Genre und ethnisches Bild in der Poesie der Russlanddeutschen in der zweiten Hälfte des 20. bis Anfang des 21. Jahrhunderts

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1 Auszug aus der Monographie von Dr. Elena Seifert in der zweiten Hälfte des 20. bis Anfang des 21. Jahrhunderts (BMV Verlag Robert Burau, Lage (Westf.), 2009, S ) Neben den Schlüsselbegriffen die Heimat, das Heim [ Родина, (родной) дом ] werden auch andere gebraucht. Schlüsselbegriff die Angst [ страх (из-за уязвимости). Von den zwei Begriffen mit der Bedeutung страх im Deutschen die Angst und die Furcht, typisch ist der Begriff Angst, nach A.Weschbizkaja. Der wesentliche semantische Unterschied zwischen Angst und Furcht ist sicherlich mit der ursprünglichen Unbestimmtheit der Angst (страх) verbunden, die sich darin äußert, dass man Ich habe Angst ( Мне страшно ) sagen kann, ohne die Gründe dieser Angst zu präzisieren, wohingegen es unmöglich ist, zu sagen Ich fürchte mich, ohne zu erklären, wovor man sich fürchtet. [ ] Die Schlüsselelemente sind mit dem Unbekannten (неизвестность) und mit der überall anwesenden und unvermeidlichen Gefahr verbunden. A.Weschbizkaja betont den Gebrauch des Wortes Angst in den Fällen, wenn die Angst konkret ist, der Mensch aber sehr anfällig ist. Die Angst der meisten Russlanddeutschen ist begründet (historisch bedingte Angst vor Ausweisung oder Deportation), empfindet wird sie aber schon genetisch und äußert sich im Zustand der anfälligen Umwelt der Russlanddeutschen im Schoß der Titelethnie. Die relative Abstraktheit des Begriffs die Angst wird durch die Pluralform (die Ängste страхи) und die Präposition vor (D) перед чем-л., перед кем-л. bewiesen. Im Russischen ist die Angst очень сильный испуг, сильная боязнь i. Wie auch das deutsche Konzept verlangt dieses russische Wort eine Ergänzung wegen der Anfälligkeit. Die Definition der russisch-deutschen Begriffe die Angst / страх из-за уязвимости mit universellen Elementen lautet: Jetzt empfinden wir etwas Schlechtes, das, was wir früher empfanden und (oder) was unsere Nächsten vor uns empfunden hatten Wir wissen nicht, was mit uns wird Die Russlanddeutschen haben Angst, ausgewiesen zu werden, aufzufallen, besser als die anderen zu sein. In manchen Texten wird die Möglichkeit angedeutet, die Angst durch die ethnische Verwandtschaft zu überwinden: Du, liebes deutsches Bruderherz, Vergiß [sic!] die Schmach, vergiß den Schmerz [sic!], Nach Sturm und Wind, nach Angst und Pein Erquickt uns milder Sonnenschein. [Ты, милое немецкое братское сердце, забудь позор, забудь боль, сквозь бурю и ветер, сквозь страх и неудачу освежи нас нежным солнечным светом.] (I. Kisselmann, Mein deutsches Volk am Wolgastrand [Мой немецкий народ у берега Волги])

2 Die Russlanddeutschen sind sich der genetischen, nicht ganz bestimmten Natur ihrer Angst bewusst (G. Arngold, Angst vor Nichts [Страх перед ничем]). Schlüsselbegriffe Der Weg / путь, die Verbannung / изгнание. Nach G. Gatschew ist die Nation in erster Linie ein Territorium. Das Volk das sind vor allem die Körper der Menschen. Das Volk kann ausgewiesen, vertrieben, zerstreut werden ii. Das russlanddeutsche Volk ist eines der vertriebenen Völker. In den Werken der Russlanddeutschen kommen oft Themen und Motive des Weges vor: z.b. in dem Gedicht Das Leben ist eine unendliche Wanderung aus dem Zyklus Wandergeist von R. Kessler, Der Heimat Wege [ Пути Родины ] von Al. Miller, Weg der Rußlanddeutschen [ Путь российских немцев ] von B. Gordina-Lit. Die Russlanddeutschen werden bildhaft als das Volk auf dem Weg [ народ в пути ] bezeichnet: man vergleiche dazu z.b. die Titel der Zeitschriften Volk auf dem Weg und Pilger. Das begehrte Wanderziel ist für die einen Russlanddeutschen die Heimat, ein Zuhause. Russische endlose Weiten Es ziehen in die endlosen Weiten die Wege des Heldentums [Русские бесконечные дали Тянутся в бесконечные дали Пути героизма ] (Al. Miller, Der Heimat Wege [Пути родины]) Am Ende des Weges sehe ich wieder die Bruchstellen des Meeres, die Gebirgskämme und das Haus in der Steppe, wo der Himmel näher ist [В конце пути я вновь увижу Провалы моря, гребни гор И дом в степи, где небо ближе ] (W. Schnitke, Am Ende des Weges sehe ich wieder ) In seinem berühmten Gedicht Der Rucksack, das zum Symbol des russlanddeutschen Schicksals wurde, verfolgt R. Leinonen den Weg des Russlanddeutschen, eines Wanderers mit einem Rucksack voll mit immer neuen Lebenslasten. In der Novelle Das unausgedachte Lanschaftsbild schreibt О. Kling: Mit den Jahren wurde aber gerade dieser Weg bis an den Friedhof zum wichtigsten Landschaftselement. Das Motiv der Heimatsuche der Russlanddeutschen kommt auch in der schöngeistig-dokumentarischen Erzählung von R. Schulz Der lange Heimweg zum Ausdruck. Da es nicht nur mit den Problemen der Deportation (А. Emich, Gedichte vom Wolgabauer in der Verbannung [Стихи о поволжском крестьянине в изгнании]; Lied der verjagten Wolgadeutschen [Песня изгнанных поволжских немцев] vom unbekannten Autor), sondern auch der Emigration verbunden ist, taucht das Thema der Vertreibung auch bei den russlanddeutschen Liedermachern auf: Wanderer von Geburt an,/ zum Volk der Geächteten gehören,/ scheint zwar irgendwie gewohnt zu sein,/ lässt aber doch keine Ruhe [С рожденья странниками быть,/ Быть племенем изгоев,/ Хоть и привычно вроде бы,/ Но не даёт покоя ] (S. Janke, Ach, kein Grund zur Trauer [ Эх, не будем горевать ]).

3 Die Definition des Schlüsselbegriffs die Verbannung / изгнание teilt sich in zwei Begrifflichkeiten auf: die Verbannung / изгнание als Deportation Wir werden gegen unseren Willen vertrieben Das ist schlecht für uns Wir wollen hier bleiben, es geht uns gut hier die Verbannung / изгнание als Emigration Es geht uns schlecht hier, wir gehen dorthin, wo es besser ist Aber auch dort geht es uns schlecht Wir wollen, dass das Dort für uns zum Hier wird, und dass es uns hier gut geht An das Wort der (die) Verbannte / изгнанник reihen sich die bedeutungsnahen der Aussiedler выселенный, der Umsiedler переселенец, die Ableitungen vom Verb verjagen прогонять, und auch die russischen Wörter изгой, странник. Nicht alle diese Wörter sind vollwertige Synonyme zu den Schlüsselbegriffen. Der Wanderer z.b. ist ein wandernder, aber nicht unbedingt heimloser oder verjagter Mensch. Der Schlüsselbegriff der Verbannte drückt das russlanddeutsche Schicksal am passendsten aus. Die russlanddeutschen Dichter schildern oft als Verbannte nicht nur ihre Stammesbrüder, sondern die ganze Menschheit (W. Gess, Die Verbannten). In den Werken der Russlanddeutschen kommen die traditionellen Wanderergestalten vor, deren Wanderungen ziellos waren: z.b. Jason (А. Schmidt, Jasons Herbst: Ach ja, das ist der,/ der sich auf die Suche nach dem Goldenen Vlies/ begab / der Argonaut,/ und dann/ wollte er König werden,/ wurde aber ein Greis ). Die Schlüsselbegriffe das Recht / право, die Gerechtigkeit / справедливость. Alle Bewegungen der Russlanddeutschen erfolgten nach den Dokumenten (Manifesten, Erlassen, Gesetzen iii ), aber während die aktive Einwanderung der Deutschen nach Russland Ende des XVIII. Jh., und die Emigration der Russlanddeutschen nach Deutschland Ende des XX. Anfang des XXI. Jh. freiwillig waren, war die Deportation der Sowjetdeutschen in den Kriegsjahren zwangsläufig und empörend ungesetzlich. Dadurch wird das akute Verlangen nach Gerechtigkeit, das die Wichtigkeit der Begriffe das Recht / право, die Gerechtigkeit / справедливость verständlich. Wir werden schlecht behandelt, so darf es nicht sein Wir wollen gut behandelt werden Die Russlanddeutschen streben nach Freiheit, und nicht nach dem von den Russen begehrten freien Willen. Freiheit und Wille sind nicht gleichwertig. Der Forscher des russischen Konzeptes Wille / воля А. Schmeljow führt eine Äußerung von Teffi zu Begriffen Freiheit und Wille an: Die Freiheit ist legal. Der freie Wille lässt nichts anderes gelten. Die Freiheit ist der bürgerliche Stand eines Menschen. Der Wille ist ein Gefühl. iv. Die Russlanddeutschen streben nicht nach dem freien Willen, sie wollen starke Wurzeln haben, mit dem Land verbunden sein, allerdings wollen sie unabhängig von den anderen sein oder dazugehören. Das deutsche Wort die Freiheit / свобода, воля schließt beide Bedeutungen Freiheit und Wille ein, entspricht offensichtlich dem russischen Konzept воля nicht vollständig. Die russlanddeutschen Autoren geben das auch zu, z.b. der russlanddeutsche Liedermacher W. Gagin sagt: In Deutschland kann es den freien Willen anscheinend nicht geben. Aber in Russland gibt es dafür noch genug Raum. v Bezüglich des Konzeptes das Recht gewinnt die Enthüllung der historischen Wahrheit an Bedeutung, denn die Russlanddeutschen ein verschärftes Gerechtigkeitsgefühl besitzen.

4 Oh, Herr laß [sic!] Gnade für Recht ergehen, Gerechtigkeit laß [sic!] siegen! [О, Господь, смилостивься, дай победить справедливости!] (L. Nikel, Im Verbannungsort [В месте изгнания]) Die Bitte um gesetzmäßige Handlungen kommt nicht selten in Form eines Gebets vor: Der Mensch glaubt nicht an die Gerechtigkeit der irdischen Gesetze und bittet die obere Macht um Hilfe. Schlüsselbegriffe die Hoffnung / надежда. Wir wollen, dass alles gut geht Dann wird es auch in der Zukunft gut gehen Im künstlerischen Bewusstsein der Russlanddeutschen schwankt es vom vollen Verlust der Hoffnung (I. Lotz, Die Hoffnung habe ich verloren [Я потерял надежду]) bis zum Glauben daran (G. Arngold, Hoffnungsstrahl [Лучи надежды]). Das Positive an diesem Begriff überwiegt allerdings. Ich offnen [sic!] Auges sah ins Leben schreiten, Nachdem erblühte meiner Hoffnung Baum. [Я видел шагающего по жизни с широко открытыми глазами, после этого расцвело дерево моей надежды.] (F. Bolger, Ich bin mit dir [Я с тобой]) Die Hoffnungsmotive bei I. Ber schreiten über die Schwelle der ethnischen Trauer (I. Ber, Hoffnungsvoll ). Russlanddeutsche Schlüsselbegriffe werden in der Poesie oft durch das Minus-Verfahren vorgestellt heimatlos [ бесприютный ], hoffnungslos [ безнадежный ], ohne Heim [ без дома ]. Oft werden kontextbedingte Antonyme gebraucht die Obdachlosigkeit [ бездомность ]. Zu beachten ist das Vorhandensein in mehreren Kontexten von einer Ansammlung, einer Kombination von verschiedenen Stichwörtern, was die ideologisch-künstlerische Impression verstärkt: Wärmt mit Hoffnung den trostlosen Blick, zeigt den Weg uns ins Wolgaland. [Греет надеждой безутешный взгляд, показывает путь нам в Поволжье.] (W. Gerdt, Neujahrsnacht [Новогодняя ночь])

5 In einem engen künstlerischen Raum kommen hier die Begriffe die Hoffnung [ надежда ], der Weg [ путь ] und die Heimat [kontextbedingtes Synonym Wolgaland ] zusammen. Als Beispiel für die Ansammlung mehrerer Elemente des ethnischen Weltbildes der Russlanddeutschen und der nationalen Schlüsselbegriffe in einem Text kann das Gedicht von A. Gisbrecht Ich bin ein vertrockneter Baum gelten. Hier konzentrieren sich solche ethnischen Elemente wie Umzingelungsbewusstsein, Streben nach Autonomie, Vorrang des Statischen vor dem Dynamischen, Nirgendwo-zu- Hause - oder Überall-zu-Hause -Gefühl, genetische Angst vor der Vertreibung, ständige Anfälligkeit, Angst vorm Auffallen, übergroßes Interesse an pflanzlichen Symbolen (schwache Pflanzen, Pflanzen ohne Wurzeln), auch nationale Schlüsselbegriffe wie das Heim / die Heimat / (родной) дом / Родина, die Angst / страх (из-за уязвимости), der Weg / путь, die Verbannung / изгнание, das Recht / право, die Hoffnung / надежда. Die Gesamtheit der Elemente des ethnischen Weltbildes ist besonders charakteristisch für die Vertreter der russlanddeutschen Ethnie. Das bestätigen auch die Ergebnisse eines Experimentes, das in einer multinationalen Lesergruppe durchgeführt wurde. An dem Experiment nahmen insgesamt 120 Rezipienten teil, darunter 60 Russlanddeutsche und 60 Vertreter anderer Nationalitäten, inklusive Russen und Deutsche aus Deutschland. Die Leser sollten die obengenannten Texte von A. Gisbrecht und R. Schulz lesen, sie bekamen die Liste der russlanddeutschen Weltbildkomponente. 81,7% der Russlanddeutschen (49 Personen) erkannten die Gesamtheit der Elemente ihres ethnischen Weltbildes in diesen Texten fehlerlos. Nur 21,6% der Vetreter anderer Nationalitäten (13 Personen) gaben die richtigen Antworten. Laut dem einzigartigen Verfahren von G. Gatschew für die Bestimmung des nationalen Weltmodels kann der Heimweg für die Russlanddeutschen als Kosmos bezeichnet werden. Ihr Logos ist das akute Verlangen nach der gesetzmäßigen Behandlung ihrer Ethnie, ihre Psyche ist der Zustand der Anfälligkeit. Die für das russische Volk typischen Weite und Extensität, bedingt von den grenzlosen russischen Entfernungen, sind den Russlanddeutschen wahrscheinlich nicht so eigen. Die Intensität ihrer Kultur wird eher von der Konfrontation der Offenheit und des Verbannungswegs bedingt. Für G. Gatschew ist gerade das Haus das deutsche Weltmodel: alles wird strukturiert gesehen (Welt Welt-bau), geteilt ins Innere, wo Ich bin, und das Äußere, wo Nicht-Ich bin, das heißt, wie ein Dialog: Haus Raum vi. Der Unterschied zwischen dem deutschen Weltmodell (Haus) und dem russlanddeutschen (Weg zum Haus) besteht in dem Vorhandensein und dem Fehlen des Hauses (in dem zweiten Fall fehlt das Haus, aber es gibt den Wunsch und den Weg dahin). Manche Russlanddeutsche können, je nach Umgebung, einzelne russische und deutsche Schlüsselideen erben. Aber das ganze Volk operiert mit der Gesamtheit von einzigartigen Schlüsselbegriffen. i Oschegow S.I., Schwedowa N.J. Bedeutungswörterbuch der russischen Sprache. S ii Gatschew G.D. Nationale Weltbilder. S. 21. iii Vgl.: Geschichte der Russlanddeutschen in Dokumenten. Öffentlich-politische Bewegung um den Wiederaufbau des nationalen Staatswesens. М., B S. B S. iv Zitiert nach: Schmeljow А.D. Weite russische Seele // Salisnjak А.А., Lewontina I.B., Schmeljow А.D. Schlüsselideen des russischsprachigen Weltbildes. М. Sprachen der slawischen Kultur, S. 64. v Brunow А. Wiktor Gagin: Dieses rein russische Wort воля // Leute und Lieder. 5 (7). September-Oktober. М., S. 44. vi Gatschew G.D. Volksmentalitäten. S. 24.