Wir sind stolz, Zigeuner zu sein
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- Arnim Hummel
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1 Wir sind stolz, Zigeuner zu sein Vom Leben und Leiden einer Sinti-Familie von Angela Bachmair
2 Vorwort Dieses Buch ist ein Geschichts- und ein Erinnerungsbuch zugleich. Es handelt vom Schicksal der Sinti in Deutschland, der Zigeuner, wie sie lange genannt wurden. Seit dem 15. Jahrhundert in Mitteleuropa nachgewiesen, sind sie bis heute eine Minderheit, die kaum jemals gesellschaftliche Anerkennung erhielt. Trotz der Emanzipationstendenzen des 18. und 19. Jahrhunderts sahen (und sehen) sie sich immer wieder Drangsalierungen ausgesetzt. Während des NS-Regimes erfuhr dies eine grausame Zuspitzung, als die Sinti und Roma in das tödliche Räderwerk von Rassismus und Holocaust hineingezogen wurden. Viele von ihnen wurden ermordet, noch mehr entrechtet und verfolgt, inhaftiert und deportiert. Angela Bachmair hat sich auf Spurensuche begeben und dabei wichtige Einblicke gewonnen. In ihrem Buch verbindet sie eigene Recherchen mit dem lebendigen Zeugnis der Überlebenden. Dem Leser entfaltet sie damit ein eindrückliches Panorama, in dem das Leben deutscher Sinti im 20. Jahrhundert plastisch dargestellt wird. Wir nehmen teil an Drangsalierung und Deportation, dem Kampf ums Überleben, mit dem Tod als ständigem Begleiter, aber auch am Mut, am Geschick und an der Hoffnung, die im Zweiten Weltkrieg das Überleben der deutschen Sinti-Familie Reinhardt ermöglichten. Besonders instruktiv ist die Darstellung der Nachkriegszeit. Mit dem Ende des NS-Regimes ging zwar für die deutschen Sinti die Zeit der unmittelbaren Lebensgefahr vorüber. Aber der Neuanfang im vom Krieg gezeichneten Deutschland war mühsam. Das Glück, mit dem bloßen Leben davongekommen zu sein, und so manche Wiedersehensfreude wurden doch begleitet von der Trauer um ermordete Angehörige. Hinzu traten Armut und neue Ausgrenzung, was die Suche nach neuen Existenzmöglichkeiten erschwerte. Die in diesem Buch besonders eindringlich skizzierten Bemühungen deutscher Sinti um Wiedergutmachung des im NS-Regime erlittenen Unrechts brachen sich nicht selten am 5
3 Unverständnis der Behörden und Gerichte. Erst seit den 1970er- Jahren änderte sich das gesellschaftliche Umfeld, sodass bescheidene Wiedergutmachungsleistungen erreicht wurden. Insofern evoziert das Buch von Angela Bachmair auch die Trias von Demokratie, Diktatur und dem Wiederaufbau eines demokratisch-freiheitlichen Gemeinwesens, die die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts so nachdrücklich prägte. Ihr entspricht der Dreiklang von Verbrechen, Erinnern und später Versöhnung, von welch letzterer das Buch mit seinen Interviews ebenfalls ein Zeugnis ablegt. In einer Zeit, in der die europäischen Sinti und Roma nach wie vor mit Ausgrenzung und auch mit Gewalt konfrontiert sind, ist dieses Zeugnis umso bedeutsamer. Prof. Dr. Andreas Wirsching Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München Berlin 6
4 Inhalt 1 Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Der Zigeunerhass ist wieder da Warum kommt erst jetzt jemand, den unsere Geschichte interessiert? Begegnung mit Anna Reinhardt und ihrer Familie Wir sind rausgeschmissen worden wie die Viecher. Deportation Von der Einschaffung ins Arbeitshaus ist Gebrauch zu machen! Stufen der Ausgrenzung Die Nazis waren Raubtiere. Im Lager, im Ghetto, auf der Flucht Die Zigeunerfrage ist in erster Linie eine Rassenfrage. Von der Verachtung zur Vernichtung Name: Reinhardt Eine große Sinti-Familie, ihre Mythen und ihre Opfer Ich hab doch gar keine Kindheit gehabt. Rückkehr nach Nördlingen dürfte eine Verfolgung aus rassischen Gründen so gut wie ausgeschlossen sein. Kampf um Wiedergutmachung
5 10 Die andern haben nicht gewusst, dass wir auch Menschen sind. Ein fast normales Leben einfach nicht mehr eingesperrt sein! Lebensweisen einer Minderheit Das darf doch nicht vergessen sein! Erinnern und Zusammenleben Zeittafel Die Mitglieder der Familie Reinhardt Anhang Dank
6 1 Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Der Zigeunerhass ist wieder da Herbst Die Medien berichten über Roma, die seit der Erweiterung der Europäischen Union aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland kommen, angeblich in großer Zahl und angeblich nur, um Kindergeld zu kassieren. In Fernseh-Talkrunden diskutieren Politiker und Bürger über Einwanderung in unser Sozialsystem und Sozialtourismus. Zeitungen berichten über bettelnde Roma auf den Straßen, über vermüllte Wohnungen, steigende Kleinkriminalität und verwahrloste Kinder in Städten wie Duisburg. Rechtsextreme machen vor der Bundestagswahl Wahlkampf mit Hetze gegen die Roma. Und dann kommen noch Berichte über ein blondes, blauäugiges Mädchen, das eine griechische Roma-Familie an geblich entführt und zum Betteln abgerichtet habe. Da ist es wieder, das alte Thema vom Zigeuner, der Kinder stiehlt und überhaupt alles klaut, was nicht niet- und nagelfest ist, der schmutzig und nicht in eine zivilisierte Gesellschaft integrierbar ist. Mit der Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts auch für Bulgaren und Rumänen begann in Deutschland eine Debatte über Armutsmigration, die an scharfen Tönen kaum zu überbieten ist. Wer betrügt, der fliegt, droht die bayerische CSU und sie ist sich der Zustimmung weiter Kreise sicher. Wenn Stimmung gegen die Armen aus dem Osten gemacht wird, sind dabei immer und vielleicht sogar an erster Stelle die Roma gemeint. Offenbar ist das alte Feindbild vom wilden, unzivilisierten Zigeuner sehr schnell und sehr leicht abrufbar in den Köpfen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Der Antiziganismus ist wieder 11
7 da, jene feindselige Haltung gegenüber Sinti und Roma, die man angesichts vieler gut gemeinter Diskussionen über politisch korrekte Sprachregelungen schon fast überwunden glaubte. Doch auch wenn man nicht mehr Zigeuner, sondern Sinti und Roma sagt, wenn man nicht mehr von Zigeunerschnitzel oder Zigeunermusik spricht, wirkt das über Jahrhunderte gepflegte Negativbild vom Zigeuner doch nach wie vor. Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, mahnt in diesen Monaten mehrfach, die alten Vorurteile nicht zu übernehmen, auch wenn durch Roma und andere Armutsmigranten aus Osteuropa kurzfristig Probleme entstehen. Er gibt zu bedenken, dass die Roma nach Deutschland kommen, um ein Dach über dem Kopf zu haben und dem Hunger zu entgehen, um sicher vor Diskriminierung und Ausgrenzung zu sein. Rose appelliert an die Deutschen, den Zuwanderern ein wenig Verständnis entgegenzubringen. Zur gleichen Zeit berichtet der Spiegel von Übergriffen und Pogromen gegen Roma in Rumänien, Bulgarien oder Ungarn. Die gut zehn Millionen europäischen Sinti und Roma sind die größte Minderheit des Kontinents und immer noch das unerwünschte Volk Europas, titelt das Magazin. 1 Misstrauen, Verachtung, Hass gegenüber den Zigeunern haben eine lange und unselige Tradition in Deutschland. Sie führten unter dem diktatorischen Regime der Nationalsozialisten zu Unterdrü ckung und Terror mit dem Ziel, diese Minderheit zu vernichten. Deshalb muss uns die jetzt wieder aufflammende Aggression alarmieren; die Humanität Europas wird nicht zuletzt am Umgang mit den Sinti und Roma gemessen werden. Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen : Das sagte Primo Levi, der jüdisch-italienische Widerstandskämpfer und Überlebende von Auschwitz, über NS-Verfolgung und Holocaust. Primo Levis Satz gilt auch für die Sinti und Roma. 1 Der Spiegel Nr. 2, Einblicke in die Lebenssituation von Roma in Osteuropa bieten die Journalisten Norbert Mappes-Niediek, 2013, und Rolf Bauerdick,
8 Porajmos, das Verschlingen, nennen die Überlebenden die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von bis zu einer halben Million Sinti und Roma durch das nationalsozialistische Regime. An den Sinti und Roma wurde ebenso ein Holocaust verübt wie an den europäischen Juden. Doch während die Shoah längst als Völkermord, als Strategie der kollektiven Vernichtung anerkannt ist, haben deutsche Politiker, Gerichte und Bürger die rassistische Verfolgung der Zigeuner bis in die 1980er-Jahre hinein verleugnet. Die Opfer erhielten keinerlei Mitgefühl, und um finanzielle Entschädigung mussten sie jahrelang kämpfen. Die Abwertung und rassistische Stigmatisierung ging dagegen ungehindert weiter. Erinnerungen der Verfolgungsopfer, die wie der Historiker Michael Zimmermann sagt so wichtig sind, um ein Gegengewicht gegen die Logik der Verfolger zu setzen, wurden kaum berücksichtigt. 2 Noch heute spielt das Schicksal von Sinti und Roma in den Debatten über Erinnerungskultur kaum eine Rolle. Das Berliner Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma konnte erst nach jahrzehntelangem Kampf und gegen starke Widerstände errichtet werden. Sinti und Roma in Deutschland Wenn heute der Zigeunerhass als Ressentiment gegenüber den aus Osteuropa zuwandernden Roma auf erschreckende Weise wieder aufflammt, dann sind auch die in Deutschland lebenden Sinti und Roma davon beunruhigt. Mindestens Menschen rechnen sich in der Bundesrepublik zu dieser kulturellen Minderheit. Die meisten von ihnen bezeichnen sich als Sinti. Die Sinti sind seit etwa sechs Jahrhunderten in Mitteleuropa ansässig; Roma wanderten ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Viele Sinti und Roma haben sich längst in die Mehrheitsgesellschaft integriert. Ihre eigene Kultur, ihre Lebensweise praktizieren sie gleichwohl weiter; vollständig assimilieren wollen sie sich nicht. 2 Zimmermann, 1996, S
9 Seit 1995 sind die Sinti und Roma wie die Friesen oder die Sorben als Minderheit in Deutschland anerkannt ein Ergebnis ihrer aktiven Bürgerrechtsbewegung. Dennoch fürchten sie, dass die Feindseligkeit wieder wachsen, die Anerkennung wieder wegbrechen könnte. Denn der Antiziganismus scheint wie der Antisemitismus unausrottbar zu sein, ungeachtet aller Verbrechen, die zwischen 1933 und 1945 daraus erwuchsen. Studien besagen, dass etwa 20 bis 30 % der Deutschen antisemitisch denken. Noch erheblich mehr, nämlich zwischen 64 und 68 %, scheinen antiziganistische Einstellungen zu haben. 3 Der Antiziganismus sei ein Code der gesamten Mehrheitsgesellschaft, sagt der Forscher Wolfgang Wippermann. Er sei in allen sozialen Schichten, in allen Altersgruppen, bei beiden Geschlechtern anzutreffen. Die Mehrheitsgesellschaft konstituiert sich geradezu durch die Abgrenzung von und die Feindschaft gegenüber den als fremd, gefährlich und unheimlich angesehenen Zigeunern. 4 Der Antiziganismus speist sich aus vielen Geschichten, Legenden und Bildern, aus Klischees und Stereotypen. Über Zigeuner hat jeder etwas zu sagen; da weiß man viel, wenn auch nur vom Hörensagen, ohne wirkliche Kenntnis. So ist das eben mit Vorurteilen: Sie halten sich aus sich selbst heraus am Leben, weil sie so wichtig sind für denjenigen, der sich gegen das Fremde abgrenzen möchte. Aufbrechen lassen sich negative Einstellungen gegenüber dem Fremden nur, wenn man bereit ist, dieses Fremde kennenzulernen. Dieses Buch möchte ein Angebot zum Kennenlernen sein. Es setzt den Vorurteilen die Erinnerungen einer Zeitzeugin entgegen und will damit einen Beitrag zur Erinnerungskultur der Minderheit der Sinti und Roma leisten. Es basiert auf den Erzählungen von Anna Reinhardt, die selbst ein Verfolgungsopfer ist und sich bereit erklärt hat, davon zu berichten. Dadurch bietet sie uns die Möglichkeit, am Beispiel einer Sinti-Familie die 3 Wippermann, Wippermann auf der II. Internationalen Antiziganismuskonferenz 2005, 14
10 Lebenswirklichkeit und die Leidensgeschichte von Zigeunern in Deutschland kennenzulernen und uns bewusst zu machen, was ihnen angetan wurde. Die Geschichte der Familie Reinhardt, die in diesem Buch erzählt wird, trägt hoffentlich dazu bei, Verständnis zu wecken gegenüber Menschen, die nicht in der Mitte der Gesellschaft, sondern eher am Rand leben und deren Lebensweise ein bisschen anders ist als die der Mehrheit. Ich danke Anna Reinhardt und ihrer Familie dafür, dass sie mir ihr Vertrauen geschenkt und ihre Geschichte erzählt haben. 15
Gedenken hat auch einen mahnenden Charakter.
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