeld seiner anamnetischen Ethik die bioethische Reflexion. Seiner Meinung nach lässt gerade die Erinnerung an Situationen, Positionen und Argumente der Vergangenheit Problemlagen deutlicher hervortreten, hilft diese einzuschätzen und zu bewerten. Nur auf diese Weise können begründete Verhaltensvorschriften, sittliche Verpflichtungen und Handlungsregeln erstellt werden Ziele, Kompetenzen und didaktische Überlegungen Im Religionsunterricht an österreichischen Schulen sollen folgende Kompetenzen erworben werden: 11 Religiöse Kompetenzen: Dazu zählen z.b. das Wahrnehmen religiöser Phänomene, Wissen über religiöse Inhalte, Sprach-, Interaktions- und Dialogfähigkeit, religiöse Orientierungs- und Deutungsmuster, die das eigene Leben leiten können. Ethisch-moralische Kompetenzen: In diesen Bereich gehört z.b. das Entwickeln einer Sensibilität für ethische Fragen, von Kritik- und Konfliktfähigkeit. Personale und soziale Kompetenzen: Diese betreffen sowohl dem Umgang mit sich selbst wie auch mit anderen und zeigen sich z.b. in Dimensionen wie Achtsamkeit, Empathie, Kooperation, Kompromissfähigkeit oder Wertschätzung von religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Differenzen. Abbildung 1: Kompetenzmodell Religion (Grafik HLTW13) 9 Gerrit Hohendorf: Die nationalsozialistischen Krankenmorde zwischen Tabu und Argument Was lässt sich aus der Geschichte der NS-Euthanasie für die gegenwärtige Debatte um die Sterbehilfe lernen. - In: Stefanie Westermann / Tim Ohnhäuser / Richard Kühl (Hg.): NS- Euthanasie und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung Gedenkformen Betroffenenperspektiven. Berlin: 2001, S , S.212 (= Medizin und Nationalsozialismus; 3) [In der Folge zitiert als Hohendorf, Krankenmorde]. 10 Vgl. Laubach, Warum erinnern?, S.336f. 11 Das Folgende orientiert sich an folgenden Behelfen: Die kompetenzorientierte Reifeprüfung aus Religion. Grundlagen, exemplarischen Themenbereiche und Aufgabenstellungen. Hrsg. vom BMUKK. 5/2012, als PDF abrufbar unter , besonders S und Handreichung zur Unterstützung eines kompetenzorientierten katholischen Religionsunterrichts und zur Gestaltung der neuen Reife- und Diplomprüfung (BMHS und BAKIP/BASOP). Hrsg. von der Arbeitsgruppe der Fachinspektoren/innen für kath. Religion an mittleren und höheren Schulen , als PDF abrufbar unter , besonders Punkt 5. 56

57 Entwurf eines Unterrichtsmodells Bei der Entwicklung des Unterrichtsentwurfs standen vor allem folgende Aspekte im Fokus: Ein wesentliches Ziel war das Aufzeigen der ideologisch-wissenschaftlichen Entwicklungslinien, die schließlich in der NS-Euthanasie in die Praxis umgesetzt wurden. Die Schüler/innen sollen sich damit auseinandersetzen, dass solche Ideen nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland, sondern in vielen Ländern des Westens vertreten wurden. In den Schüler/innen soll durch die Auseinandersetzung mit den Themen Eugenik und Rassenhygiene die Sensibilität für Fragestellungen besonders im Bereich der Bioethik geweckt werden, in dem manche Argumentationen unter verändertem Vorzeichen wiederkehren. Sie sollen zur Bildung einer eigenen Meinung in diesen Themenbereichen angeregt werden. Somit steht hier die Stärkung der ethisch-moralischen Kompetenz im Vordergrund. Weiters sollen den Schüler/innen die historischen Hintergründe der Aktion T4 vermittelt werden. Hier wird gleichzeitig das Arbeiten mit historischen Quellen und Texten trainiert, das auch für den Religionsunterricht eine wesentliche Kompetenz darstellt. Mit der Thematisierung christlich motivierten Widerspruchs gegen das Euthanasieprogramm soll gezeigt werden, dass religiöse Einstellungen in ein entsprechendes gesellschaftliches und politisches Handeln münden sollten. Die Schüler/innen sollen ermutigt werden, auf Grund ihrer Wertvorstellungen eigenständige Entscheidungen zu fällen und sich an politischen Vorgängen aktiv zu beteiligen. Die Stärkung der Bereitschaft zu selbstreflexivem Handeln in Gesellschaft und Politik fällt sowohl in den Bereich religiöser wie auch der persönlichen und sozialen Kompetenz. Mit den Themen Gedenkkultur und Lernen aus der Geschichte wird die Bedeutung geschichtlicher Ereignisse für heute ins Zentrum gestellt. Aus zahlreichen Diskussionen mit meinen Schüler/innen weiß ich, dass manche zur Einschätzung tendieren, es reiche, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Geschichte vor allem in der Form, wie sie in der Schule begegnet wird oft als überflüssiger Ballast angesehen. Das führt zu einer sehr oberflächlichen Betrachtung verschiedener Erscheinungen unserer Zeit, da diese ja maßgeblich historisch bedingt sind. Viele Phänomene können dann aus Ermangelung der geschichtlichen Dimension nicht richtig eingeordnet und beurteilt werden. Hier zielt der Unterrichtsentwurf darauf ab, den Schüler/innen die Bedeutung geschichtlichen Wissens für heute deutlicher vor Augen zu führen und ein Lernen aus der Geschichte zu initiieren. Die Methode des Gruppenpuzzles fordert und fördert bei den Schüler/innen die Fähigkeit zur Eigenständigkeit und Teamarbeit. Die Experten/Expertinnen-Rolle in der zweiten Phase der Gruppenarbeit ruft die Lernenden in die Verantwortung, sich das Thema zumindest so weit anzueignen, dass sie die wesentlichen Punkte weitergeben können. Teamfähigkeit, Eigenverantwortung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, sind zentrale persönliche und soziale Kompetenzen. 57

58 Entwurf eines Unterrichtsmodells Wie bereits gesagt, standen in der Konzeption des Unterrichtsentwurfs die ideologischen Entwicklungslinien von der Eugenik zur Praxis der Euthanasie im Zentrum. Automatisch wird damit aber auch die Täter/innenperspektive eingenommen. Bereits der Text von Alfred Döblin ist aus dem Blickwinkel des am Euthanasieprogramm beteiligten Arztes geschrieben. In den Gruppenarbeiten kommen zwar auch die Opfer und deren Angehörige zu Wort, aber sie stehen nicht als Akteur/innen im Zentrum. Damit schreibt auch dieser Entwurf eine Problematik fort, die die historische Forschung zur NS-Euthanasie generell betrifft. So weisen Heiner Fangerau und Matthis Krischel darauf hin, dass auch in der Geschichtsschreibung lange die Täterperspektive dominierte. Einer der Gründe dafür war der Wunsch, das Geschehene zu verstehen, weswegen vor allem nach Tätermotiven und -profilen gefragt wurde. Auch bot das Abschieben der Schuld auf wenige Haupttäter/innen eine moralische Entlastung der Mitläufer/innen. Ende der 60er- und in den 70er-Jahren traten die Kontinuitäten in der Psychiatrie in den Vordergrund, wobei sich die Diskussionen wieder an einzelnen Personen entzündeten. Die Seite der Betroffenen kam erst seit den 80er-Jahren in den Blick der Forschung. 12 Die vom Nationalsozialismus in die Opferrolle gezwängten Personen blieben auch nach Ende des Regimes den Täter/innen gegenüber in einer unterlegenen Position. Zudem suggeriert der Begriff Opfer zumindest ein passives Hinnehmen des Schicksals, wenn nicht sogar eine Teilschuld am Geschehenen. Dieses wurde oft mit persönlichen Defiziten der Betroffenen erklärt. Oft schwang das unausgesprochene Fazit mit: Die Opfer waren `jüdisch, `behindert oder `psychisch krank und damit selber schuld. 13 Aus diesen Gründen plädieren Heiner Fangerau und Matthis Krischel dafür, die Betroffenenperspektive stärker in den Vordergrund zu stellen. Von dieser könnte man lernen, dass auch gegen den übermächtigen NS-Staat und dessen Behörden aufbegehrt wurde, das Euthanasieprogramm bei einem Teil der Angehörigen nicht ohne Widerspruch blieb. Ziel müsste letztlich eine symmetrische und synthetisierende Betrachtung beider Seiten sein. 14 Auf jeden Fall würden so die Betroffenen und ihre Angehörigen als Akteur/innen ihres Lebens wenn auch unter extremen Belastungen - in den Blick kommen. c. Dorothee Roer betont, dass wir die Erzählungen der Betroffenen um unser selbst willen brauchen. Durch sie werden wir erinnert, dass Menschen Geschichte machen auch wir. Gerade in einer Zeit, in der oft die Leistungsfähigkeit eines Menschen als Wertmaßstab fungiert, sind solche Erinnerungen notwendig: Sie erinnern an die Menschenwürde und ihre Beschädigung, sie sprechen über Menschenrechte und wie sie 12 Vgl. Heiner Fangerau / Matthis Krischel: Der Wert des Lebens und das Schweigen der Opfer: Zum Umgang mit den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung in der Medizinhistoriografie. In: Stefanie Westermann / Tim Ohnhäuser / Richard Kühl (Hg.): NS- Euthanasie und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung Gedenkformen Betroffenenperspektiven. Berlin: 2001, S.19-28, S (= Medizin und Nationalsozialismus; 3) [In der Folge zitiert als Fangerau/Krischel, Wert des Lebens]. 13 Fangerau/Krischel, Wert des Lebens, S Vgl. Fangerau/Krischel, Wert des Lebens, S

59 Entwurf eines Unterrichtsmodells schleichend ausgehöhlt werden können, über die Indienstnahme der Wissenschaft für die Zwecke der Herrschenden, über den hippokratischen Eid und seine Demontage, um nur einige Themen zu nennen. 15 Hier können uns die Geschichten der Betroffenen helfen, aus der Geschichte zu lernen. Ich habe mich letztlich aus mehreren Gründen gegen die direkte Arbeit an Biographien entschieden: Ich wollte mich auf die wissenschaftlich-ideologischen Grundlagen konzentrieren und meinen Schüler/innen gleichzeitig Wissen darüber vermitteln, wie solche ideologischen Konstrukte in der Praxis wirksam werden können. Verbunden mit diesem Aspekt war mir die Frage wichtig, was Menschen dazu bringt, sich an einem solchen Verbrechen zu beteiligen. Und zuletzt wollte ich keine emotionalen Überreaktionen provozieren, zumal ich in diesem Bereich kaum mit einem Vorwissen der Lernenden rechnen konnte. Diese Gefahr erschien mir bei der intensiveren Beschäftigung mit Biographien Betroffener eher gegeben. Allerdings habe ich in beiden Klassen zusätzlich das Kurzvideo Grafeneck Die Mordfabrik auf der Schwäbischen Alb 16 eingesetzt, in dem die Schicksale von drei Personen vorgestellt werden, das einer Frau, eines Mannes und eines Kindes. Das Video gibt einen guten Einblick, welche Faktoren bei der Einweisung in eine psychiatrische Heilanstalt eine Rolle spielten. Gleichzeitig wird hier die Betroffenenperspektive ins Zentrum gestellt. Für die Gestaltung des Unterrichtsentwurfs wurde besonders auf Methodenwechsel wertgelegt. Bei den Schüler/innen sollte nicht der Eindruck entstehen, dass sie fünf Stunden lang immer dasselbe machen müssen. Ausgangspunkt des Unterrichtsentwurfs bildete der Text Alfred Döblins. Dieser umfasst für die Schüler/innen kopiert nicht einmal drei A4-Seiten. Dieser Umfang ist für Jugendliche in Minuten bewältigbar, was den Text gut im Unterricht einsetzbar macht. Denn so bleibt genügend Zeit, das Gelesene zu analysieren und erste Hinweise zu den historischen Hintergründen zu geben. Auch erscheint der Text bis auf wenige Begriffe wie Trottoir oder Raptus, die heute kaum mehr verwendet werden, nicht allzu schwierig und kann daher nicht nur in der Gruppe, sondern auch alleine gelesen werden. Schwierigkeiten könnten sich nur dadurch ergeben, dass die Schüler/innen es nicht gewohnt sind, sich im Religionsunterricht mit literarischen Texten, v.a. nicht in ihrem gesamten Umfang, auseinanderzusetzen und sie sich durch die Art des Arbeitens zu stark an den Deutschunterricht erinnert fühlen. Die Erarbeitung der historischen Hintergründe erfolgt mit Hilfe eines Gruppenpuzzles. Die Schüler/innen setzen sich mit einem Teilaspekt des Themas intensiv auseinander. Am Ende werden die Einzelaspekte zusammengeführt. Diese Methode eignet sich besonders gut für komplexere Themen, die in mehrere kleinere Bereiche geteilt werden können. 15 Roer, Zeugenschaft, S Das Video Grafeneck Die Mordfabrik auf der Schwäbischen Alb ist auf der Website Planet Wissen unter abrufbar. 59

60 Entwurf eines Unterrichtsmodells Für die Thematik der Aufarbeitung nach 1945 wurde die Form einer Powerpoint-Präsentation gewählt. Nach der Gruppenarbeit der vorangegangenen Stunden bildet diese stärker auf die Lehrperson zentrierte Methode eine gewisse Abwechslung. Allerdings sollten Fragen nicht übergangen und Diskussionen durchaus gefördert werden. Auch kann die Präsentation durch Impulsfragen an die Schüler/innen interaktiver gestaltet werden. Für den Abschnitt zum Lernen aus der Geschichte wurde mit einer Positionierungsübung eine aktivierende Methode gewählt. Die Bearbeitung der kleinen Anforderungssituation und des Feedbacks erfolgte wieder in Einzelarbeit. Weiters bietet sich das Thema NS-Euthanasie zum Besuch außerschulischer Lernorte an. In Wien könnte z.b. die Gedenkstätte Am Spiegelgrund besucht werden, aber auch eine Exkursion nach Hartheim wäre möglich. An beiden Orten gibt es entsprechende pädagogische Angebote, die das Unterrichtsprojekt ergänzen und vertiefen könnten. Ebenfalls möglich wäre die Weiterarbeit mit dem Film Nebel im August, in dem das Thema aus dem Blickwinkel eines Jungen aufgegriffen wird. 4.2 Aufbau der Unterrichtseinheiten Überblick über den Block Sterbehilfe, Hospizbewegung und Palliativmedizin In der ersten Stunde zum Thema Sterbehilfe müssen zunächst die Begriffe geklärt werden. Dazu werden mit der Methode der Schreibdiskussion die Assoziationen der Schüler/innen erhoben und anschließend die Begriffe aktive, passive und indirekte Sterbehilfe geklärt. Denn diese Differenzierungen sind den Jugendlichen meistens nicht geläufig. Die folgenden fünf Stunden sind der Erarbeitung des Themas NS-Euthanasie gewidmet. Nach Beendigung des historischen Teils werden in Rückgriff auf die in der ersten Stunde geklärten Begriffe die gesetzliche Lage in Österreich sowie die Position der katholischen Kirche bearbeitet. Im Anschluss daran erfolgt ein Blick nach Europa, wobei vor allem auf die Benelux-Staaten und die Regelungen zum assistierten Suizid in der Schweiz eingegangen wird. Anschließend wird den Schüler/innen die Möglichkeit gegeben, ihre eigenen Standpunkte miteinander zu diskutieren. Den Abschluss des Themas bilden zwei Stunden zu den Bereichen Hospizbewegung und Palliativmedizin, wobei auch das Modell der Sterbephasen nach Elisabeth Kübler-Ross vorgestellt wird. 60

61 Entwurf eines Unterrichtsmodells Ausarbeitung des historischen Teils zur NS-Euthanasie Der Block zum Thema NS-Euthanasie umfasst fünf Unterrichtseinheiten, die in der Folge ausführlich dargestellt werden. Das verwendete Material findet sich im Anhang. 1. Stunde: Die Fahrt ins Blaue In der ersten Unterrichtseinheit steht der Text Alfred Döblins im Zentrum. Die Schüler/innen sollen sich mit diesem intensiv auseinandersetzen. Eine erste Blitzlichtrunde nach der Lektüre des Textes zielt darauf ab, dessen Wirkung bei den Schüler/innen zu erkunden. Mit den Impulsfragen am Arbeitsblatt werden wichtige Aspekte des Themas angesprochen: Fasst den Inhalt des Textes in wenigen Sätzen zusammen. Erstellt einen Ablauf der Evakuierungsaktionen, so wie sie im Text beschrieben sind. In welchem Gewissenskonflikt befindet sich der Arzt? Warum wehrt er sich nicht? Beschreibe die Haltung, die der Zuhörer und damit auch die Leser/innen dem erzählenden Arzt und dem erzählten Geschehen gegenüber einnimmt. Was verbindest du mit dem Ausdruck Fahrt ins Blaue? Warum hat Döblin seinem Text diesen Titel gegeben? Um jeder Schülerin/jedem Schüler die Möglichkeit zur ausgiebigen Auseinandersetzung mit dem Text zu geben, werden diese Impulsfragen zunächst in Einzel- oder Partnerarbeit beantwortet und dann im Plenum besprochen. Die Textbearbeitung wird mit einer offenen Frage abgeschlossen: Welche Fragen kommen dir nach der Beschäftigung mit dem Text? Welcher Aspekt des Themas interessiert dich besonders, was möchtest du noch wissen? Die Schüler/innen schreiben ihre Fragen auf Kärtchen. Diese können dann geclustert und auf ein Plakat geklebt werden. Alternativ kann auch an die Tafel geschrieben und das Ergebnis anschließend mit dem Handy abfotografiert werden. Diese Fragen geben der Lehrkraft Orientierung bzgl. jener Aspekte, die in der Diskussion nach der Gruppenarbeit verstärkt aufgegriffen werden sollten. Zeit Inhalt Methode/ Sozialform Material 5 min 1. Einstieg: Aufbau der Stunde: Text: Die Fahrt ins Blaue (Lektüre Bearbeitung Meine Fragen) Informierender Unterrichtseinstieg 20 min 2. Die Fahrt ins Blaue: Lektüre des Textes (AB Die Fahrt ins Blaue) gemeinsam oder einzeln lesen Textlektüre AB Die Fahrt ins Blaue 61

62 Entwurf eines Unterrichtsmodells Blitzlichtabfrage: Was ist euer erster Eindruck von diesem Text? Blitzlicht 15 min 3. Bearbeitung der Arbeitsaufträge: Einzelarbeit, dann Sammeln im Plenum Einzelarbeit AB Die Fahrt ins Blaue Weiterführende Informationen zum Text: Plenum Prosatext, am 3. Mai 1946 in der Badischen Zeitung erschienen, thematisierte öffentlich die NS-Euthanasie, richtige Auseinandersetzung mit dem Thema begann erst in den 80er-Jahren Informationen zu Text & Autor Euthanasie-Opfer waren (wie manch andere) sogenannte vergessene Opfer des NS-Regimes Alfred Döblin ( ): einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller der Moderne, Expressionismus zugeordnet (Hauptwerk Berlin Alexanderplatz). Stammt aus einer assimilierten jüdischen Familie, beginnt bereits im Gymnasium zu schreiben, studiert Medizin (Fach: Psychiatrie), praktiziert in Berlin, war politisch im linksbürgerlichen Spektrum der Weimarer Republik tätig 1933 Flucht nach Frankreich, nahm 1936 die französische Staatsbürgerschaft an, flieht vor der Kapitulation Frankreichs in die USA, wo er unter ärmlichen Bedingungen lebte, konvertiert 1941 zum Katholizismus, bringt ihm Ablehnung von ehemaligen Weggefährten (Brecht z.b.) Kehrte als einer der ersten Schriftsteller nach Deutschland zurück, geht nach Baden-Baden (arbeitet als Kulturoffizier in der französischen Besatzungszone), kann in Deutschland nicht mehr Fuß fassen, geht 1953 wieder nach Frankreich, stirbt 1957 an Parkinson 10 min 4. Meine Fragen: Welche Fragen kommen dir nach der Beschäftigung mit dem Text? Welcher Aspekt des Themas interessiert dich besonders, was möchtest du noch wissen? auf Kärtchen schreiben, clustern und auf ein Plakat kleben (oder an die Tafel schreiben & fotografieren) Formulieren eigener Fragestellungen Kärtchen, Plakat (oder Handy) [ 5. Abschluss: Ausblick Ausblick auf die Fortführung des Themas geben (Gruppenarbeit) Information ] 2. Stunde: Gruppenpuzzle zur NS-Euthanasie Die zweite Unterrichtseinheit des Themenblocks ist der Erarbeitung der historischen Hintergründe der NS- Euthanasie gewidmet. In Gruppen sollen wesentliche Aspekte anhand von Quellen und erläuternden Texten bearbeitet werden: 62

63 Entwurf eines Unterrichtsmodells Gruppe 1: Rassenlehre, Rassenhygiene und die Vernichtung lebensunwerten Lebens Gruppe 2: Aktion T4 - Organisation und Durchführung Gruppe 3: Opfer und Angehörige Gruppe 4: Reaktionen und Widerstand - das offizielle Ende der zentralen Euthanasie Als Methode wird ein Gruppenpuzzle, d.h. eine zweiteilige Gruppenarbeit, angewandt. In der ersten Runde beschäftigt sich jede Gruppe mit einem der vier Themen. In der sogenannten Expertenrunde werden die Gruppen so zusammengesetzt, dass sich in jeder zumindest eine Person jeder ursprünglichen Gruppen befindet. Somit ist jedes Themengebiet durch eine Person vertreten, die ihr Wissen an die anderen weitergeben kann. Zeit Inhalt Methode/ Sozialform Material 1. Einstieg: 5 min Aufbau der Stunde: Organisatorisches (Erläuterung der Methode, Einteilung der Gruppen) Informierender Unterrichtseinstieg Arbeitsphase 10 min 2. Organisation: Erläuterung der Methode Gruppenpuzzle Einteilung der Gruppen Austeilen der Materialien Organisation Materialien für die Gruppenarbeit 30 min 3. Gruppenpuzzle/1. Runde: Arbeitsphase in den Gruppen Gruppenarbeit 5 min 4. Beendigung der Unterrichtseinheit: Einsammeln der Arbeitsmaterialien Plenum Klären, wie viel Zeit noch für die erste Runde benötigt wird 3. Stunde: Gruppenpuzzle - Expertenrunde Erfahrungsgemäß reicht die Arbeitsphase in der 2. Stunde nicht aus, um alle Arbeitsaufträge zu erledigen. Aber auch wenn die Schüler/innen bereits fertig sind, ist es ratsam am Anfang der Stunde noch einmal in die ursprünglichen Gruppen zurückzukehren. Gemeinsam ist es leichter, wieder ins Thema hineinzufinden und sich auf die Expertenrunde vorzubereiten. Der Arbeitsauftrag dazu könnte lauten: Was sind die wichtigsten Punkte, die wir als Experten bzw. Expertinnen den anderen mitteilen möchten? Für die Expertenrunde gibt es ein eigenes Arbeitsblatt, auf dem die wichtigsten Informationen zu allen vier Themen eingetragen werden. Als Abschluss dieser Runde sollen die Schüler/innen überlegen, ob ihre Fragen, mit denen sie an die Gruppenarbeit herangegangen sind, mittlerweile beantwortet wurden, was noch 63

64 Entwurf eines Unterrichtsmodells offen ist bzw. ob in der Beschäftigung mit den Materialien neue Fragen entstanden sind. Diese können in einem abschließenden Plenum diskutiert werden. Zeit Inhalt Methode/ Sozialform Material 1. Einstieg: 5 min Aufbau der Stunde: Abschluss der Arbeitsphase I Expertenrunde Austausch Informierender Unterrichtseinstieg Abschluss: Meine Fragen beantwortet? 5-15 min 2. Abschluss der Arbeitsphase: Beendigung der Gruppenarbeit bzw. Wiedereintauchen in das Thema (Arbeitsauftrag: Was möchten wir den anderen mitteilen?) Gruppenarbeit Materialien für die Gruppenarbeit 3. Gruppenpuzzle/Expertenrunde: 20 min Neuzusammensetzung der Gruppen Austausch entlang des Arbeitsblatts für die Expertenrunde Abschluss: Denkt an die Fragen, die ihr am Beginn der Beschäftigung mit diesem Thema hattet. Wurden sie beantwortet? Ist noch etwas offen? Sind neue Fragen entstanden? Gruppenarbeit AB Expertenrunde min 4. Plenum: Meine Fragen beantwortet? Welche Fragen sind noch offen? Gibt es neue Fragen? Austausch im Plenum Plenum Plakat mit Fragen Die benötigte Zeit hängt hier stark vom Arbeitstempo der Schüler/innen ab. Eventuell muss die Thematisierung der offenen Fragen auf die Folgestunde verschoben werden. 4. Stunde: Aufarbeitung nach 1945 und Gedenken In der 4. Stunde soll die Aufarbeitung der NS-Euthanasie nach 1945 im Zentrum stehen. Diese wird anhand einer Powerpoint-Präsentation thematisiert: der Nürnberger Ärzteprozess, die Euthanasie-Prozesse in Österreich, die Rechtfertigungen der Täter/innen, der Prozess gegen Dr. Renno in den 60er-Jahren, der Kampf der Euthanasie-Geschädigten um Anerkennung als NS-Opfer und der Fall Gross. 64

65 Entwurf eines Unterrichtsmodells Zeit Inhalt Methode/ Sozialform Material 5 min 1. Einstieg: Aufbau der Stunde: Aufarbeitung der NS-Euthanasie Gedenken Informierender Unterrichtseinstieg 2. Aufarbeitung der NS-Euthanasie: 45 min PPT Aufarbeitung nach 1945 durchgehen, auftretende Fragen diskutieren Formen des Gedenkens thematisieren (bzw. nachfragen, welche Formen die Schüler/innen angemessen fänden) Informationsblock Diskussion PPT Aufarbeitung nach 1945 Ursprünglich war in derselben Stunde auch noch ein Abschnitt zum Lernen aus Geschichte vorgesehen. Bei der ersten Durchführung hat sich jedoch gezeigt, dass sich alleine aus den Informationen über die verzögerte Auseinandersetzung mit dem Thema eine Vielzahl von Fragen und Diskussionen ergeben. Daher wurden die beiden Themen in der zweiten Klasse auf zwei Unterrichtseinheiten verteilt. 5. Stunde: Lernen aus Geschichte? In einem ersten Schritt sollen sich die Schüler/innen mit der Frage auseinandersetzen, ob und warum wir aus der Geschichte lernen sollen. Die Impulszitate regen den Meinungsaustausch in der Gruppe an. Bei größeren Klassen kann auch mit mehreren Zitaten gearbeitet werden. Schließlich werden die unterschiedlichen Ansichten im Plenum diskutiert. Abschließend sollen die Schüler/innen anhand einer kleinen Anforderungssituation das Gelernte zusammenfassen und schließlich den gesamten Block evaluieren. Zeit Inhalt Methode/ Sozialform Material 1. Einstieg: 5 min Aufbau der Stunde: Gedächtniskultur heute Lernen aus der Geschichte? Informierender Unterrichtseinstieg Abschluss - Evaluation 25 min 2. Lernen aus der Geschichte? 2 Plakate mit Zitaten von George Santayana (Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.) bzw. Mahatma Gandhi (Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.) Positionierung 2 Plakate mit den Sprüchen 65

66 Entwurf eines Unterrichtsmodells stellt euch zu dem Plakat, das eher eurer Meinung entspricht Diskussion tauscht euch kurz darüber aus, warum Menschen aus der Geschichte lernen sollen bzw. aus ihr nicht lernen Abfrage der Argumente, anderer Gruppe Möglichkeit zur Entgegnung geben Diskussion im Plenum Impulsfrage: Hilft Gedenken/Erinnern beim Lernen aus der Geschichte? 15 min 3. Abschluss und Feedback: AB Warum gedenken? mindestens 15 min Zeit, um Text zu schreiben und Feedback auszufüllen 15 min AB Warum gedenken? 4.3 Praktische Durchführung in zwei 3. Jahrgängen HLW Der Unterrichtsentwurf wurde im November 2016 und im Jänner 2017 in zwei dritten Jahrgängen der HLW durchgeführt. Die Schüler/innen waren demnach zwischen 16 und 17 Jahre alt Voraussetzungen und Durchführung Die 3HKC ist ein Jahrgang des Freizeit- und Eventmanagement-Zweigs der Schule, dessen Schwerpunkt das Projektmanagement bildet. Das in diesem Bereich erworbene Wissen müssen die Schüler/innen jährlich bei der Organisation größerer und kleinerer Projekte umsetzen. Im Schuljahr 2016/17 bestand die Religionsgruppe katholisch aus elf Schüler/innen, drei Burschen und acht Mädchen. Diese unterteilte sich in eine Kerngruppe von sieben Schüler/innen, die den Religionsunterricht bereits im ersten und zweiten Jahrgang besucht hatten. Zwei Burschen und zwei Mädchen wurden durch die im dritten Jahrgang anstehende Romreise zur Teilnahme motiviert und bildeten eine Extragruppe, die nicht immer bereit war, sich auf die Themen des Unterrichts einzulassen. Bei der 3HRD handelt es sich um einen Jahrgang des International Relations-Zweigs, in dem manche Fächer in Englisch unterrichtet werden. Den katholischen Religionsunterricht besuchten im Schuljahr 2016/17 14 Schüler/innen, elf Mädchen und drei Jungen. Die Gruppe so wie die Klasse insgesamt zeichnet sich durch eine hohe Leistungsbereitschaft und -fähigkeit aus. Mehrere Schüler/innen sind politisch sehr interessiert und ausgesprochen kritisch gegenüber gesellschaftlichen Zuständen und aktuellen Entwicklungen z.b. bzgl. Gerechtigkeit oder Medien eingestellt. Die Durchführung erfolgte in beiden Klassen ohne größere Probleme. Das Thema NS-Euthanasie war den meisten Schüler/innen unbekannt. Nur in der 3HKC befanden sich zwei Mädchen, die bereits in der vierten Klasse Unterstufe die Gedenkstätte Am Spiegelgrund besucht und daher ein gewisses Vorwissen hatten. 66

67 Entwurf eines Unterrichtsmodells Rückmeldungen der Schüler/innen Bei den Begründungen der Schüler/innen, warum wir uns auch heute noch mit dem Thema NS-Euthanasie beschäftigen sollen, wurde am öftesten der Imperativ Niemals wieder! genannt. Weil sich die Geschichte nicht wiederholen soll, müssen wir uns weiter mit ihr beschäftigen. Das zweite Argument galt dem Gedenken der Opfer, das von mehreren Schüler/innen thematisiert wurde. Ein Mädchen formulierte: [ ] und wenn man es vergisst, wäre es eine Beleidigung für die Opfer. Sollte alles vergessen werden, wäre dieses Programm erfolgreich gewesen, denn man würde die behinderten [sic!] und psychisch Kranken vergessen und so tun, als hätten sie nie gelebt. Einige Meldungen bezogen sich darauf, dass die NS-Euthanasie sowie der Nationalsozialismus allgemein Teil unserer Geschichte sind, dass die Schüler/innen noch von Personen innerhalb der Familie wissen, die damals gelebt haben. Andere begründeten die Notwendigkeit, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, damit, dass es sich um wichtige Ereignisse der Weltgeschichte handelt. Eine weitere Gruppe von Argumenten kreiste um die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen, die aus diesen geschichtlichen Ereignissen zu ziehen sind. Die Schüler/innen sehen in den Ereignissen vor 75 Jahren eine Warnung und mahnen Wachsamkeit bzgl. gegenwärtiger gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen ein. Sie betonten die eigene Verantwortung in diesem Bereich, die auch darin besteht, Ideen und Argumente zu hinterfragen, sich eine eigene Meinung zu den verschiedenen Themen zu bilden und ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Mehrere Personen wiesen in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Bildung hin. Bzgl. des Lernens aus der Geschichte verwiesen mehrere darauf, dass Menschen mit Behinderungen heute in unserer Gesellschaft mehr Rechte haben bzw. gleichgestellt sind. Betont wurde, dass alle Menschen trotz ihrer Verschiedenheiten gleich viel wert sind. Daher müsse auch weiter gegen noch bestehende Diskriminierungen gekämpft werden. Ebenfalls mehrfach erwähnt wurde, dass sich die Schüler/innen glücklich schätzen (sollten), heute zu leben und man dafür mehr Dankbarkeit bzw. Zufriedenheit zeigen sollte. Die Position, dass die Menschen aus Geschichte nicht lernen könnten und sich daher Ereignisse in ähnlicher Weise immer wiederholen würden, wird nur von einer einzigen Person vertreten. Zwei Schüler/innen meinten, dass das Thema zwar emotional belastend wäre, aber es trotzdem wert ist, sich damit zu beschäftigen. Das Feedback ergab, dass die meisten Schüler/innen das Thema interessant gefunden haben, nur zwei gaben an, dass Geschichte sie nicht so interessiert. Besonders hervorgehoben wurden der Text von Alfred 67

68 Entwurf eines Unterrichtsmodells Döblin, die Gruppenarbeit und die Möglichkeit, mit Quellen zu arbeiten. Positiv empfanden die Schüler/innen die Abwechslung bei den Methoden, die es ermöglichte, sich auf verschiedene Weisen Wissen anzueignen. Bei der Kritik zeigen sich u.a. die persönlichen Präferenzen der Schüler/innen. So wünscht sich eine Person mehr Einzelarbeit, weil sie sich da besser konzentrieren und leichter in die Tiefe gehen kann. In einer anderen Rückmeldung wurde bedauert, dass es nicht möglich war, sich mit allen Gruppentexten zu beschäftigen. Denn es wurde als schwierig empfunden, das erworbene Wissen so weiterzugeben, dass die anderen wirklich die Zusammenhänge verstehen können. Eine weitere Person fand die Powerpoint-Präsentation nicht so interessant, während sie eine andere Rückmeldung als Highlight hervorhob. Bei der Gruppenarbeit wurden die Texte der Gruppe 4 als zu schwierig empfunden. Weiters kritisierten zwei Schüler/innen, dass der Schwerpunkt zu stark auf der Vergangenheit lag, die Debatte um die Sterbehilfe heute aber ausgespart blieb. Dies zeigt, dass den beiden die Einbindung des historischen Kapitels in den Gesamtzusammenhang nicht klar war, denn mit den gegenwärtigen Diskussionen und den Regelungen in den verschiedenen europäischen Ländern haben wir uns in den folgenden Wochen auseinandergesetzt. Bei der letzten Frage, ob sie etwas Relevantes gelernt haben, wiederholten sich im Großen und Ganzen die Antworten, die die Schüler/innen bereits im Text am Beginn gegeben hatten Persönliche Reflexion des Unterrichtsblocks Die Schüler/innen beider Klassen ließen sich bereitwillig auf das Thema NS-Euthanasie ein. Auch die vier Schüler/innen der 3HKC, die sich nicht immer am Unterricht beteiligten, zeigten sich durchaus interessiert. Auf den Text von Alfred Döblin reagierten sie allgemein betroffen. Die Fragen Warum? und Was ist nach Ende der NS-Zeit mit den Täter/innen geschehen? standen sofort im Raum. An der Gruppenarbeit haben sich die Schüler/innen engagiert beteiligt und setzten sich zumindest in der ersten Stunde intensiv mit den Quellentexten und Informationen auseinander. In beiden Klassen hatte die Gruppe 4 Probleme mit dem Textverständnis bzw. damit, aus den Texten die Argumentation gegen die Euthanasie herauszulesen. Die Schüler/innen fühlten sich überfordert und benötigten zumindest in der 3HRD viel Unterstützung. In der zweiten Stunde war die Arbeitshaltung nicht mehr ganz so ernsthaft, aber an der Expertenrunde haben sich alle beteiligt. Hier zeigte sich jedoch eine Schwachstelle der Methode Gruppenpuzzle. Denn wenn man Erarbeitungs- und Expertenrunde nicht in eine Unterrichtseinheit presst was hier auf Grund des Umfangs der Materialien keine Option war, geht man das Risiko ein, dass Schüler/innen in der zweiten Phase fehlen und die Gruppen umstrukturiert werden müssen. 68

69 Entwurf eines Unterrichtsmodells Die Stunde zur Aufarbeitung der NS-Euthanasie nach 1945 löste heftige Diskussionen über die Gründe dieser verschleppten Auseinandersetzung mit dem Thema aus. Bzgl. des Lernens aus der Geschichte äußerten sich die meisten Schüler/innen optimistisch. Vor einem weiteren Einsatz der Materialien würde ich vor allem die Texte von Gruppe 4 überarbeiten. Eventuell könnten kleinere Ausschnitte gewählt bzw. den Schüler/innen schon in den Unterlagen mehr Hilfestellungen angeboten werden. Mit den Äußerungen aus den Briefen der Angehörigen (Gruppe 4/Quelle 1) war ich von Anfang an unzufrieden, hatte aber in der mir für die Erstellung der Materialien verfügbaren Zeit nichts Entsprechendes gefunden. Hier würde ich bei einer Überarbeitung z.b. auf die Quellensammlung Hartheim. Wohin unbekannt von Johannes Neuhauser und Michaela Pfaffenwimmer 17 zurückgreifen. Generell fände ich eine Konzentration auf Hartheim sinnvoll, weil diese Gedenkstätte auch für Schulklassen aus dem Osten Österreichs in erreichbarer Distanz liegt. 17 Johannes Neuhauser / Michaela Pfaffenwimmer (Hg.): Hartheim. Wohin unbekannt. Briefe und Dokumente. Wien:

70 Zusammenfassung 5 Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit besteht aus mehreren Teilen. Der erste Abschnitt des Hauptteils ist der Rolle der Literatur in der Gedächtnis- und Erinnerungskultur gewidmet. Nach Klärung der theoretischen Grundlagen des Konzepts der Erinnerungsorte und des kulturellen Gedächtnisses und einem Überblick über die Gedächtniskonzepte in der Literaturwissenschaft wurde die Bedeutung von Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses behandelt. Nach Astrid Erll lässt sich deren besondere Stellung in der Erinnerungskultur damit erklären, dass sowohl literarische Texte als auch Erinnerungsprozesse Elemente der Realität auswählen, neu organisieren und verdichten. Bezogen auf literarische Texte kann hier mit Paul Ricœur von einer dreifachen Mimesis gesprochen werden. Sowohl Literatur als auch das kollektives Gedächtnis erzeugen auf diese Weise Welt und stiften Bedeutung. Im Gegensatz zu anderen Symbolsystemen des kollektiven Gedächtnisses können literarische Darstellungen jedoch mit den zur Verfügung stehenden Daten freier umgehen, wodurch aber der Anspruch auf Referenzialität, Faktentreue und Objektivität sinkt. Auf Grund dieser Eigenschaften können literarische Darstellungen Vergangenheitsversionen entwerfen, bestärken oder subversiv unterlaufen. Sie können marginalisierte Stimmen in die Diskussion um die Deutungshoheit vergangener Ereignisse einbringen. Gleichzeitig prägen sie das Erinnern selbst und die Wahrnehmung der Vergangenheit mit. Wichtig für den Fortgang der Arbeit erwies sich Astrid Erlls Begriff der kollektiven Texte, die im Gegensatz zu kulturellen Texten keine verbindlichen Elemente des kulturellen Gedächtnisses darstellen, sondern unter Voraussetzung einer breiten Rezeption Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen konstruieren und vermitteln können und somit Geschichtsbilder und Identitätskonzepte mitprägen. Im zweiten Kapitel des Hauptteils behandelt Alfred Döblins Erzähltext Die Fahrt ins Blaue. Nach einer Interpretation des Textes wird die Frage erörtert, ob es sich bei dieser literarischen Darstellung der NS-Euthanasie um einen kollektiven Text handelt. Es zeigt sich, dass die Aufarbeitung in Justiz, Medizin und Öffentlichkeit nur schleppend erfolgte. So mussten die Euthanasie-Geschädigten in Österreich bis Mitte der 90er-Jahre warten, um als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt zu werden. Eugenisches Gedankengut war und ist in der Gesellschaft nach 1945 weit verbreitet, wodurch der Rückzug der Opfer und die gesellschaftliche Ausblendung befördert wurden. Dort, wo Euthanasie-Geschädigte Zeugnis ablegten, fand dieses keine Aufnahme, störte es doch die Nachkriegsordnung, die sich selbst als Opfer des Nationalsozialismus empfanden. In dieser Situation konnte Döblins frühe Aufarbeitung des Themas keine Breitenwirkung entfalten und somit auch die Gedächtnis- und Erinnerungskultur nicht beeinflussen. Damit muss die Frage, ob es sich bei Alfred Döblins Die Fahrt ins Blaue um einen kollektiven Text handelt, mit Nein beantwortet werden. 70

71 Zusammenfassung Das letzte Kapitel des Hauptteils stellt einen Unterrichtsentwurf vor, dem die literarische Darstellung Alfred Döblins zu Grunde liegt. In einer zweiphasigen Gruppenarbeit werden die wesentlichen Bereiche der Aktion T4 erarbeitet die ideologischen Grundlagen, Organisation und Durchführung, Opfer und Angehörige sowie Reaktionen und Widerstand. Zwei weitere Unterrichtseinheiten sind der Geschichte der Aufarbeitung der NS-Euthanasie sowie dem Lernen aus der Geschichte gewidmet. Das Feedback der Schüler/innen zweier dritter Jahrgänge HLW zeigt, dass wesentliche Ziele des Unterrichtsblocks erreicht werden konnten. So sind sich die meisten Schüler/innen der Bedeutung der Vergangenheit für unser Leben heute durchaus bewusst. Die Geschehnisse der NS-Zeit werden als Appell gesehen, gesellschaftliche und politische Entwicklungen wachsam zu verfolgen und sich aktiv in Entscheidungsprozesse einzubringen. Auch das Gedenken an die Opfer wird als wesentlich und sinnvoll eingeschätzt. Die Schüler/innen betonen die Wichtigkeit, sich über gewisse Themen eine eigene Meinung bilden zu können. Somit scheint die Beschäftigung mit dem Thema NS-Euthanasie durchaus geeignet, die ethisch-moralischen sowie die persönlichen Kompetenzen zu stärken. 71

72 Anhang 6 Anhang 6.1 Die Fahrt ins Blaue Text 72

73 Anhang 73

74 Anhang 74

75 Anhang 6.2 Verwendetes Unterrichtematerial Gruppenarbeit Arbeitsaufträge 75

76 Anhang 76

77 Anhang 77

78 Anhang 78

79 Anhang Gruppenarbeit Materialien 79

80 Anhang 80

81 Anhang 81

82 Anhang 82

83 Anhang 83

84 Anhang 84

85 Anhang 85

86 Anhang 86

87 Anhang 87

88 Anhang 88

89 Anhang 89

90 Anhang 90

91 Anhang 91

92 Anhang 92

93 Anhang 93

94 Anhang 94

95 Anhang 95

96 Anhang 96

97 Anhang Arbeitsblatt Expertenrunde 97

98 Anhang Powerpoint Aufarbeitung und Gedenken 98

99 Anhang 99

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