Blasen im Problembewusstsein - scheitert die EU an 0,3%?
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- Lucas Hummel
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1 Blasen im Problembewusstsein - scheitert die EU an 0,3%? Von Wolfgang Gerstenberger Lage der öffentlichen Finanzen Abb. 1: Probleme, welche EU-Bürger im November 2015 sahen Einwanderung Terrorismus Wirtschaftliche Lage Arbeitslosigkeit Kriminalität Steigende Preise/Inflation Die Bürger der Europäischen Union nannten im November 2015 unter den zwei wichtigsten Problemen der Europäischen Union am häufigsten die Einwanderung (Abb.1). An zweiter Stelle fürchteten sich die EU-Bürger vor Terrorismus. Dieser machte häufiger Sorgen als die Wirtschaftslage und die Arbeitslosigkeit in der EU. Im Mai 2015 rangierte die Furcht vor Terrorismus noch nach diesen Themen. Von den Befragten in den 28 EU-Ländern (rd pro Land) gaben als wichtiges Problem darüber hinaus mit einer Häufigkeit von weniger als 7% die Themen Klimawandel, Einfluss der EU in der Welt, Umwelt, Steuern, Renten und Energieversorgung als wichtiges Problem der Europäischen Union an. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% Auch die Einwanderung wurde erst Eurobarometer Nr. 84 Häufigkeit der Nennung im Frühjahr 2015 wesentlich häufiger als Problem wahrgenommen. Im Jahr2014 wurde die Angst vor Einwanderung noch weniger häufig als EU-Problem genannt als die Wirtschaftslage, die Arbeitslosigkeit und die Lage der öffentlichen Haushalte. Nun ist tatsächlich der Flüchtlingsstrom nach Mittel- und Nordeuropa erst im Laufe des letzten Jahres deutlich angeschwollen. In die EU haben bis Jahresende 2015 mehr als 1,2 Millionen Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge Schutz oder ein besseres Leben gesucht. Der Hauptstrom kam dabei über die sogenannte Balkan-Route (Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Ungarn, später Slowenien nach Österreich, Deutschland und Nordeuropa). Die Bilder von den Flüchtlingsströmen haben die Medien beherrscht. Aber trotzdem fragt man sich, wieso eine Einwanderung von bis zu 1,5 Millionen aus Nahost und Afrika über 500 Millionen EU-Bürgern so beeindrucken kann, dass sie die Einwanderung als wichtigstes Problem der EU ansehen. Die 1,5 Millionen Zuflucht und Arbeit suchenden Menschen, die z.t. auch nur befristet hierbleiben werden, stellen gerade einmal 0,3% der EU Bevölkerung dar. Vielleicht hilft eine vergleichende Analyse nach EU-Länder weiter. Die Wahrnehmung der Einwanderung in den einzelnen EU-Ländern. Im Rahmen der Eurobarometer wird auch standardmäßig gefragt, was die Bürger als die zwei wichtigsten Probleme ihres Heimatlandes ansehen. Eine Aggregation der länderbezogenen Häufigkeiten der verschiedenen Probleme über alle 28 EU-Länder führt zur gleichen Rangfolge wie die Frage nach den Problemen für die EU insgesamt (Siehe Abb.1). Der Wert für die Einwanderung liegt allerdings niedriger. Ein Ranking nach der Häufigkeit, mit der in den Ländern die Einwanderung als Hauptproblem gilt, zeigt eine klare Differenzierung. Im Frühjahr 2014 war die Einwanderung in Malta und Italien wichtig. Diese Länder waren die Hauptankunftsländer der Flüchtlinge aus Nordafrika. Aber auch die Bürger in Mittel- und Nordeuropa waren häufiger besorgt. Dies waren die Zielländer der Flüchtlinge, die in Italien angekommen waren und weitergewandert sind. Eine Ausnahme bildet das Vereinigte Königreich. In Großbritannien fürchtet man sich vor allem vor den Arbeitssuchenden aus den neuen EU-Ländern, - 1 -
2 die im Rahmen der EU-Freizügigkeit auf den britischen Inseln arbeiten und Einkommen erzielen wollen. Die vielen Arbeitssuchenden aus den neuen EU-Ländern dürfte auch zu dem Unbehagen in den mittel- und nordeuropäischen Ländern beigetragen haben. Tab. 1: EU-Länder, deren Bürger am häufigsten die Einwanderung als Problem angesehen haben Länder im Mai 2014 Häufigkeit Länder im Nov 2015 Häufigkeit Deutschland 22% Deutschland 76% Dänemark 20% Dänemark 60% Belgien 17% Österreich 56% Österreich 15% Schweden 53% Schweden 14% Slowenien 48% Malta 64% Belgien 38% Italien 16% Malta 65% Vereinigtes Königreich 41% Vereinigtes Königreich 44% Niederlande 56% Tschech. Republik 47% Estland 45% Quelle: Eurobarometer Nr. 84 und Nr. 81 Im November 2015, also nachdem sich der Strom von Kriegsflüchtlingen aus Nahost über die Balkanroute nach Mitteleuropa angeschwollen war, sind natürlich die Bürger dieser Länder, wesentlich zahlreicher besorgt über die Einwanderung als In Malta, Italien und im Vereinigten Königreich werden im November 2015 dagegen Probleme mit der Einwanderung ähnlich häufig wahrgenommen wie noch im Frühjahr Die Furcht vor der Einwanderung hat jedoch außer den Bürgern der Ziel - und Durchgangsländern der Immigranten auch die Bürger in Tschechien, Estland und Finnland erfasst. Dies deutet darauf hin, dass neben den Fakten auch noch andere Einflussfaktoren wie Stimmungen eine Rolle spielen. Auf Wahrnehmungsdefizite deutet hin, dass die vorher sehr gelassenen Holländer erst im Sommer 2015 gemerkt haben, dass die Niederlande ebenfalls betroffen sein werden. Gibt es harte Fakten für die Erklärung der Unterschiede in der Wahrnehmung der Einwanderung zwischen den EU-Länder? Die Angst vor Fremden und Ausländern ist ein Phänomen, das in der Geschichte der Entwicklung der Menschheit immer präsent war. Aus evolutionsbiologische Sicht ist die Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit aus der Notwendigkeit entstanden, bei Ressourcenknappheit das Territorium der Gruppe oder des Clans zu verteidigen um das Fortbestehen der Bewohner zu gewährleisten. Heutzutage, wo der Landbesitz für das Überleben nicht mehr so im Mittelpunkt steht, sind andere Gesichtspunkte wie die Erhaltung des Wohlstandes, der Schutz der Arbeitsplätze oder die Bewahrung der kulturellen Identität einer Gesellschaft als Motiv für die Skepsis gegenüber dem Fremden wichtiger geworden. Geht man von dem zuletzt genannten Bündel von Einflussfaktoren aus, dann könnten die Unterschiede in der Häufigkeit, mit der die Bürger der EU-Länder, die Einwanderung fürchten, mit Unterschieden zusammenhängen im pro-kopf Einkommen der Einwohner als Ausdruck für den im Land herrschenden Wohlstand; - 2 -
3 Häufikeit der Nenneung der Einwanderung bei der Arbeitslosenquote, als Ausdruck für die Furcht, dass durch die Einwanderung mehr Konkurrenz um die knappen Arbeitsplätze entstehen wird; postuliert wird dabei, dass die Angst umso größer ist, je mehr die Einwohner von Arbeitslosigkeit betroffen sind; in der Höhe des Ausländeranteils an der Bevölkerung als Ausdruck für den Grad in dem eine Gesellschaft bereits multikulturell geprägt ist; da Daten für Ausländern aus EU-Ländern und Nicht-EU-Ländern vorliegen, kann dabei indirekt auch noch zwischen Ausländern mit christlichem Hintergrund und Ausländern mit anderer religiöser Prägung unterschieden werden; in der Bedeutung EU-kritischer, meist rechter Parteien in den EU-Ländern; als Indikatoren wurden dabei die Wahlergebnisse zum EU-Parlament 2015 herangezogen. So vielversprechend dieser Katalog an Zusammenhängen zwischen harten Fakten und der Häufigkeit von Furcht gegenüber Einwanderern ist, so enttäuschend ist das Ergebnis der empirischen Untersuchung für die 28 EU-Länder. Es gibt nur einen belastbaren Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Bürger nach EU-Land, welche Probleme mit der Einwanderung haben, und der Höhe der Arbeitslosenquote des EU-Landes (Abb.2). 80% 70% Abb. 2: Arbeitslosigkeit nach EU-Ländern und Häufigkeit, mit welcher deren Bürger die Einwanderung als Problem nannten DE Im November 2015 im Mai % 50% SI 40% 30% 20% 10% IT HR EL 0% 4,0 9,0 14,0 19,0 24,0 29,0 Arbeitslosenquote im Jahresdurchschnitt Quelle: Eurostat, Eurobarometer Nr. 84 und Nr.81 Wie die Abbildung zeigt, weicht für einige Länder die beobachtete Werte-Kombination sowohl im November 2015 als auch im Mai 2014 stark von den theoretischen Werten für den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Angst vor Einwanderung ab. Der Zusammenhang ist also nicht allzu eng und wird mitunter durch andere Faktoren gestört. Ähnliche theoretische Linien existieren für die Datensätze vom November 2014 und Mai Auf die Darstellung wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet. Alle Kurven weisen zunächst mit steigender Arbeitslosigkeit ein Gefälle auf und nehmen erst bei höheren Arbeitslosenquoten als 19% wieder zu. Das Gefälle ist bei niedrigeren Quoten der Arbeitslosigkeit umso ausgeprägter je aktueller die Beobachtungswerte sind. Dieser Befund ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen widerspricht er der gängigen These, dass die Fremdenfeindlichkeit mit steigender Arbeitslosigkeit zunimmt. Dies trifft für die Länder der EU erst im Bereich hoher Arbeitslosigkeit zu. Zum anderen weist er wiederum darauf hin, dass die Häufigkeit der Furcht vor Einwanderung außer von der Arbeitslosigkeit noch von anderen Einflussgrößen - 3 -
4 abhängt. In Frage kommt, dass die Rudimente frühgeschichtlicher Verhaltensweisen in den Gesellschaften der EU-Ländern unterschiedlich verbreitet sind. Möglich ist aber auch, dass schlicht höhere Raten der Zuwanderung bei unveränderter Arbeitslosigkeit mehr Menschen Angst einjagt. Wie kommen die extrem hohen Werte für die Angst vor Einwanderung in Mittel- und Nordeuropa zustande? Die relativ niedrige Arbeitslosigkeit und der Umfang der Flüchtlingsströme können aber nicht erklären, weshalb in Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden, Niederlande mehr als die Hälfte und bis zu drei Viertel aller Bürger sich vor der Einwanderung fürchtet und diese als Problem weit häufiger wahrgenommen wird als die Wirtschaftsentwicklung, die Kriminalität, der Terrorismus geschweige denn Umweltbelastungen, der Klimawandel und die Energieversorgung. Zu vermuten ist, dass dies nicht ohne den Umfang und die Fokussierung der Berichterstattung in den Medien auf die Flüchtlingskrise zu erklären ist. Durch den wachsenden ökonomischen Druck und die Beschleunigung im Nachrichtenfluss hat die gegenseitige Koorientierung unter den Journalisten und Redakteuren nochmals zugenommen. Da sich die, in Konkurrenz stehenden, Zeitungen, Fernsehanstalten und Foren im Internet wechselseitig beobachten und ein publikumswirksames Thema nicht einem Wettbewerber überlassen dürfen ohne dies bei der Auflage oder Einschaltquote zu spüren zu bekommen, entstehen Selbstverstärkungsprozesse, die zu den Medienhypes führen. Das Herdenphänomen in der Berichterstattung wird noch dadurch verstärkt, dass in der Politik, aber auch in den sozialen Medien, die Thematik aufgegriffen wird. Insbesondere im rechten Spektrum von Politik und Bürgern wird Öl ins Feuer gegossen und die Diskussion um die Flüchtlinge am Laufen gehalten. Diese Wechselwirkungen erklären mit, warum der Medienhype um die Flüchtlingsthematik so lange anhält. Ein weiterer Grund ist natürlich, dass es der Staatengemeinschaft und dem UN-Sicherheitsrat bisher nicht gelungen ist, eine Hauptursache neuer Wellen von Flüchtlingen, nämlich die Bürgerkriege in Syrien, Irak, Jemen und Afghanistan zu beenden oder wenigsten einzudämmen. Fazit Die Einwanderung ist in der Europäischen Union und insbesondere in Mittel- und Nordeuropa in den Augen der Bürger zum alles dominierenden Problem geworden. Die Furcht vor den Flüchtlingen ist zum einen darin begründet, dass die Bürger den Zuzug als Gefahr für den relativ guten Arbeitsmarkt in ihren Ländern und ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz sehen. Mit dem Anschwellen des Flüchtlingsstroms haben sich deutlich mehr Einwohner dieser Sicht angeschlossen. Eine zentrale Rolle spielen jedoch Herdenphänomene in den Medien und in Politik und Gesellschaft. Diese haben nicht nur dazu geführt, dass in den Zielländern der Flüchtlinge in Mittelund Nordeuropa eine regelrechte Blase im Problembewusstsein der Bürger entstanden ist. Der Medienhype hat auch die Bürger in Länder wie Tschechien, Polen, Finnland und den baltischen Staaten, die bisher gar nicht vom Zuzug betroffen sind, dazu gebracht, die Einwanderung als wichtiges Problem ansehen. Nun weicht irgendwann die Luft aus jeder Blase. Das Problem ist aber, dass die aktuelle Blase im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise schon in der realen Welt ihren Niederschlag findet. Es ändert sich das Kaufverhalten, z.b. werden plötzlich Schusswaffen und Pfefferspray zum Selbstschutz vor den Fremden aus anderen Kulturen gekauft. Noch wichtiger ist sicher, dass sich die Blase auch im Wahlverhalten der Bürger auswirken wird. Über diesen Hebel könnten sich nachhaltige Veränderung in der Politik wie in der Gesellschaft einstellen, die nicht gerade für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Sicherung der Menschenwürde und der Hilfsbereitschaft in der - 4 -
5 Bevölkerung förderlich sein werden. Wegen eines Zustroms von 0,3% der Einwohner könnte die Europäische Gemeinschaft auseinanderfliegen. Außer einer raschen Eindämmung des Zuzugs von Flüchtlingen existiert kein Rezept, wie auf kurze Sicht die Luft aus der Blase herausgelassen werden könnte. An der Verminderung der Zahl der Zuzüge wird zwar gearbeitet, ein kurzfristiger Erfolg ist aber nicht garantiert. Vielleicht sollten sich die Verlage und Fernsehanstalten, trotz des ganzen Geredes am rechten Rand von Lügenpresse, zusammensetzen und nach Wegen suchen, wie ein angemesseneres Verhältnis zwischen dem Umfang und Fokussierung in der Berichterstattung, Kommentierung sowie Talkshows auf einzelne Themenfelder und der Realität in der Gesellschaft hergestellt werden kann
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