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- Vincent Dressler
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1 Chagall
2 Seite 4: Design: Baseline Co Ltd Nguyen Hue District 1, Ho Chi Minh-Stadt Vietnam Layout: Thu Nguyen ISBN Sirrocco, London Confidential Concepts, New York Weltweit alle Rechte vorbehalten Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.
3 Chagall
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5 Chagall wurde in einer strenggläubigen jüdischen Familie geboren, in der das Verbot, den Menschen bildlich darzustellen, zum religiösen Dogma gehörte. Zwar lebte Chagalls Familie in ärmlichen Verhältnissen, jedoch nicht in dem Maße, dass sie Not leiden musste. Sie war in dem Milieu des Städtl verwurzelt, einer Erscheinung der jüdischen Kultur, die ihrem Charakter nach dem Ghetto ähnelt. In Witebsk hatte sich das Städtl den ländlichen Verhältnissen des russischen Dorfes angepasst. Die Witebsker Häuser mit den Lattenzäunen und den buntfarbigen Ornamenten sind auf Chagalls Bildern verewigt. Das Vokabular seiner Bildersprache entwickelte sich später aus Chagalls Eindrücken in der Kindheit, die er in dieser Umgebung verbrachte. Das Wohnzimmer, die Uhr, die Lampe, der Samowar, der festlich gedeckte Tisch, die Straße mit den Holzhäusern, das Dach des väterlichen Hauses, das Haus selbst und die Stadt Witebsk mit den Kuppeln der Kathedrale diese Fragmente des Erinnerungsbildes, die man schon auf seinen ersten Gemälden sehen kann und deren volle Bedeutung dem Künstler erst nach Jahren, aus einer zeitlichen Distanz heraus gesehen, aufgehen sollte, ergaben nun das Gerüst, auf dem sich bei ihm die Bildaussage aufbaut. Erst als Chagall seiner Berufung folgte und sich aus den Banden der Familie und des sozialen Milieus löste, vermochte er, sich eine eigene Sprache zu schaffen. Es gelang Chagall, seine Mutter zu überreden, ihn die von Pen geleitete Zeichenschule besuchen zu lassen. Doch wonach er sehnsüchtig strebte, was ihm selbst als dunkle Ahnung vorschwebte und sich in seinen ersten koloristischen Wagnissen vage ankündigte, hatte mit den akademischen Regeln, die Pen in seiner Schule predigte, nichts gemein. Er verließ 1907 seine Heimatstadt Witebsk, die später zu einem der wichtigsten Kennzeichen seines Schaffens werden sollte, und machte sich auf die Reise nach St. Petersburg, dessen Vollkommenheit und herausragenden Charakter er suchte. Nachdem er zunächst bei der Aufnahmeprüfung für die Kunstschule des Barons Stieglitz durchgefallen war, gelang es ihm, in die von Nikolai Roerich geleitete Schule der Kaiserlichen Gesellschaft zur Förderung der Künste aufgenommen zu werden. Neben dem Studium der Kunst begann Chagall, in intellektuellen Kreisen zu verkehren. Chagall besuchte oft die Seinen, so als wollte er sich die Erinnerungsbilder, die später das Vokabular seiner Bildersprache ausmachen sollten, auf immer in sein Gedächtnis einprägen. Er malte unentwegt seine Geschwister, die Eltern, alltägliche Vorgänge und schärfte hierüber seine innere Sicht, und er malt Witebsk mit seinen Straßen und Holzbauten, die Stadt seiner Kindheit, die ihm später zum Sinnbild der Heimat werden sollte. Im Herbst 1909 lernte er durch Thea Brachmann, die ihm mehrmals Modell gesessen hatte, seine künftige Frau Bella Rosenfeld kennen. Die Bilder, die Chagall von ihr malte, sind, was die Genauigkeit der visuellen und psychologischen Beobachtung betrifft, zwar Porträts, aber das Modell bleibt hier nicht in den Schranken seiner Persönlichkeit gefangen. 5
6 Die Umstände der Reise Chagalls nach Paris sind wohl bekannt. Der Advokat Winawer, Chagalls Gönner, der sich als Erster des Künstlers angenommen hatte, gewährte ihm als Entgelt für eine Zeichnung und das Bild Die Hochzeit ein Stipendium für einen vierjährigen Aufenthalt im Ausland. Chagall wählte Paris, das für ihn zu einem zweiten Witebsk werden sollte. In dem Künstlerviertel La Ruche traf er viele Landsleute u.a. Lipschitz, Zadkine, Archipenko und Soutine, die, angezogen vom Ruhm der Weltstadt, ebenfalls nach Paris gekommen waren und den jungen Chagall sich hier heimisch fühlen ließen. Die Zeit, die er in Paris verbrachte, bereicherte seine Arbeit um neue Themen und neue plastischen Ideen. Bereits in den ersten Schriften über Chagall, die in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen, wurde mit Recht behauptet, dass Paris seiner Malkunst den nötigen Schliff gegeben habe, eine sensible Sprödigkeit und Bestimmtheit der Linien, die nun eine sichere und genaue Stimmigkeit mit dem Farbklang bekamen, so dass die Linie gegenüber der Farbe oft zum beherrschenden Element wurde. Auch die Farbenflecken, deren Umrisse jetzt, konkreter werdend, eine andere, bisher ungeahnte Expressivität erlangten, erreichten nun, da sie die ehemalige Verschwommenheit überwunden hatten, eine neue, stürmisch aufrüttelnde Ausdruckskraft. Das Erkennen der absoluten Farbe verdankte er den Fauvisten, der Malkunst van Goghs, Gauguins und Matisses, die er bei Bernheim kennen lernte. Von Cézanne und den Kubisten entlehnte er das geometrische Gerüst und die Elemente seiner bildnerischen Grammatik der zwischen 1911 und 1914 geschaffenen Gemälde. Doch folgt er keinen theoretischen Vorgaben, sein Eigenstes hält allen Verlockungen und Fallgruben stand. Die verlängerten Figurenumrisse, die Missachtung der Perspektive, die plastische Raumgestaltung, die frontale Stellung der Figuren und die gelegentliche Anwendung eines roten Hintergrunds sind die Merkmale, die Chagalls Gestaltungssystem kennzeichnen. Seine Philosophie entsprang seiner Intuition, doch als Mensch, der den Zeitgeist intensiv erlebte, teilte Chagall das glühende Interesse seiner Epoche für Vergangenes: existierte doch das, was ihn am meisten faszinierte - Liebe, Tod, Freude und Leid seit jeher. Weitere Aspekte, die Chagalls Schaffen mit den Hauptströmungen der modernen russischen Kunst verbanden, waren seine Bewunderung für Gauguin und die eigenen Bestrebungen bezüglich der Farbeffekte. Chagall suchte die Farbe als Ganzes, rein und ursprünglich, leuchtend und energiegeladen: es ging ihm um ihre magische Wirkung. Die Zeit von Ende 1914 bis Ende 1915 entspricht einer neue Periode seines Schaffens, in der sich drei verschiedene Tendenzen überlagerten: Zum einen die neue Gestaltung des Motivs des Witebsker Alltagslebens, nun etwas lyrischer, nachdenklicher gefärbt. Daneben das ausdrückliche Bestreben, die Metapher als poetischphilosophisches Mittel zur Erschließung der dramatischen Daseinsaspekte zu verwenden, in dem sich denn die beiden zentralen Konzepte seiner Kunst die Darstellung der Zeit sowie des Raums ausdrücken. Schließlich manifestiert sich nun in seinem Werk auch das symbolistische Prinzip. Man stößt darauf bei einer Reihe von Bildern, denen ein spannungsgeladener, mehrdeutiger Untertext und ein besonderes Formsystem gemeinsam ist. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs (1914) kehrte Chagall nach Witebsk zurück, wo er seine Heimat, seine Familie wieder fand und Bella heiratete. Bald darauf wurde eine Tochter, Ida, geboren. 6
7 Zu seinem persönlichen Glück trat zudem mit der Erlangung der Bürgerrechte das Versprechen des kollektiven Glücks, des Wohls des russischen Volkes, und er befürwortete die Revolution mit Leidenschaft. Als Lunatscharski ihm das Amt des Kommissars für Kunstangelegenheiten in Witebsk anbot, nahm er die Offerte begeistert an. Die Kunst als Weg zur Entfaltung der Persönlichkeit sowie als Medium der sozialen Entwicklung fand in Chagall einen engagierten Verfechter. Jedoch fiel in diese Zeit des Enthusiasmus auch der Konflikt mit Malewitsch. Die Avantgarde um Malewitsch vertrieb Chagall schließlich im Namen ihrer radikalen Konzeption aus Witebsk. Dies enttäuschte und kränkte ihn zutiefst. Im Jahr 1922 war er gezwungen, ins Exil zu gehen. Es scheint seinem Künstlertum versagt zu sein, sich ohne die schmerzvolle Erfahrung der Verbannung und Heimatlosigkeit zu entwickeln. Chagalls Leben wird nunmehr zum Künstlerschicksal, die Kunst wird ihm zum Schöpfertum, das in steter Erneuerung seine Existenz behauptet. Auch der aufmerksamste voreingenommene Betrachter vermag bei genauester Beobachtung den Pariser Chagall von dem Witebsker Chagall nicht zu unterscheiden. Chagall war weder widersprüchlich noch mit sich entzweit, aber er war stets verschieden, wenn er sein inneres Ich oder die Welt ringsumher betrachtete, wenn er einem neuen Gedanken nachging oder seine Erinnerungen schilderte. Chagall besaß von Natur aus eine stilistische Immunität, er ließ sich in seinem Schaffen anregen und bereichern, jedoch ohne seinem eigenen Stil untreu zu werden. Er begeisterte sich für das Werk anderer Künstler, lernte von ihnen und streifte seine jugendliche Unbeholfenheit ab, seinen Archimedespunkt aber verlor er nie. Bisweilen scheint es, als nähme er die Welt durch einen magischen Kristall der an experimentellen Kunstbestrebungen überreichen Pariser Schule wahr. Chagall ließ sich auf ein raffiniertes und zugleich ernstes Spiel ein mit den Entdeckungen, die man um die Jahrhundertwende gemacht hatte. Die Kunst war ihm eine Realität, wie das Gesicht eines Menschen oder der Himmel, und dementsprechend waren Chagall auch Reminiszenzen der Malerei seiner Vorgänger, die sich in seinen Werken finden, kein bloßer Widerhall, sondern eine eigenständige Melodie, die sich organisch mit der Welt der Dinge, die er gerade darstellte, verflocht. Chagalls Kunst ist eins mit dem Strom der Zeit, mit der Entfaltung der schöpferischen Phantasie, die zu ihrem Werden nach einer Anstrengung des Bewusstseins verlangen. Als einer der ersten begann Chagall zu erfassen und darzustellen, was man heute als Ikonosphäre bezeichnet: Eine zur Natur gehörende und ihr eingeschriebene Dimension, die für den Künstler ebenso fassbar existierte wie die dingliche, materielle Welt. Er nahm die Ikonosphäre der Zeit wahr, ohne sie zu fliehen, und so sprechen seine Werke eine Sprache der Unmittelbarkeit eines Erzählers, der es vermag, sich selbst zu widersprechen, vor dem von ihm Erzählten zu erschrecken oder darüber zu lachen. Bezeichnend ist, dass Kritiker und Forscher in ihren Abhandlungen über Chagalls Kunst häufig zur musikalischen Terminologie greifen. Chagalls Motive und Gestalten verfügen über eine klangliche Wirkung. So erscheint die Farbe als Rhythmus, die Linie als Melodie. Diese Metaphorik entspricht einer Malkunst, die gleich der Musik auf den Begriff der Zeit bezogen ist. 7
8 Kirchweih 1908 Öl auf Leinwand, 68 x 95 cm Sammlung Wright Ludington, Santa Barbara (Kalifornien, USA) 8
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10 Meine Braut mit schwarzen Handschuhen 1909 Öl auf Leinwand, 88 x 65 cm Kunstmuseum, Basel 10
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12 Selbstbildnis 1909 Öl auf Leinwand, 57 x 48 cm Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 12
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14 Die Schwester des Künstlers (Manja) 1909 Öl auf Leinwand, 93 x 48 cm Wallraf-Richartz Museum, Köln 14
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16 Sabbat 1910 Öl auf Leinwand, 90 x 98 cm Wallraf-Richartz Museum, Köln 16
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18 Die Hochzeit 1910 Öl auf Leinwand, 98 x 188 cm Sammlung der Familie des Künstlers, Frankreich 18
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20 Der Metzger 1910 Gouache auf Papier, 34 x 24 cm Tretjakow-Galerie, Moskau 20
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22 Jüdische Hochzeit 30er-Jahre Feder mit Tusche auf Papier, auf Karton geklebt, 20,5 x 30 cm Sammlung S. K. Gordejewa, St. Petersburg 22
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24 Die Geburt eines Kindes 1911 Öl auf Leinwand, 65 x 89,5 cm Sammlung der Familie des Künstlers, Frankreich 24
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26 Selbstbildnis mit sieben Fingern 1911 Öl auf Leinwand, 128 x 107 cm Königliche Sammlung, Den Haag 26
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