Der Prime Tower als «Foodstation»
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- Helmut Hochberg
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1 4 Der Prime Tower als «Foodstation» In den 1980er-Jahren erstellten Studierende auf dem ersten PC des Zoologischen Museums der Universität Zürich eine Fledermaus-Datenbank der Schweiz. Was niemand erahnen konnte: Dies war der Grundstein für ein international bedeutendes Artenschutzprojekt und initiierte Forschungsprojekte mitten im urbanen Siedlungsraum unter anderem auch auf dem Prime Tower, wo überraschenderweise die Weissrandfledermaus ein reichliches Nahrungsangebot findet. Gibt es mitten in der Stadt Platz für Natur? Welche Tierarten nutzen urbane Lebensräume? Und von welchen ökologischen Qualitäten hängt ihr Vorkommen ab? Fledermäuse sind für die Untersuchung solcher Fragen geradezu prädestiniert: Als fliegende Säugetiere besiedeln sie schnell neue Lebensräume; anhand ihrer Echoortung sind sie im Feld methodisch einfach erfassbar; und wegen ihrer Einnischung sind sie zudem auch gute Lebensraumindikatoren. Genau dies ist auch der Grund, warum wir von der Stiftung Fledermausschutz zusammen mit Studierenden der Universität und der ETH Zürich Feldforschung mitten im Stadtgebiet betreiben. Seit zwei Jahren haben wir auf dem Dach des Prime Tower, 132 Meter über dem Strassengewirr von Zürich- West, die modernsten bioakustischen Aufzeichnungsgeräte in Betrieb. Im Labor analysieren wir danach die Fledermaus-Ultraschallpeilrufe. So können wir belegen, welche Arten diesen Luftraum wann nutzen. Migrationsverhalten im Fokus Von den Messungen auf dem Prime Tower, hoch über der Stadt, erhofften wir uns neue Einblicke in das saisonale Durchzugsverhalten der Abendsegler (Nyctalus noctula). Für diese Fledermausart präsentierten wir bereits in den 1980er-Jahren sensationelle Forschungsergebnisse. Da Abendsegler bei uns ganzjährig anzutreffen sind, ging man damals davon aus, dass sich diese Fledermausart hier auch reproduziert. Doch wir konnten zeigen, dass in der Schweiz im Sommer keine Wochenstubenkolonien mit säugenden Weibchen, wohl aber viele Männchen anwesend sind. Die Fachwelt war perplex und skeptisch, doch heute ist die saisonale Segregation der Geschlechter in Mitteleuropa grossräumig mehrfach belegt. Im Fokus der aktuellen Forschung steht nun die Migration zwischen den Hauptreproduktionsgebieten im Nordosten Europas und den Überwinterungsgebieten im Südwesten. Zürich könnte dabei ein «Umschlagplatz» sein, weil die Abendsegler- Bestände hier saisonal stark schwanken. Und so bot sich der Prime Tower, mitten in der Stadt, als optimaler Überwachungsstandort für die Migrationsforschung an. Eine Südländerin mag das Stadtklima Doch wie so oft in der Forschung, kam es ganz anders als erwartet. Die ersten Auswertungen der bioakustischen Daten vom Prime Tower enthalten nur relativ wenig Peilrufe der Abendsegler, aber viele der Weissrandfledermaus (Pipistrellus kuhlii). Der Erstnachweis dieser Fledermausart für die Stadt Zürich gelang bereits im Winter Später folgten Sommerfunde und dann Reproduktionsnachweise. Die Langzeit-Untersuchung dokumentiert, wie diese Fledermausart aus dem mediterranen Raum sukzessive auf die Alpennordseite einwanderte. In den mikroklimatisch begünstigten Stadtzentren hat sie sich etabliert und zieht ihre Jungen auf. Weissrandfledermäuse jagen im Stadtgebiet Fluginsekten in Garten- und Parkanlagen und an Gewässerufern. Niemand hätte diese Tiere auf dem Prime Tower erwartet, in 132 Metern Höhe und weit weg von natürlichen Strukturen. Dieser Befund warf für die Forschung neue Fragen auf. Welche Insektenarten werden hier gefressen? Warum sind diese hier oben? Wo reproduzieren sie sich? Erste Antworten deuten auf verblüffend einfache Zusammenhänge hin. Beobachtet wurden grosse Mengen von Zuckmücken (Chironomidae), aber auch Eintagsfliegen (Ephemeroptera) und Steinfliegen (Plecoptera). Diese entwickeln sich als Larven submers in Fliessgewässern. Nach dem
2 5 Vierteljahrsschrift Jahrgang 159 NGZH Auf dem Dach des Prime Tower, dem höchsten Gebäude der Stadt Zürich, haben die Fledermausforscher bioakustische Aufzeichnungsgeräte installiert, um mehr über die Lebensweise dieser Tiere zu erfahren. Schlupf paaren sie sich im Schwarmflug. Wo geschwärmt wird, hängt stark von den lokalen Windverhältnissen ab. An der Fassade des Prime Tower entstehen je nach Lufttemperatur und Sonneneinstrahlung enorme thermische Aufwinde, was zu Massenansammlungen schwärmender Insekten führt. Diese Ergebnisse sind ein eindrückliches Beispiel für die Komplexität der ökologischen Interpretation von Nachweisen fliegender Fledermäuse: Der Ort, wo die Beuteinsekten entstehen, muss nicht zwingend mit dem Ort der Konsumation übereinstimmen. Der naturfremde Prime Tower, 750 Meter entfernt von der vorbeifliessenden Limmat als Insektenbrutbiotop, wird also nur dank seiner Fassadenthermik zum «gedeckten Tisch» für die Weissrandfledermäuse. Diese Diskrepanz, die hier im urbanen Umfeld klar ersichtlich ist, kann auch in Naturlandschaften vorkommen und dementsprechend zu Fehlinterpretationen führen. Deshalb sind Studien als problematisch einzustufen, die aufgrund von Nachweisen fliegender Fledermäuse Rückschlüsse auf die ökologische Qualität des Gebiets ziehen. Werden am Lebensort der Fledermäuse tatsächlich Insekten konsumiert, die in ihrer Entwicklung von der Qualität dieses Standorts abhängen? Oder sind es nur wegen der günstigen Thermik zugeflogene schwärmende Arten, die eigentlich spezifische Anforderungen an vollkommen andere Habitate haben? Die Forschung in der Stadt ist in dieser Hinsicht also mit Forschung im Labor zu vergleichen: Unter vereinfachten Bedingungen kann man hier komplexen Systemen auf den Grund gehen und so Antworten finden, wie die richtigen Biotope erkannt, geschützt und gefördert werden können. Transitflug quer durch die Stadt Während die Weissrandfledermaus mitten in der Stadt lebt und sich auch hier ernährt, durchquert die Wasserfledermaus (Myotis daubentonii) die Stadt lediglich bei der täglichen Migration vom Tagesschlafversteck ins Jagdgebiet. Das entdeckten wir
3 6 Naturschutzmassnahmen, die aus der Forschung abgeleitet wurden, sind fragwürdig, solange man ihre nachhaltige Wirkung nicht überprüft hat. in Zürich-Höngg, als wir nachweisen konnten, wie Wasserfledermäuse vom Waldrand entlang dem Bombach bis ans Limmatufer fliegen. Eine Semesterarbeit an der Universität Zürich untersuchte kürzlich das Raumnutzungsverhalten genauer. Bekannt sind nun das Tagesschlafversteck in einer Baumhöhle im Hönggerwald mit über 100 reproduktiven Weibchen, die Flugrouten entlang dem Bombach und die Jagdflugraumverteilung über der Limmat. Dies verdeutlicht, wie wichtig der Grünkorridor als verbindendes Element zwischen Schlafplatz und Jagdflugraum ist. Denn jede Nacht fliegen die Wasserfledermäuse rund vier Flugkilometer hin und zurück auf immer exakt denselben Flugschneisen, auf welche die Tiere wegen ihrer hochgradigen Spezialisierung auf frequenzmodulierte Nahdistanzdetektion zwingend angewiesen sind. Würde diese Baumhecke wegfallen oder die sie querenden Strassen von immer mehr Verkehr befahren und stärker beleuchtet, gäbe es für die Wasserfledermäuse kein Durchkommen mehr. Darum wurde nachträglich in einer Fachhochschularbeit das Schutz- und Förderpotenzial ausgelotet und als Handlungsgrundlage an die städtische Naturschutzfachstelle vermittelt. Verstehen und handeln Sei es der Prime Tower als «Foodstation» oder die Baumhecke als Leitsystem: Der wissenschaftliche Blickwinkel für die Fledermausforschung ist immer derselbe. Funktionsmorphologie also die funktionelle Analyse und Interpretation der morphologischen Strukturen und Neurophysiologie der Tiere bilden die Schlüssel zum Verständnis, wie die verschiedenen Arten ihre Nische finden und wie das wiederum Koexistenz ermöglicht. Bei den Fledermäusen sind es die unterschiedlichen Eigenschaften von Aerodynamik und Echoabbildung, die ein weitgehendes Nebeneinander von 30 einheimischen Arten ermöglichen. Vermeidung von Nahrungskonkurrenz ist dabei eine treibende evolutive Kraft. Doch erfolgreiche Spezialisierung kann in einer sich durch den zunehmenden Siedlungsdruck laufend verändernden Umwelt auch zum Verhängnis werden. Deshalb sind Naturschutzmassnahmen, die aus der Forschung abgeleitet wurden, fragwürdig, solange man ihre nachhaltige Wirkung nicht überprüft hat. Und dazu braucht es die Überwachung der Populationsdynamik. Bei Fledermäusen mit ihrer Reproduktionsrate von meist nur einem Jungtier pro Weibchen und Jahr setzt dies Langzeitstudien voraus. Monitoring als Erfolgskontrolle Zur Erhebung solcher Datenreihen für das Mausohr (Myotis myotis), das vornehmlich mitten in Siedlungen Dachstöcke bewohnt, bauten wir das inzwischen europaweit kopierte «Quartierbetreuungssystem» auf. Jeder Wochenstubenkolonie ist seit 1978 eine speziell ausgebildete Fachperson zur Bestandesüberwachung zugeteilt. Die Daten ermöglichen erstmals eine Populationsschätzung. Wir rechnen heute mit rund adulten weiblichen Mausohren in der östlichen Landeshälfte. Und die Datenreihen deuten auf eine Erholung der Bestände hin und zeigen seit 1990 sogar einen leicht positiven Trend. Die erfreuliche Entwicklung ist das Produkt jahrzehntelanger Forschung und daraus abgeleiteter Naturschutzmassnahmen. Noch in den 1950erbis 1970er-Jahren wurden viele Mausohrkolonien wissentlich und unwissentlich vernichtet. Dank dem rigorosen «Quartierbetreuungssystem» konnte dies seither verhindert werden. Gleichzeitig wurden in verschiedenen Diplomarbeiten die Quartieransprüche, das Transitflugverhalten und das Nahrungsspektrum erforscht. In der Folge wurden bei Dachstocksanierungen die artspezifischen Bedürfnisse berücksichtigt und Flugkorridore in die Jagdgebiete erhalten und optimiert. Forschung als Naturschutzbasis Der Wissenstransfer von der Forschung in den Naturschutz blickt heute auf eine lange Tradition zurück. Bereits 1981 wurde das Artenschutzprojekt «Schweizerische Koordinationsstelle für Fledermausschutz» gegründet, das seither vom Bundesamt für Umwelt finanziert wird. Inzwischen haben alle Kantone eigene Fledermausschutz-Beauftrag- Zahlreiche Mausohr-Wochenstubenkolonien konnten dank dem wissenschaftlich fundierten «Quartierbetreuungssystem» erhalten werden.
4 7 Vierteljahrsschrift Jahrgang 159 NGZH
5 8 Wissenstransfer aus der Forschung in die Öffentlichkeit als Motivation für die Akzeptanz der bundesrechtlich vorgegebenen Naturschutzmassnahmen: Live-Infrarot-Videoübertragung einer Mausohrkolonie im Kirchendachstock. te, und ein Freiwilligenteam mit mehr als 700 ausgebildeten Fledermausschützenden ist im Einsatz. Die Aus- und Weiterbildung dieser Fledermaus- Fachpersonen sowie das Vermitteln von Fachinformationen an die breite Öffentlichkeit sind die Kernkompetenzen der Stiftung Fledermausschutz. Vorzeigeprojekt im Artenschutz Dazu kommt weiterhin die Forschung und Lehre an der Universität Zürich und an Fachhochschulen. Mit der permanenten Fledermaus-Ausstellung am Stiftungssitz im Zoo Zürich und der neu konzipierten Fledermausvitrine mit Aktivitätstisch im Zoologischen Museum erhält auch das breite Publikum Einblicke in die dynamische Forschungs- und Schutztätigkeit. Die Forschung und Lehre am Zoologischen Museum der Universität Zürich hat zur Gründung der Stiftung Fledermausschutz und damit zu einem schweizerischen Vorzeigeprojekt im Artenschutz geführt, in dem inzwischen mehr als zwei Dutzend Biologinnen und Biologen ein berufliches Auskommen finden. Heute würde man diesen Werdegang als erfolgreiches Spin-off-Unternehmen der Universität Zürich bezeichnen, denn es wurde von Vincent Ziswiler, Direktor des Zoologischen Museums, unterstützt, und Gerhard Furrer, Dekan und Direktor des Geografischen Instituts, amtete als Stiftungsgründer. Hans-Peter B. Stutz und Marianne Haffner H.P. Stutz war Lehrbeauftragter an der Universität und ETH Zürich und ist Geschäftsführer der Stiftung Fledermausschutz. Marianne Haffner ist Leiterin des Zoologischen Museums der Universität Zürich. WEITERE INFORMATIONEN Informationen zu Fledermäusen finden sich auf der Webseite der Stiftung Fledermausschutz:
Populationsstruktur. Wochenstube. Wochenstube. Wochenstube. Individuen. Individuen. Individuen
Inhalt Evolution und Artenvielfalt Morphologie Ökomorphologie Reproduktionsbiologie Populationsbiologie Ultraschall-Echoorientierung Nahrungsökologie Jagdverhalten Quartierökologie Verhalten Winterschlaf
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