Selbstbewusstsein ohne Ich
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- Gregor Pfaff
- vor 7 Jahren
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Transkript
1 Selbstbewusstsein ohne Ich Ansgar Beckermann Universität Bielefeld Bielefeld Turm der Sinne
2 Was ist das Ich? SPIEGEL-Streitgespräch Spiegel Wissen 1/2009 SPIEGEL: Herr Precht, was fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie das Wort ich hören? Precht: Ich denke an mich. SPIEGEL: Ist das Ich der Dreh- und Angelpunkt der geistigen Welt? Precht: Zweifellos. Mein gefühltes Ich ist das Zentrum meiner Welt. Es ist das, was mich am Morgen begrüßt, was sich unausgesetzt mit mir selbst unterhält, mein ewiger Gefährte im Geiste, der mich stetig begleitet.
3 Was ist das Ich? Richard David Precht einer oder zwei? Gibt es nur Richard David Precht, der manchmal an sich selbst denkt? Oder gibt es neben Richard David Precht auch noch sein Ich ein zweites Wesen, das sich unausgesetzt mit ihm unterhält? Wie kam es überhaupt dazu, dass wir heute anscheinend völlig problemlos über das Ich und das Selbst reden?
4 Was ist das Ich? Die Erfindung des Ich ein Missverständnis der frühen Neuzeit In der klassischen antiken und mittelalterlichen Philosophie ist der philosophische Begriff des Ich kaum vorhanden [ ]. (H. Herring, Ich, Abschn. I, Historisches Wörterbuch der Philosophie) Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts wird es üblich, von dem Ich oder auch dem Selbst zu reden.
5 Die Erfindung des Ich ein Missverständnis der frühen Neuzeit Descartes, Zweite Meditation Was ist das Ich? Nondum vero satis intelligo, quisnam sim ego ille, qui jam necessario sum [ ]. Ich bin mir aber noch nicht hinreichend klar darüber, wer denn Ich bin jener Ich, der notwendigerweise ist. (Meditationen 78f. meine Hervorh.) Novi me existere; quaero quis sim ego ille quem novi. Ich weiß, daß ich bin, und ich frage mich, was dieser Ich sei, den ich kenne. (Meditationen 84f. meine Hervorh.)
6 Was ist das Ich? Die Erfindung des Ich ein Missverständnis der frühen Neuzeit ego ille ich oder das Ich? Ridebis, et licet rideas. ego ille, quem nosti, apros tres et quidem pulcherrimos cepi. ipse? inquis. ipse. (Plinius Briefe, 78) Du wirst lachen, und Du kannst auch lachen. [Ausgerechnet ich], den Du kennst, habe drei und zwar ganz prächtige Eber gefangen. Selbst? fragst Du. Ja, selbst. (ebd., 79) ego ille ich (oder: gerade ich), aber nicht: mein Ich
7 Was ist das Ich? Die Erfindung des Ich ein Missverständnis der frühen Neuzeit En sorte que ce moi, c est-à-dire l âme par laquelle je suis ce que je suis, est entièrement distincte du corps [ ]. (Discours IV 2, AT VI 33) [ ], so dass dieses Ich, d.h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, völlig verschieden ist vom Körper [ ]. [ ] il est certain que ce moy, c est à dire mon ame, par laquelle ie suis ce que ie suis, est entierement & veritablement distincte de mon corps [ ]. (Meditations, AT IX, 62 meine Hervorh.) [ ] ist gewiss, dass dieses Ich, d.h. meine Seele, durch die ich bin, was ich bin, vollständig und wahrhaft von meinem Körper unterschieden ist [ ].
8 Was ist das Ich? Die Erfindung des Ich ein Missverständnis der frühen Neuzeit Self is that conscious thinking thing [ ], which is sensible, or conscious of Pleasure and Pain, capable of Happiness or Misery, and so is concern d for it self, as far as that consciousness extends. (Essay Concerning Human Understanding, II, xxvii, 17)
9 Was ist das Ich? Die Erfindung des Ich ein Missverständnis der frühen Neuzeit Nunquid me ipsum non tantum multo verius, multo certius, sed etiam multo distinctius evidentiusque, cognosco? (Descartes, Meditationes, AT VII, 33) Sollte ich mich selbst nicht nur viel wahrer, viel sicherer, sondern auch viel deutlicher und evidenter erkennen? (Descartes, Meditationen, Wohlers, 65) [D]o I not know myself, not only with much more truth and certainty, but also with much more distinctness and clearness? (HR 1, 156) Surely my awareness of my own self is not merely much truer and more certain [ ], but also much more distinct and evident. (CSM II, 22)
10 Was ist das Ich? Die Erfindung des Ich ein Missverständnis der frühen Neuzeit In der Zeit nach Descartes und Locke breitet sich die Rede von dem Ich oder dem Selbst mit geradezu rasender Geschwindigkeit aus. Aber damit tut man den Ausdrücken ich und selbst Gewalt an. ich und selbst kann man nicht mit einem bestimmten oder unbestimmten Artikel verbinden oder mit einem Demonstrativ- oder Possessivpronomen! das Ich, ein Ich, dieses Ich, mein Ich, das Selbst, ein Selbst, dieses Selbst, mein Selbst alles sprachlicher Unsinn!
11 Was ist das Ich? Die Erfindung des Ich ein Missverständnis der frühen Neuzeit ich ist wie jeder weiß ein Personalpronomen (erste Person Singular). Grammatik und Semantik von ich 1. ich ist ein singulärer Term; er bezeichnet eine einzelne Person; 2. ich ist ein indexikalischer Ausdruck, dessen Bezug sich in Abhängigkeit vom Äußerungskontext ändert; 3. ich bezeichnet immer den Sprecher, der diesen Ausdruck äußert.
12 Was ist das Ich? Die Erfindung des Ich ein Missverständnis der frühen Neuzeit Wenn R. D. Precht sagt: Ich bin der Autor des Buches Wer bin ich, dann redet er nicht über sein Ich, sondern über sich R. D. Precht. Es gibt nur R. D. Precht; sein Ich gibt es nicht. Wenn er in den Spiegel schaut, sieht er sich, nicht sein Ich. Generell: Es gibt kein Ich, es gibt nur mich. Die Erfindung von Ich und Selbst war eine der ganz großen Fehlentwicklungen in der Philosophie. Aber was wird aus unserem Selbstbewusstsein, wenn es kein Ich und kein Selbst gibt?
13 Kognitive Wesen Selbstbewusstsein Menschen sind ebenso wie viele andere Lebewesen Wesen, die sich ein Bild ihrer Umwelt machen müssen, um in dieser Umwelt zurecht kommen zu können. Sie müssen ihre Umwelt repräsentieren.
14 Kognitive Wesen Selbstbewusstsein Kognitive Wesen müssen ihre Umwelt repräsentieren. Es gibt eine Mühle, einen Bach, ein paar Bäume, zwei Häuser. Die Mühle steht auf einem Hügel. Die beiden Häuser stehen rechts neben der Mühle. Der Bach fließt vor der Mühle. Die Sonne steht am Himmel.
15 Kognitive Wesen Selbstbewusstsein Kognitive Wesen müssen ihre Umwelt repräsentieren. Welche Objekte gehören zur Szene? Zu welchen Arten gehören diese Objekte? Welche Eigenschaften haben die Objekte? In welchen Beziehungen stehen sie zueinander?
16 Selbstbewusstsein Kognitive Wesen SHRDLU (ist-ein objekt1 würfel) (farbe objekt1 rot) (ort objekt1 (2 1 0)) (ist-ein objekt2 pyramide) (farbe objekt2 grün) (ort objekt2 (2 1 2)) (auf objekt2 objekt1) (ist-ein objekt3 würfel) (farbe objekt3 blau) (ort objekt3 (8 5 0)) (ist-ein objekt4 pyramide) (farbe objekt4 grün) (ort objekt4 (4 7 0))
17 Kognitive Wesen Selbstbewusstsein Wenn ein kognitives Wesen seine Umwelt repräsentiert, kommt es selbst in diesen Repräsentationen zunächst nicht vor. Um in der Umwelt zurecht zu kommen, muss es sich zunächst nicht selbst als Teil der Umwelt repräsentieren.
18 Kognitive Wesen Selbstbewusstsein Das ändert sich, wenn in der Umwelt eines kognitiven Wesens andere kognitive Wesen vorkommen. Diese Wesen müssen ebenfalls repräsentiert werden und zwar als als Wesen, die ihrerseits ihre Umwelt repräsentieren.
19 Kognitive Wesen Selbstbewusstsein Das ändert sich, wenn in der Umwelt eines kognitiven Wesens andere kognitive Wesen vorkommen. Was sehen die Mitwesen? Was wissen sie von der Umwelt? In welcher Stimmung sind sie? Sind sie müde und schläfrig? Oder aggressiv?
20 Kognitive Wesen Selbstbewusstsein Das führt am Ende dazu, dass in solchen Situationen kognitive Wesen lernen, dass sie selbst für die anderen kognitiven Wesen Teil von deren Umwelt sind. Sie sind für die anderen, was die anderen für sie sind. D.h., kognitive Wesen lernen, sich selbst als Teil ihrer Umwelt zu repräsentieren. So entwickeln sich am Ende des Repräsentationsprozesses Selbstrepräsentationen, die den Kern des Selbstbewusstseins ausmachen.
21 Fazit Selbstbewusstsein Ein kognitives Wesen verfügt über Selbstbewusstsein, wenn es nicht nur die Dinge und die anderen kognitiven Wesen in seiner Umgebung, sondern auch sich selbst als Teil dieser Umgebung repräsentiert. Wenn es sich selbst als Teil der Welt versteht ein Wesen, das Gefühle und Gedanken hat, das sich aber auch an einem bestimmten Ort in dieser Welt befindet und in bestimmten Beziehungen zu den anderen Dingen und den anderen kognitiven Wesen in der Welt steht.
Es handelt sich um eine überarbeitete Version von Beckermann Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil I, 38.
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