Willkommen und Abschied Johann Wolfgang von Goethe (1785)

Transkript

1 1 Lyrikanalyse: Willkommen und Abschied Johann Wolfgang von Goethe (1785) Johann Wolfgang von Goethe ( ) gilt wohl als einer der größten Autoren seiner Zeit. Mit seinen Dramen und Gedichten prägte er unter anderem die Epoche des Sturm und Drangs maßgeblich. Die Sesenheimer Lieder, welche Anfang der 1770er Jahre veröffentlich wurden, gehören wohl zu den bedeutsamsten Werken einer Epoche der Erlebnis- und Empfindungslyrik. Inspiriert durch eine kurze, aber sehr intensive Beziehung mit Friederike Brion, verfasste er bereits im Jahre 1771 eine erste Fassung des Gedichtes Willkommen und Abschied, welche er allerdings über die Jahre hinweg überarbeiten und über ein Jahrzehnt später unter demselben Titel erneut publizieren sollte. Die folgende Interpretation beschäftigt sich nun mit der Analyse der späteren Fassung des Gedichts vor allem mit Hinblick auf dessen antithetische Grundstrukturen und Überkreuzungen ebendieser Oppositionen. Anschließend wird sie auf die inhaltlichen Unterschiede im Vergleich zur ersten Publikation eingehen. Dabei soll sich zeigen, inwieweit Goethe sich mit den inhaltlichen Änderungen seines Werkes langsam vom Sturm und Drang distanziert, obgleich das Gedicht dennoch zu jener Epoche gezählt werden kann. Das Gedicht besteht formal gesehen aus vier Strophen mit jeweils acht Versen und ist durchgehend kreuzgereimt. Während die erste und zweite Strophe davon handeln, wie ein lyrisches Ich nachts durch die bedrohliche Dunkelheit reitet, beschreiben die dritte und vierte Strophe das glückliche Wiedersehen des lyrischen Ichs mit einem vermutlich weiblichen lyrischen Du und den schmerzlichen Abschied voneinander am nächsten Morgen. Obwohl beide die erneute Trennung als sehr schmerzhaft empfinden, kommt das lyrische Ich dennoch zu dem Schluss, dass die Liebe dennoch als Glück aufgefasst werden kann.

2 2 Das Antithetische des Gedichts kommt bereits im Titel zum Ausdruck, in dem sich das Willkommen und der Abschied wie auch im Gedicht selbst gegenüberstehen, wobei man den Abschied wohl auch mit der Trennung der Liebenden, also auch der räumlichen Distanz voneinander verstehen darf. Schon zu Anfang der ersten Strophe steht ein wichtiges Symbol der Epoche des Sturm und Drangs im Vordergrund: Das Herz (V. 1), welches als Zeichen der Liebe beziehungsweise der Leidenschaft gedeutet werden kann. Der erste Vers kann je nach Lesart doppeldeutig betrachtet werden, denn er beschreibt möglicherweise nicht nur die erhöhte Geschwindigkeit des Pferdes, sondern auch die des Herzschlags des lyrischen Ichs. Das vierhebig jambische Versmaß, welches sich durch das ganze Gedicht zieht, sowie die sich gegenseitig umschließenden Kadenzen beschreiben eventuell ebenso doppeldeutig das Galoppieren des Pferdes als auch den Herzschlag des Reiters. Die Umgebung des lyrischen Ichs wird gruselig und dunkel beschrieben. Zum einen gibt es die Personifikation einer Eiche im Nebelkleid (V. 5), welche pleonastisch mit einem aufgetürmte[n] Riese[n] (V. 6) verglichen wird, zum anderen fühlt sich das lyrische Ich von der Finsternis aus dem Gesträuche mit hundert schwarzen Augen (V. 7 f.) beobachtet. Selbst der Mond schenkt keine Helligkeit, da er nur kläglich (V. 10) durch den Nebel hervorscheint. Antithetisch zu dieser kalten und düsteren Szenerie steht jedoch der Mut des lyrischen Ichs, alliterierend als frisch und fröhlich (V. 14) bezeichnet. Ein Parallelismus (vgl. V. 15 f.) unterstreicht vermutlich die Verbildlichung einer brennenden Leidenschaft, entfacht durch das baldige Wiedersehen mit dem geliebten lyrischen Du das Verlangen nach ihm, welches dem lyrischen ich ebendiesen Mut verleiht. Mit dem Ende der zweiten Strophe und damit auch in der Mitte des Gedichts schlägt die Stimmung mittels einer Inversion ( Dich sah ich, V. 17) komplett ins Gegenteilige um. Alles Beängstigende ( tausend Ungeheuer, V. 13) schwindet durch den süßen Blick (V. 18) des lyrischen Du. Eine weitere Inversion ( Ganz war mein Herz, V. 19) in Verbindung mit einem Zeugma ( Und jeder Atemzug für dich, V. 20) verdeutlichen die Nähe der beiden Liebenden, sowie die bedingungslose Liebe des lyrischen Ichs zum lyrischen Du.

3 3 Der kalte Nebel aus den ersten beiden Strophen steht nun antithetisch zu der Synästhesie des rosenfarbne[n] Frühlingswetter[s] (V. 21), welches das Gesicht des lyrischen Du umgebe. Mit dem Ausruf beziehungsweise der Ansprache ihr Götter! dankt das lyrische Ich für die Zärtlichkeiten, welche es durch das lyrische Du erfährt, nimmt aber mit der Äußerung, es verdiene dies alles nicht (vgl. V. 24) bereits das Ende des Gedichtes vorweg: Die Trennung vom lyrischen Du am nächsten Morgen. Obwohl das Gedicht sonst durchweg im Präteritum formuliert ist, [v]erengt der Abschied dem lyrischen Ich das Herz (vgl. V. 26) im Präsens, was den Trennungsschmerz nochmals deutlich unterstreicht, da dieser offenbar nicht nur der Vergangenheit angehört, sondern mit der Dauer der Trennung auch bleibt. Antithetisch stehen sich hier auch Wonne und Schmerz in einem Parallelismus (vgl. V. 27 f.) gleichwertig im Zwischenstadium Abschied gegenüber. Dass auch das lyrische Du unter der Trennung leidet, zeigt der Euphemismus mit nassem Blick in Vers 30, welcher hingegen wieder im Gegensatz zu der chiastischen Schlussfolgerung geliebt werden und Lieben entspräche dennoch ( und doch, V. 29) Glück steht. Auch hier spricht das lyrischen Ich vermutlich dankbar die Götter an. Das lyrische Ich der neueren Fassung scheint ruhiger und überlegener zu sein als das der ersten Publikation. So sprach es in der ersten Fassung, es reite fort, wild, wie ein Held zur Schlacht (V. 2), was in Anbetracht der nachfolgenden Handlung, dem Wiedersehen mit dem geliebten lyrischen Du darauf schließen lässt, dass es Liebe mit Krieg, Gewalt und Schmerz gleichsetzt und trotz dieser Vorahnung heldenhaft dem Ungewissen entgegenreitet ein Motiv, das auch in der heutigen Kunst immer wieder aufgegriffen wird. Während der Mond in der ersten Fassung noch schläfrig (V. 10) hervorscheint, was eine ruhigere beziehungsweise beruhigendere Atmosphäre vermuten lässt, scheint er ein Jahrzehnt später kläglich hervor, als sei selbst er zu schwach, sich durch die trübe Nacht zu kämpfen. Ganz dem Helden aus der ersten Strophe angepasst, war auch der Mut des alten lyrischen Ichs nicht nur frisch und fröhlich (s.o.), sondern tausendfacher (V. 14) gegenüber den tausend Ungeheuern (s.o.), die in der Nacht auf es

4 4 lauern. Auch der Parallelismus Mein Geist war ein verzehrend Feuer, Mein ganzes Herz zerfloß in Glut (V. 15 f.) wirkt wesentlich leidenschaftlicher als in der neuen Publikation. Vor allem in der letzten Strophe, welche praktisch komplett neu geschrieben wurde, weicht die neue Version inhaltlich sehr stark von der alten ab. Während es sich in der neuen Fassung anhört als würden sich die Geliebten öfter treffen und es lediglich üblich sei, dass sie sich morgens nach der Liebesnacht voneinander verabschieden müssen ( Doch ach, schon mit der Morgensonne, V. 25), klingt es in der neuen Publikation eher nach einem endgültigen Abschied ( Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe! ). In der neuen Fassung verengt (vgl. V. 26) sich das Herz des lyrischen Ichs nur. Dem gegenüber spricht in der alten Veröffentlichung der Blick des lyrischen Du aus dessen Herz (vgl. V. 26) und es verlässt das lyrische Ich, während dieses ihm weinend nachsieht. In der neuen Version ist es jedoch das lyrische Ich, das das lyrische Du weinend zurücklässt. Darüber hinaus liegt in der neueren Fassung der Schmerz im Blick des lyrischen Du (vgl. V. 28), in der alten Fassung jedoch berichtet das lyrische Ich nur von dem Glück und dem Schmerz, das ihm in den Küssen selbst widerfährt (vgl. V. 26 f.). Diese Umschreibung des Gedichtes nach über einem Jahrzehnt des ersten Erscheinungsdatums, lässt vermuten, dass Goethe nicht mehr allzu glücklich über so manche Passagen war und sie daher nochmals überarbeitet und angepasst hat. Die zweite Fassung des Gedichts wurde 1985 veröffentlicht, ein Jahr, das heute als Ende der Epoche des Sturm und Drang datiert wird. Nicht nur Goethe war dieser Epoche, diesem Stil entwachsen, sondern auch die damalige Gesellschaft. Das zweite Gedicht wirkt weitaus weniger leidenschaftlicher und dramatischer als das erste und fällt auch hinsichtlich des Abschieds weniger endgültig und dadurch weniger tragisch aus. Wenn man diese beiden Versionen des Gedichts nun dem Sturm und Drangs, also der Zeit der Erlebnislyrik zuordnen kann, kann man damit wohl auch auf die Empfindungen des Autors schließen, welche sich innerhalb eines Jahrzehnts drastisch ändern. Man kann davon ausgehen, dass Goethe seine beendete Beziehung zu Friederike Brion über die Jahre reflektiert und das

5 5 Gedicht auf ebendiese Liebe nochmals projiziert hat. Er berichtigt das Gedicht hinsichtlich der Abschiedssituation von Friederike: Im Gegensatz zu der Beschreibung in der ersten Fassung, sie habe ihn verlassen, kommt er nun der Wahrheit (nämlich, dass er sie verließ; tatsächlich durch einen kurzen Briefwechsel beendete Goethe ihre Beziehung) weitaus näher. Über den Trennungsschmerz Friederikes kann man nur spekulieren, aber wenn man davon ausgeht, dass die heftige Liebesbeziehung durch einen kalten Briefwechsel beendet wurde, dann scheint die zweite Version des Gedichts, ein weinendes lyrisches Du, wesentlich plausibler.