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Transkript

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2 Take 1 Musik: Gaillarde Ferrareze darauf Zitator: Ihr Cavallier und Daem Trauert alle mit mir Dieweil euer Patron Begraben wird allhier. Kramer und Handwerksleit Dieser plötzliche Fall Bringet Euch schwere Zeit Drumb trauert allzumal. So ähnlich muss es geklungen haben, wenn im späten Mittelalter oder der frühen Neuzeit eines des ersten Flugblätter zum Vortrage gebracht wurde. Im Umlauf waren diese Einzelblattdrucke seit Ende des 15. Jahrhunderts. Damals, nur kurz nach Erfindung der Druckerpresse, waren das High Tech-Produkte, die von den Zeitgenossen ehrfürchtig bestaunt wurden. Ob auf ihnen die Kirche zu einer Prozession aufrief oder ob die Familie eines Edelmannes dessen Ableben beklagte: Die Lektüre der frühen Flugblätter lohnte allemal, betont Hans-Gert Roloff, der sich am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der FU Berlin seit Jahrzehnten mit Flugschriften beschäftigt. Take 2 O-Ton Hans-Gert Roloff Es ist keine Schundliteratur gewesen. Es ist auch nicht... aus dem Volk entstanden, sondern es ist von den Intellektuellen der Zeit aufgegriffen worden. Leute die schreiben konnten, die denken konnten, die die Zeit und weitere Kreise eben intellektuell und in gewisser Weise auch ideologisch beeinflussen wollten. Also es sind alles gebildete Autoren, die diese Texte geschrieben haben. Deswegen sind sie literarisch sehr hochwertig. Die Masse der Bevölkerung konnte damals allerdings nicht lesen. Deshalb mussten die Druckmeister Wert legen auf kunstvolle Illustrationen. Sie wollten schließlich Geld verdienen 2

3 mit ihren Handzetteln. Billig waren die nicht. Den Gegenwert von ein bis zwei Handwerkerstunden musste berappen, wer ein Flugblatt erstehen wollte. Um Auflagen von ein- oder zweitausend Stück loszuschlagen mussten die Marktschreier, die die Blätter verkaufen sollten, also saftige Inhalte versprechen. Es dauerte nicht lange, bis die Schreiber die auch lieferten, erzählt Christiane Caemmerer von der Staatsbibliothek Berlin. Take 3 O-Ton Christiane Caemmerer Zum Teil haben sie über Missgeburten berichtet, zum Teil haben sie über Naturkatastrophen berichtet, große Hageleinschläge. Meistens wurde das als eine Form von Vorzeichen für das Ende der Welt angesehendie wurden z.t. im Wirthaus angeschlagen und eben zum Teil von jemand, der dann lesen konnte, vorgelesen. Die Flugblätter entwickelten sich zu einer Art Boulevardpresse ihrer Zeit. Entsprechend sahen viele auch aus: Große Buchstaben, große Bilder, wenig Text. Dass diese beliebten Schriften auch eine politische Waffe sein könnten, begriffen als erste die Reformatoren um Martin Luther. Die schnelle und flächendeckende Verbreitung ihrer Thesen wäre nicht denkbar gewesen ohne Flugschriften, erklärt Hans-Gert Roloff. Take 4 O-Ton Hans-Gert Roloff Rom hat diese Möglichkeit, diese technische Möglichkeit seinerzeit gar nicht gesehen und nicht richtig eingeschätzt und ist durch die Verbreitung der lutherischen Thesen einfach überrascht worden. Auf der anderen Seite waren die Reformatoren, denen war es völlig bewusst, dass sie mit diesem Medium, das weite Kreise erreichen konnte, das Volk erreichen könnten. 3

4 Luthers historische publizistische Leistung bleibt natürlich die Übersetzung der Bibel ins Deutsche. Doch allein damit hätte er nur eine kleine gebildete Schicht erreicht, die auch das nötige Geld hatte, sich ein komplettes Buch zu kaufen. Die breiten Massen gewannen die Reformatoren mit mehrseitigen Flugschriften. Darin erzählten sie Geschichten von Pfarrern und Bauern, die über den rechten Weg ins Himmelreich stritten und regelmäßig zu dem Ergebnis kamen, dass die römische Lehre in die Irre führte. Die Erfolge der Reformatoren riefen im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Nachahmer auf den Plan. Die Revolutionäre von 1848 nutzten Flugblätter, um die Texte aufrührerischer Lieder unters Volk zu bringen. Nicht zuletzt das Deutschlandlied verdankt seine Popularität der Verbreitung durch Flugblätter. Kritische Druckerzeugnisse wurden von den Behörden schnell verboten. Schon der Besitz stand unter Strafe, geschweige denn das Verteilen. Den Geschwistern Scholl wurde 1943 zum Verhängnis, dass ein Hausmeister sie beobachtete, als sie Flugblätter in ein Treppenhaus der Münchener Universität warfen. Take 5 Atmo: Fliegeralarm Wenn im zweiten Weltkrieg alliierte Bomber am Himmel über Deutschland erschienen, warfen sie nicht nur Brand- und Sprengbomben ab. Sie ließen auch Millionen von Flugblättern herab regnen. Christiane Caemmerer hat davon fast in der Staatsbibliothek Berlin archiviert. Take 6 O-Ton Christiane Caemmerer Die Auflagen waren zum Teil sehr hoch. Wir wissen es von der Sowjet-Union, die ungefähr 22 Flugblätter pro Tag, unterschiedliche Flugblätter pro Tag produziert hat in Millionenauflage. Die Amerikaner und die ihre Alliierten haben nicht ganz so viele verschiedene Flugblätter produziert, zum Teil aber dann noch in sehr viel höheren Auflagen. 4

5 Auf den sowjetischen Flugblättern finden sich oft Karikaturen, in denen Hitler lächerlich gemacht und das unvermeidliche Ende seiner Herrschaft angekündigt wird. Die angelsächsischen Ausgaben weisen eher nüchtern auf die Verbrechen der Nazis hin und erklären den Deutschen, die Alliierten kämen, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Take 7 Atmo: Apo-Sprechchöre Eine Renaissance als revolutionäres Kampfinstrument erlebte das Flugblatt dann mit der Studentenbewegung. Vor allem die legendäre Kommune 1 wollte einen neuen, antiautoritären Lebensstil propagieren, mittels einer Serie von 26 durchnummerierten Flugblättern. Wenn Walter Delabar von der FU Berlin sich die heute anschaut, fällt ihm vor allem die gestalterische Biederkeit auf. Take 8 O-Ton Walter Delabar Reiner Text. Von diesen 26 gibt es zwei, die mit graphischen Elementen versehen sind, das eine ist ein Montage von BZ-Artikeln und das andere ist das einzige Flugblatt, das mit einem Stift kreisförmig, spiralförmig angeordnete Worte hat, der Rest ist mit der Schreibmaschine getippt, von links oben nach rechts unten. Ab und zu sind Großbuchstaben drin, ab und zu ist mal eine Aufzählung drin, aber selbst typographische Experimente, die man aus dem Dadaismus kennt, sind denen fremd. Dem Erfolg tat das keinen Abbruch. Bei einem Flugblatt kommt es weniger darauf an, ob es gut gemacht ist. Entscheidend ist viel mehr, dass es zur rechten Zeit am rechten Ort verteilt wird. 5

6 Take 9 O-Ton Walter Delabar Wenn man sich überlegt, die Hartz IV-Demonstrationen: Der Initiator, der das in Magdeburg... angeregt hat, der hatte einen Rechner, der hatte einen Kopierer. Der ist nachts aufgestanden, hat seinen Rechner angemacht, ein Flugblatt geschrieben, hat das über seinen Kopierer gejagt und ist damit auf den Marktplatz gegangen und hat damit diese Hartz IV- Demonstrationen angeleiert. So funktioniert das Flugblatt bis heute, ein sehr direktes, sehr schnelles Medium, und sehr billig vor allen Dingen. Nicht zuletzt dieses Beispiel zeigt für Walter Delabar, dass das Flugblatt nicht nur eine lange Geschichte hinter sich hat, sondern bestimmt auch noch eine große Zukunft vor sich. Take 10 O-Ton Walter Delabar Ein so billiges und so effektives Medium wird noch eine lange, lange Zukunft haben, aus dem einfachen Grund: das ist ein Medium, das sich jeder in die Hand nehmen kann und jeder einzelne produzieren kann für viele. Auch wenn die Auflagen nur 500, 1000, 1500, 2000 Stück sind, was ja für Flugblätter schon große Auflagen sind, erreichen die doch deutlich mehr, weil Flugblätter, politische Flugblätter in bestimmten historisch kritischen Situationen weitergegeben werden, eben Gruppen bilden, Gruppen zusammen schließen. 6