Kindheit und Jugend im Dritten Reich

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Frieda Thomas
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zählungen von Eltern und Lehrern. Das änderte nichts daran, dass sie unter dem von Erwachsenen heraufbeschworenen Krieg grausam zu leiden hatten.

1 Kindheit und Jugend im Dritten Reich Jene, die den Krieg am allerwenigsten beeinflussen konnten, gerieten dennoch ungebremst in seinen Sog. Kinder und Jugendliche des Jahres 1945 hatten Hitler weder wählen noch ihm in Vorkriegszeiten euphorisch zujubeln können, die Weimarer Jahre der wackligen Demokratie kannten sie nur aus den Er zählungen von Eltern und Lehrern. Das änderte nichts daran, dass sie unter dem von Erwachsenen heraufbeschworenen Krieg grausam zu leiden hatten. Weder die alliierten Bomber noch die Rotarmisten oder die letzten fanatischen Nationalsozialisten fragten nach dem Alter oder der individuellen Verantwortung. Der Alltag, der im Nationalsozialismus eine immer straffere Struktur bekommen hatte, wurde durch den Krieg in Fetzen gerissen. Nach der Machtübernahme 1933 unterlag auch die Kindheit der staatlichen Kontrolle. Die Erziehungspolitik der Nationalsozialisten war dabei nicht von einer kohärenten Pädagogik geprägt, aber es gab zwei zentrale Prinzipien: zum einen das Ausleseprinzip und zum anderen die»volksgemeinschaft«. Im Dritten Reich sollte das Individuum seine Bedürf- 143

2 Kinder einer Berliner Schule beim Geografi eunterricht nisse vollständig dem Volksganzen unterordnen. Aus den Kindern und Jugendlichen sollten überzeugte Nationalsozialisten gemacht werden, die diese Ideologie im Kern ihres Wesens lebten. Die Mädchen sollten, vereinfacht ausgedrückt, auf ihre Rolle als Mutter vorbereitet werden, die Jungen auf den Kampf: Der Geist des Angriffs ist der Geist der nordischen Rasse. Schießen müssen unsere Jungen lernen. Die Büchse muss ihnen so selbstverständlich in der Hand liegen wie der Federhalter. Wissen ist Macht schreibt man über die Schultüren, als ob Macht sich in etwas mehr verkörpern könnte als in der Waffe. So der Beauftragte für die Ertüchtigung der Deutschen Jugend, Helmut Stellrecht, im Jahr Die von der Wiege bis in den Berufsantritt durchgehende nationalsozialistische Er- 144

ziehung wollten die Machthaber des Dritten Reiches jedoch vorrangig nicht in der Schule verortet wissen. Wichtiger erschienen die Hitlerjugend und der Bund deutscher Mädel.

3 ziehung wollten die Machthaber des Dritten Reiches jedoch vorrangig nicht in der Schule verortet wissen. Wichtiger erschienen die Hitlerjugend und der Bund deutscher Mädel. Dementsprechend wurden die Lehrpläne der Schulen nach der Machtübernahme 1933 erst einmal nur geringfügig verändert. Natürlich wurden politisch missliebige Bücher nicht mehr gelesen, dem Nationalsozialismus entgegenstehende Filme nicht mehr gezeigt und reformpädagogische Schulprojekte eingestellt. Aber die Auswahl der Schulfächer und ihr Umfang blieben weitgehend unangetastet. Den größten Eingriff stellte die Entfernung von jüdischen und sozialistischen Lehrerinnen und Lehrern dar, die durch das»gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«ab April 1933 entlassen werden konnten. Doch der Gesamteindruck der Schule änderte sich erst 1937 spürbar. Die Zusammensetzung und Intensität der einzelnen Fächer wurde umstrukturiert, neue Überbegriffe eingeführt. Deutsch war nun zusammen mit Geographie und Geschichte ein»deutschkundliches«fach, in dem die Überlegenheit der eigenen Rasse, der ewigwährende Kampf gegen die Gegner des Ersten Weltkriegs und der Gedanke vom»volk ohne Raum«vermittelt werden sollten. Auch die Naturwissenschaften wurden vereinnahmt. In Mathematik standen die Textaufgaben nun ganz im Einklang mit den politischen Zielen der NSDAP: 1. Ein Geisteskranker kostet täglich etwa 4 RM, ein Krüppel 5,50 RM, ein Verbrecher 3,50 RM. In vielen Fällen hat ein Beamter täglich nur etwa 4 RM, ein Angestellter kaum 3,50 RM, ein ungelernter Arbeiter noch keine 2 RM auf den Kopf der Familie. a) Stelle diese Zahlen bildlich dar; b) Was kosten diese 145»Ein GEISTESKRANKER kostet täglich etwa 4 Reichsmark «

4 jährlich insgesamt bei einem Satz von 4 RM? c) Wieviel Ehestandsdarlehen zu je 1000 RM könnten unter Verzicht auf spätere Rückzahlung von diesem Geld jährlich ausgegeben werden? 2. Ein moderner Nachtbomber kann 1800 Brandbomben tragen. Auf wieviel Kilometer Streckenlänge kann er diese Bomben verteilen, wenn er bei einer Stundengeschwindigkeit von 250 Kilometer in jeder Sekunde eine Bombe wirft? Die Schülerinnen und Schüler bekamen auf diese Weise neben den grundlegend wichtigen Rechentechniken auch das nationalsozialistische Gesellschaftsbild vermittelt, zudem erlangten sie praktisches Kriegswissen. Besondere Aufmerksamkeit galt dem Biologieunterricht, in dem der Jugend die Rassentheorie beigebracht werden sollte. Die Kinder hatten Stammbäume ihrer Familien mit Aufenthaltsorten zu erstellen, ihre Köpfe wurden vom Lehrer vermessen und gemäß den Schädelformtabellen kategorisiert. Dabei kam es nicht selten zu absurden Situationen. Der jüdische Schüler Valentin Senger hatte für seine Hausaufgaben gemeinsam mit seiner Mutter einen sorgsam gefälschten Stammbaum mit wolgadeutscher Abstammung erstellt und wurde wenig später zur Kopfvermessung ans Lehrerpult zitiert: An mir wollte er seine Fähigkeit in der Schädelbestimmung demonstrieren. Er drückte seinen krummen Zirkel an meinen Kopf, mal von vorn nach hinten, mal von links nach rechts, stellte jedes Mal den senkrechten Stift nach, schrieb Zahlen auf. Schließlich drehte er sich zur Klasse und verkündete triumphierend: Senger dinarischer Typ mit ostischem Einschlag, eine kerngesunde arische Rasse. 146

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