Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft. Bearbeitet von Thomas Bein

Transkript

1 Textkritik Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft Bearbeitet von Thomas Bein überarb. U. erw. Aufl Taschenbuch. 192 S. Paperback ISBN Format (B x L): 14,8 x 21 cm Gewicht: 260 g Weitere Fachgebiete > Literatur, Sprache > Deutsche Literatur schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, ebooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

2 I. Einleitung: Was ist ein Text? Diese Einführung beschäftigt sich mit Text-Kritik, mit Text-Editionen, mit Text-Geschichte und Text-Überlieferung. Die genannten Wörter bzw. Begriffe haben in der Germanistik einen festen Platz; es sind Fachtermini, wenn auch nicht immer eindeutig definiert oder definierbar. Treffen sich Text-Kritiker und benutzen solche Wörter, so lässt sich aber meist schnell ein kommunikativer Konsens herstellen: man weiß, worüber gesprochen wird. Für einen Anfänger sind Begriffe wie die genannten indes keineswegs evident, wenn auch die einzelnen Bestandteile Text, Kritik, Geschichte usw. klar zu sein scheinen man verwendet sie doch täglich. Es bedarf aber nur eines einfachen Tests um zu erkennen, dass ein Verständnis der Wörter und Begriffe am Anfang des Studiums einer Literaturwissenschaft noch wenig entwickelt ist. Man stelle sich die banal anmutende Frage: Was ist ein Text? und versuche, treffende Antworten zu geben, Antworten, die das, was man unter Text zu verstehen glaubt, präzise und differenziert beschreiben. Viele Erstsemester tun sich erfahrungsgemäß schwer, obwohl (oder vielleicht auch: weil) dieser Begriff zum Elementarsten einer jeden Literaturwissenschaft zählt. Ist einmal ein Problembewusstsein geweckt, wird allerdings schnell deutlich, dass es auch Fachleuten keineswegs leicht fällt zu erklären, was ein Text ist. Rasch tut sich ein schier unüberschaubares Feld auf: Texttheorien unterschiedlichster Couleur, Herkunft und Tiefe lassen sich finden eine Orientierung fällt, besonders einem Anfänger, nicht leicht. Und die Verwirrung dürfte perfekt sein, wenn man auf kluge Abhandlungen stößt, die gar behaupten: Le texte n existe pas ( Es gibt keinen Text ) 1. In unserem Zusammenhang muss auf eine allzu tief gehende Theoretisierung verzichtet werden. Stattdessen soll ein möglichst pragmatischer, an strukturalistische Überlegungen angelehnter Textbegriff umrissen werden, um auf die später zu erläuternden Themengebiete wie Text-Geschichte, Text-Edition usw. vorzubereiten. Unter Text sei hier eine bestimmte Menge von Sinn erzeugenden (weil wohlgeordneten) sprachlichen Zeichen und Zeichenkomplexen verstanden. Texte sind alltäglich wahrnehmbare mündliche und/oder schriftliche Kommunikationseinheiten einmal mehr, einmal weniger ästhetisch überformt. Ausgehend von der Bildlichkeit, die dem Wort Text von seiner Etymologie her innewohnt, lässt sich der Begriff weitergehend umschreiben. 1 Vgl. Louis Hay: Le texte n existe pas. Réflexions sur la critique génétique. In: Poétique XVI, 1985, S

3

4 Was ist ein Text? 11 Mit den gesponnenen Fasern lassen sich Fäden und Fadenverbindungen herstellen. Dem entsprechen in einem Text Worte, Wortkomplexe und Sätze. Damit aus dem Garn ein erkennbares und vor allem mittelfristig haltbares Gewebe wird, müssen die Fäden in bestimmter (nicht willkürlicher) Weise miteinander verbunden/ verwoben werden, um dem Gewebe eine innere Statik zu verleihen. Auf die Text-Ebene übertragen bedeutet dies: Sprachliche Elemente müssen nach bestimmten (grammatikalischen und weitergehend nach aussagelogischen bzw. narratologischen 2 ) Regeln verknüpft werden, damit Sinn entsteht bzw. eine überindividuelle Kommunikation gewährleistet ist. Die Wortkette und des Enkel grauen der Buch Mannes liest alten einem in ergibt keinen Sinn. Erst die Anordnung der Wörter nach bestimmten konventionalisierten Mustern (Regeln) gewährleistet eine sinnvolle Aussage, hinter der eine bestimmte Absicht (Intention) steht: Der Enkel des alten und grauen Mannes liest in einem Buch. Ein Stoff kann einfach gewebt und einfarbig (monochrom) sein oder aber in aufwändiger Variation der Webtechnik und mehrfarbig (polychrom) angelegt sein. In vergleichbarer Weise können Texte eher eindimensional sein (z.b. Sachtexte, die sich nur auf die Darlegung eines Sachverhaltes, z.b. der Ankunftszeit eines Zuges, beschränken) oder aber auch mehrdimensional (z.b. fiktionale, poetische Texte, die bewusst Leerstellen enthalten und deren Sinn sich nicht ad hoc ergibt). Ein Gewebe besteht nicht notwendigerweise immer aus neuen Fäden und Fadenverknüpfungen, sondern sie können alten, nicht mehr gebrauchten Geweben entnommen sein; oder alte Gewebe werden recycled und aus ihnen neue Fäden gesponnen. So ist kein Text jemals wirklich neu, es gibt aber Differenzierungen: manche Texte sind bewusst oder unbewusst durchzogen von Elementen anderer Texte (man spricht dann vom Phänomen der Intertextualität) und entfalten ihr Sinnpotential erst in der rezeptiven Realisierung des textuellen Mit- und Nebeneinanders, zuweilen gar des Übereinanders, etwa im Sinne von Gérard Genettes Paratext- bzw. Palimpsest-Theorien 3. Das bedeutet z.b., dass ein Text (wie ein Gewebe) eine Oberflächenstruktur hat, die offen zutage liegt und die einigermaßen gut zugänglich ist. Doch unter dieser Oberfläche verbergen sich andere Strukturen und Elemente, gleichsam Reste ehemaliger anderer Gewebe, die einmal mehr, einmal weniger deutlich (und oft abhängig vom Blickwinkel) durchschimmern und die Oberfläche verändern. 2 narratologisch = die Struktur einer Erzählung betreffend. 3 Vgl. Gérard Genette: Palimpseste: die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M und ders.: Paratexte: das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/M Palimpsest = mehrfach beschriebenes (Pergament-) Blatt, wobei ältere Texte (teilweise) gelöscht und von jüngeren überschrieben werden. Paratext = Nebentext, der einen Haupttext in vielfältiger Weise beeinflussen kann. (Genette verwendet den Palimpsest-Begriff allerdings nicht in historisch-paläographischer Weise, sondern als Metapher für Textkultur schlechthin.)

5

6

7

8

9