Nicole: «Antworten auf das Warum und Wieso gibt es keine»

Transkript

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2 Nicole: «Antworten auf das Warum und Wieso gibt es keine Dieser schnelle hochgradige Hörverlust war unvorhersehbar und unerklärbar. Im Herbst 2011 hörte Nicole Suter noch ziemlich gut; im Frühling 2013 erhielt sie ihr erstes, Monate später ihr zweites Cochlea-Implantat (CI). Es dauerte lange, bis sie die Situation akzeptieren konnte. Dass sie mit den CIs wieder hören und verstehen kann, stimmt sie zuversichtlich. Sie lacht und lächelt oft und gerne. Ihre blau-grauen Augen strahlen. Die langen brünetten Haare hat sie zurückgebunden, ihre Cochlea-Implantate sind sichtbar. Nicole Suter (30) ist ein positiv denkender Mensch. «Immer schon, sagt sie. Gelächelt hat sie darum auch dann noch, als es ihr zum Heulen war. Denn es gab öfter Momente, in denen es ihr psychisch nicht gut ging. Dennoch zeigte sie sich immer tough, immer optimistisch. «Ich wollte meine Probleme nicht nach aussen tragen. Aber sie übertünchte damit auch ihre Gefühle. Das rächte sich. Letztes Jahr liess sich nicht mehr alles einfach so weglächeln. Verarbeitungsphase steckt. Ihr Hörverlust hat sie stärker gemacht. Sagt sie. Und auch dies: «Ich bin jetzt 30 Jahre alt und habe in den letzten Jahren viel mehr erlebt als andere in meinem Alter. Das sehe ich heute positiv. Froh bin ich, dass ich sehr gut Lippen lesen kann. Gelernt habe ich dies nicht, es kam automatisch. Das Hoffen Eine gewisse Zeit lang ist die Hoffnung gross, dass das Gehör vielleicht doch Akzeptieren lernen «Meine Ertaubung hat mir psychisch mehr zugesetzt, als ich mir eingestanden habe. Ich entschloss mich darum für eine Therapie, um alles zu verarbeiten. Natürlich fragte ich nach dem Warum und dem Wieso. Antworten fand ich keine. So konzentrierte ich mich auf meine Arbeit. Dass da alles normal weiterlief, hat mir sehr geholfen. Die schwierigste Phase für mich war, mir bewusst zu werden, dass es nie mehr so sein wird wie vor dem Hörverlust. Ich lernte vieles akzeptieren, auch, dass ich nicht mehr in einem Büro mit mehreren Kollegen und Kolleginnen arbeiten konnte. Nicoles Zuversicht ist zurückgekehrt, obgleich sie nach wie vor in der Nicole Suter schaut wieder zuversichtlicher in ihre Zukunft. Den schnellen hochgradigen Hörverlust musste sie zuerst verarbeiten. Fotos: Patrick Lüthy/imagopress 7

3 8 Trotz unvorhergesehenen Hörverlusts hat Nicole versucht, optimistisch zu bleiben. Manche Belastung hat sie trotz Traurigkeit weggelächelt. wieder zurückkommt. Diese Hoffnung hat sie ein Stück getragen. «Allerdings hätte ich ohne diese Zuversicht bestimmt viel früher operiert. Bruchstückhaft erzählt Nicole ihre Geschichte, als würde sie über eine gute Bekannte reden. Sie versucht so, zu ihrer Hören-Geschichte Abstand zu finden. Das gelingt ihr nicht immer. Es gibt Erzählsituationen, in denen sich die ausdrucksstarken Augen verdunkeln, die Stimme leise wird, sich das Gesicht etwas abwendet. Und dann wieder strahlt sie über das ganze Gesicht. «Die genaue Ursache meines Hörverlusts ist unbekannt. Ver mutet wird u.a. eine Autoimmunerkrankung. Angefangen hat alles im Herbst Mit ihrem damaligen Freund besucht sie eine Gewerbeausstellung. Ein Akustikergeschäft bietet Hörtests an. Ihr Freund ermuntert sie, einen Test zu machen. Als dann aber der Hörakustiker auf unsensible Art und Weise sagt, sie sei eine Kandidatin für ein Hörgerät, war Nicole einfach nur geschockt. Über kurz oder lang geht sie dann zu einem HNO-Arzt. Im Frühjahr 2012 weist sie der Hausarzt an, den Notfall des Kantonsspitals Aarau aufzusuchen, weil der Verdacht auf einen Hörsturz besteht. «Aber die Ärztin, die mich untersuchte, nahm mich nicht ernst. Ich war frustriert. Rapider Hörverlust Im März 2012 zeigt ein Hörtest an der HNO-Klinik in Basel, dass der Hörverlust am linken Ohr bereits 94,5 Prozent, am rechten Ohr 20,6 Prozent beträgt. «Vier Monate zuvor lag der Hörverlust noch bei zehn Prozent links und fünf Prozent am rechten Ohr. Auf dem linken Ohr ertaub- te ich also innert ein paar Monaten. Rechts verlief der Hörverlust langsamer. In der Zeit der Abklärungen ist Nico le bei diversen Fachärzten. Auch entscheidet sie sich für verschiedene Alternativbehandlungen wie eine Ozon- Sauerstoff-Therapie oder Akupunktur. Die Ursache ihres Hörverlusts konnte nie wirklich geklärt werden. Ob der Auslöser eine Immunerkrankung ist, wie ein Arzt vermutete, bleibt unklar. Zum schlechten Hören kommen Schwindel. Sie werden mit Tabletten behandelt. «Der dritte HNO-Arzt verstand nie, weshalb ich während der ersten Abklärungen kein Cortison erhielt. Manchmal hilft das. Vielleicht würde ich sonst noch hören Nicole arbeitet immer weiter Der zweite HNO-Arzt erklärt ihr, sie solle zu einem Psychiater und dann wieder kommen, wenn Hörgeräte nichts mehr nützen würden. «Verständnislos und empathielos, befand Nicole. Ein anderer HNO-Arzt schickt sie zusätzlich zum Hörgeräteakustiker. Sie probiert verschiedene Systeme aus. Aber immer dann, wenn sie ein anderes Modell ausprobiert, verschlechtert sich das Gehör wieder. «So kam ich nie aus der Anpass-Phase heraus. Es geht Schlag auf Schlag Im März 2013 geht Nicole ins Kantonsspital Luzern. Es folgen Abklärungen für eine Cochlea-Implantation am linken Ohr. Implantiert wird sie im Mai. Im November des gleichen Jahres folgt die zweite Implantation am rechten Ohr. Weil alles so schnell geht, bleibt ihr keine Zeit, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Dies rächt sich später, psychische Probleme sind die Folge. «Und stell dir vor, sagt sie, «ich habe sogar noch kurz vor der CI-OP mein Arbeitspensum erhöht. Ich arbeitete auch bald nach der OP wieder weiter. Für mich war meine Ertaubung nie ein Grund, mit dem Arbeiten aufzuhören, obwohl mich gewisse Situationen stark belasteten. Für Nicole ist es ein Glück, dass ihr Vorgesetzter

4 Nicole mit dem Familienhund (li), mit ihrer Mutter die Eltern züchten in Frick Champignons und beim Telefonieren. auch hörgeschädigt ist. «Er verstand meine Probleme. Auch alle anderen von meiner Arbeitsstelle standen immer hinter mir. Einfach nur noch funktionieren Bei der Arbeit funktioniert sie. Auf die CI-Operationen folgen noch die Hörtrainings. Während einer Weiterbildung merkt sie dann, dass sie alles fordert und überfordert. «Es fehlte ganz einfach die Zeit, mich zu erholen. Das sind nun Tempi passati, genau wie ihre zeitweise Arbeitslosigkeit nach der KV- Lehre und ihrer Tätigkeit in einer Bank nahe ihrem Wohnort in Frick. Im Mai 2011 hat sie bei der Arbeitslosenversicherung eine neue Stelle gefunden. «Meine damaligen Erfahrungen als Arbeitslose kommen mir dort heute sehr zugute. «Für mich war meine Ertaubung nie ein Grund, mit dem Arbeiten aufzuhören. Nicole wurde 2013 implantiert. Nach intensiven Trainings hört sie mit ihren Cochlea-Implantaten wieder ziemlich gut. 9

5 Nicole ist sehr froh, arbeiten zu können. Sie räumt aber auch ein, dass es immer wieder einmal schwierige Hör- Situationen gibt, wie in Büros mit mehreren Kollegen, bei Feiern oder in lauten Restaurants. «Dann wird mir «Mit den CIs höre ich wieder je nach Situation zwischen 80 und 100%. bewusst, dass manches nicht mehr so gut wie vor der Ertaubung geht. Aber ich habe kapiert, dass ich das nicht ändern kann. In den schwierigen Jahren des Hörverlusts war ihr die Mutter eine ganz grosse Stütze. «Sie organisierte meine Arzt- und Therapietermine und war immer meine Ansprechpartnerin. Ohne meine Mutter hätte ich das nie alles geschafft. Natürlich stehen ihr auch Vater und Bruder zur Seite und helfen, wo sie können. «Allerdings verstand ich sie im Gespräch weniger gut als meine Mutter. Davon abgesehen konnte ich diese ganz emotionalen Dinge irgendwie nur mit meiner Mutter besprechen. Nicole zu: Hörverlust: Ich hoffe, dass die Medizin irgendwann so weit ist, dass sie einen Hörverlust in jedem Fall rückgängig machen kann. Vorteile Ertaubung: Wenn es in der Nacht draussen laut ist, stört mich das nicht... Freunde: Kommen und gehen. Die wahren Freunde bleiben. Hören in öffentlichen Bereichen (Bahnhöfen, Theater, Kino etc.): Auch nach schlechten Erfahrungen können erneute Versuche sich lohnen. Schwierigste Hörsituationen: Etwas zu verstehen, wenn alle durcheinander sprechen. Hörtraining nach CI-Implantation: War anstrengend, aber wegen meiner Hörtrainerin auch toll und teilweise lustig. Akzeptanz: Egal, ob oder welche Einschränkungen man hat, man braucht nicht die Akzeptanz von allen. Zukunft: Es lohnt sich, für die eigene Zukunft zu kämpfen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Freunde bleiben weg Einige Freunde hat Nicole während ihrer Ertaubungsphase verloren. Jene, die geblieben sind, haben sich schnell auf die neue Situation eingestellt. «Wenn sie es nicht vergessen, schauen sie mir beim Reden ins Gesicht. Ich höre mit meinen beiden CIs zwar wieder sehr gut, aber in vielen Situationen ist es wichtig, dass ich von den Lippen lesen kann. Die Beziehung zu ihrem Freund ist schon kurz vor den Hörproblemen zu Ende gegangen. «Danach war ich so mit mir und dem Hören beschäftigt, dass ich es vernachlässigt habe, Männer kennenzulernen und zu treffen. Irgendwie stand dies in den letzten Jahren gar nicht zur Diskussion, denn durch meinen Hörverlust schrumpfte mein Selbstbewusstsein bis auf null zusammen. Aber mittlerweile geht es mir wieder besser und ich bin ja jetzt auch schon 30. Es wäre schön, wenn ich mich nun verlieben könnte. «Mein Wunsch? Ich möchte meine Erfahrungen baldmöglichst so verarbeiten, dass es mir gelingt, alles gut abschliessen zu können. Manchmal denke ich, ich habe viel verloren. Aber ich habe auch vieles gewonnen. 10 Nicole: «Nach dem Hörverlust schrumpfte mein Selbstbewusstsein auf null zusammen. Jetzt schaue ich wieder optimistisch in die Welt. Nicole, wenn dir eine Fee sagt, du hättest drei Wünsche frei. Was würdest du dir wünschen? «Bei drei Wünschen wäre ein Wunsch sicher, wieder normal hören zu können. Aber wenn ich nur einen einzigen Wunsch frei hätte, dann wüsste ich nicht so genau, ob ich mir das Hören zurückwünschen würde. Denn der Wunsch nach einer Beziehung ist auch sehr gross. Karin Huber