Jahrestagung des AK Geographische Wohnungsmarktforschung 2010 Gentrification am 10./ in Dresden
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1 Jahrestagung des AK Geographische Wohnungsmarktforschung 2010 Gentrification am 10./ in Dresden Programm Jan Glatter Exkursion: Gentrification in der Dresdner Äußeren Neustadt Forschungsgang und Forschungsfragen I Moderation Matthias Bernt Jens S. Dangschat 30 Years After Gentrification Revisted Forschungsgang und Forschungsfragen II Moderation Matthias Bernt Andrej Holm Gentrification als städtischer Mainstream: Neue Formen Alte Fragen Kommunikation und Politik der Gentrification Moderation Manfred Nutz Moritz Rinn Urban Governance vs. das Recht auf Stadt : Politische Implikationen gegenwärtiger Konflikte um städtischen Raum und Gentrification in Hamburg Leander Küttner Gentrification in der Alltagswelt die kommunikative (Re )Konstruktion von Stadtquartieren Projekte der Gentrification Moderation Manfred Nutz Jan Dohnke Vom Problemviertel zum Szenekiez? Umfang und Ursachen der Gentrifizierung in Kreuzberg und Nord Neukölln. Maren Harnack How did this become the height of Fashion? Gentrification der Trellick Tower in London New Build Gentrification und Reurbanisierung Moderation Jan Glatter Christian Krajewski New build Gentrification at Urban Waterfronts? Die Beispiele Münster Stadthafen und Köln Rheinauhafen. Annegret Haase Reurbanisierung als Ansatz zur Untersuchung kleinräumigen Wandels in der Stadt: Konkurrenz zum Gentrification Konzept?
2 Bericht zur Jahrestagung des AK Geographische Wohnungsmarktforschung 2010 Gentrification am 10./ in Dresden (erschienen im Rundbrief Geographie, Februar 2011) Die Jahrestagung des Arbeitskreises Geographische Wohnungsmarktforschung fand am 10. und 11. Dezember 2010 in Dresden als Seminar des Herbert Wehner Bildungswerks zum Thema Gentrification statt. statt. Das Seminar wurde gemeinsam von Jan Glatter (TU Dresden), Manfred Nutz (Uni Bonn) und Matthias Bernt (IRS Erkner) organisiert. An der Veranstaltung nahmen insgesamt 53 Wissenschaftler und Praktiker unterschiedlicher Disziplinen teil. Das in der angelsächsischen Stadtforschung in den 1960er Jahren geprägte Konzept wurde Ende der 1980er Jahren auch in Deutschland zum Thema wissenschaftlicher Untersuchungen und ist seitdem ein Dauerbrenner der Stadtforschung. Am Beginn standen Forschungen zur Gentrification in westdeutschen Städten, die ab Mitte der 1990er Jahre durch die Diskussion über Aufwertungsprozesse in ostdeutschen Städten abgelöst wurden. In den letzten Jahren wurden allerdings empirische Untersuchungen und konzeptionelle Arbeiten zur Gentrification in der deutschsprachigen Stadtforschung eher seltener, obgleich Aufwertungsprozesse der Innenstädte unter Bezeichnungen wie Reurbanisierung oder Renaissance der Innenstädte in den Fokus rückten. Mit den aktuellen Protesten gegen Aufwertungsprozesse in Hamburg (Gängeviertel, Bernhard Nocht Quartier) rückte das Thema wieder stärker in die Öffentlichkeit, wodurch insbesondere Fragen nach empirischen Belegen für Gentrification und Möglichkeiten zur Steuerung eine neue Relevanz gewinnen. Vor diesem Hintergrund sollte das Seminar ein Forum schaffen, auf dem aktuelle empirische Erkenntnisse und konzeptionelle Fragen zu Gentrification diskutiert werden konnten. Am Beginn des Seminars stand eine Exkursion durch das Dresdner Gründerzeitquartier Äußere Neustadt. Auf der Führung erläuterte Jan Glatter (TU Dresden) Grundzüge des seit 1990 laufenden Aufwertungsprozesses und aktuelle Entwicklungstrends. Der Verkauf des kommunalen Wohnungsunternehmens Woba an die Gagfah hat auch in dem Gründerzeitquartier zu einer Wiederbelebung der Grundstückverkäufe geführt. Wenn sich auch die Verkäufe durch die Gagfah bisher in Grenzen halten, so sind doch weiterhin eine kontinuierliche Mietpreissteigerung und eine Reduzierung des preiswerten Wohnungsbestandes erkennbar. Darüber hinaus scheint vor allem der Prozess der Touristifizierung mittels Imagekampagnen der Stadt Dresden und Gewerbetreibenden des Quartiers eine neue Dynamik zu erhalten. Am Nachmittag des ersten Seminartags standen anschließend zwei Grundlagenvorträge über den Forschungsgang und aktuelle Fragen der Gentrificationforschung auf dem Programm. Mit Jens S. Dangschat (Uni Wien) und Andrej Holm (Uni Oldenburg) konnten zwei Referenten gewonnen werden, die zu den einflussreichsten Vertretern der ersten und zweiten Generation der Gentrificationforscher in Deutschland zählen. Jens S. Dangschat erläuterte in seinem Vortrag einleitend die Entstehungshintergründe und frühen Ansätze der sogenannten Hamburger Schule. Im Weiteren wies er vor allem auf ungelöste konzeptionelle Probleme der Gentrificationforschung hin und stellte ein komplexes Mikro Meso Makro Modell zur Analyse von Aufwertungsprozessen vor. Andrej Holm nahm empirische Befunde zur Aufwertung Berliner Innenstadtquartiere zum Ausgangspunkt, um auf die Vielfalt der Charakteristika und Verläufe von Aufwertungsprozessen hinzuweisen. Am zweiten Tagungstag wurden in sechs Vorträgen aktuelle empirische Untersuchungen vorgestellt. Moritz Rinn (Uni Hamburg) erläuterte die Konflikte um die Nachnutzung der ehemaligen Rindermarkthalle in Hamburg St. Pauli, in denen sich unterschiedliche Raumkonzepte der Akteure nachweisen lassen. Leander Küttner (IRS Erkner) stellte einen Ansatz zur wissenssoziologischen Analyse von Kommunikationsprozessen vor, der Grundlage für empirische Untersuchung in Hamburg Wilhelmsburg und Berlin Moabit ist. Jan Dohnke (FU Berlin) thematisierte die Aufwertungen in den Berliner Quartieren Kreuzberg und Neukölln, die deutlich machen, dass selbst Quartiere, die noch vor kurzem als soziale Brennpunkte bezeichnet wurden, inzwischen Indizien der Aufwertung im Sinne der Gentrification erkennen lassen. Maren Harnack (Uni Hamburg) erläuterte anhand des Londoner Hochhaussozialbaus Trellick Tower, wie semantische Zuschreibungen den Eindruck einer Gentrification vermitteln können. Christian Krajewski (Uni Münster) stellte mit dem Rheinhafen in Köln und dem Stadthafen Münster zwei Projekte der new build gentrification vor. Annegret Haase (UFZ Leipzig) präsentierte ein Konzept, mit dem Prozesse der Reurbanisierung und Gentrification voneinander unterschieden werden könnten.
3 Exkursion durch die Dresdner Äußere Neustadt, Standort Kunsthofpassage (Foto: Sitte) Die Vorträge und anschließenden Diskussionen zeigten, dass es trotz mehr als zwanzigjähriger Forschungen noch immer grundlegende theoretisch konzeptionelle Fragen gibt, die ebenso wie die aktuellen Entwicklungen in deutschen Städten, einen neuen Forschungsbedarf offenkundig werden lassen. Die Ergebnisse lassen sich anhand von vier Punkten zusammen fassen. Begriffsbestimmung Noch immer bestimmt eine zentrale Frage die Diskussionen: Welche Veränderungen können unter dem Etikett Gentrification analysiert werden, und welche passen nicht mehr in das Konzept? Im Laufe der Forschung wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder neue Definitionsvorschläge erarbeitet, so dass nicht nur der Prozess, sondern auch seine begriffliche Fassung eine erhebliche Bandbreite von Variationen aufweist. Auch auf der Tagung wurden unterschiedliche Begriffskonzepte angeboten: sozioökonomische Aufwertung und soziokulturelle Umwertung innerstädtischer Wohn und Mischgebiete (Dangschat), Reinvestition, soziale Aufwertung durch Zuzug von statushöheren Bevölkerungsgruppen, Veränderung des Charakters eines Viertels und Verdrängung statusniedriger Bewohner (Holm, Krajewski) selektive Zuwanderung und Aufwertung von Quartieren sowie Verdrängung (Haase). Bei diesem Diskussionsstand scheint es schon gar nicht mehr verwunderlich, dass der Begriff des Gentrifidingsbums in der Debatte auftaucht (Twickel 2010). Ein verbindendes Band der meisten Diskussionsbeiträge war entsprechend eine Ablehnung schematischer Definitionen und eine Hinwendung zu einer Art Pluralisierung von Gentrificationkonzepten, in denen konkrete Aufwertungsprozesse stärker in ihren raum zeitlichen Kontext eingebettet werden sollten. Mit diesem Stand der Diskussion steht die Gentrificationforschung vor einem Dilemma, das sich auch in anderen wissenschaftlichen Themen wieder finden lässt, man denke hier nur an Begriffe wie Konsum, Integration, Identität
4 oder Bewusstsein. Dabei gilt es auf der einen Seite eine zu enge Begriffsfassung zu vermeiden, die Varianzen und Entwicklungen des Forschungsgegenstandes nicht gerecht wird. Auf der anderen Seite sind Begriffsklärungen jedoch essentiell für eine fruchtbare wissenschaftliche Arbeit. Aus diesem Grund sollte die Diskussion um eine Begriffsklärung nicht aufgegeben oder der Pragmatik überlassen werden. Eine praktikable Definition der Gentrification wird sich allerdings nur finden lassen, wenn diese Definition in Kontrast zu anderen Begriffen gesetzt wird, mit denen gleichsam sozialräumliche Prozesse bezeichnet werden (Aufwertung, Suburbanisierung, Reurbanisierung). Notwendig werden auch konsequentere Reflexionen über die mit der Begriffsklärung verbundenen Raumkonzepte. Woraus sich wiederum die Erfordernis nach einer theoretischen Verständigung über die Materialität der Räume, das körperliche Agieren der Raumnutzer und die sozialen Raumkommunikationen ergibt. Hier steht die Gentrificationforschung, die Quartiere häufig als Raum Container betrachtet, noch am Anfang ihrer Diskussion. Aktuelle Entwicklungen und Facetten der Gentrification Der Blick in die Entwicklung der Gentrificationforschung, aber auch die vorgestellten empirischen Beispiele haben nochmals deutlich gemacht, dass es sich um einen historisch evolutionär zu verstehenden Prozess handelt. Dies gilt zum einen für das Phänomen der Quartiersaufwertung an sich, welches in den 1960er Jahren noch als Innovation und bis in die 1980er Jahre als Ausnahme galt, inzwischen von einigen Autoren aber als städtischer Mainstream (Holm) interpretiert wird. Gentrification ist ein in der Auseinandersetzung mit Prozessen der Innenstadtentwicklung entstandenes Phänomen, welches inzwischen bei vielen Akteuren bekannt ist und entsprechend deren Handlungsund Kommunikationsstrategien beeinflusst. Gentrification ist ein historischer Prozess, woraus sich spezifische Kopplungen mit synchronen Prozessen der Stadtentwicklung ergeben können. Andrej Holm wies in diesem Zusammenhang auf den Einfluss der Finanzialisierung der Immobilienwirtschaft, auf die Veränderung von Konsumund Haushaltsmustern und auf die gestiegene räumliche Mobilität als Faktoren für eine Veränderung von Prozess und Verlaufsformen der Gentrification hin. Gentrification ist aber auch ein Prozess, der an jedem Ort einen spezifischen Verlauf nimmt. Die Aufwertungsprozesse sind demnach auch immer an zeit räumliche Kontexte gebunden. In der empirischen Forschung erkennbare Ausprägungen der Gentrification (family gentrification, rental gentrification, rural gentrification) sind danach nicht als Widersprüche zu einem allgemeingültigen Modell zu betrachten, sondern als Spielarten der Gentrification, die sich möglicherweise für typisierende Generalisierungen eignen. Forschungsbedarf zur Gentrification An vielen Stellen der Diskussion wurde ein Bedarf nach Forschungen erkennbar. Dieser ergibt sich insbesondere aus vier Aspekten: Erstens ist aktuell in mehreren westdeutschen Großstädten eine Zunahme an Aufwertungsprozessen sowie an Protestkulturen gegen Gentrification ( Recht auf Stadt ) erkennbar. Auf der Tagung wurden Prozesse in Berlin (Neukölln, Kreuzberg, Prenzlauer Berg) und Hamburg (St. Pauli, Schanzenviertel, Karoviertel) vorgestellt. Die bisherigen Aussagen basieren allerdings alle auf sekundärstatistischen Aggregatdaten. Sozialwissenschaftliche Primärerhebungen von Individualdaten, die Hypothesen über die Veränderung von Gentrificationprozessen die notwendige Gültigkeit verleihen könnten, fehlen bislang. Zweitens begründen die bereits erwähnten synchron verlaufenden Stadtentwicklungsprozesse (Finanzialisierung der Immobilienwirtschaft) Forschungsfragen, die nach spezifischen Zusammenhängen zwischen der Gentrification und diesen Prozessen suchen. Im Ergebnis gewinnt eine Befassung mit immobilienwirtschaftlichen Vorgängen an Gewicht. Drittens bieten theoretische und konzeptionelle Fortschritte in den Raumwissenschaften zahlreiche Möglichkeiten, Gentrificationprozesse mit neuen Begriffen und aus neuen Perspektiven zu untersuchen. Im Besonderen scheint dies für raumtheoretische Konzepte, wissenssoziologische Perspektiven sowie Governance und Akteursansätze zu gelten. Ansätze dafür zeigten Jens S. Dangschat ( Habitus des Ortes, Mikro Meso Makro Modell der Gentrification), Andrej Holm und Maren Harnack (Raumaneignungen), Leander Küttner (Wissenssoziologie) und Moritz Rinn (Akteursforschung).
5 Viertens haben die bisherigen Forschungen gezeigt, dass bestehende Begriffe und Ansätze der Gentrificationforschung nicht das erhoffte Erklärungspotenzial haben. Beispiel dafür ist die Definition der Nachfrageakteure (Pioniere, Gentrifier) anhand sozialstatistischer Merkmale. Bewertungen Gentrification ist ein Phänomen, das den Forscher förmlich zu Bewertungen des Prozesses drängt. Dabei ist bereits die Auswahl des Forschungsthemas eine wertende Entscheidung, denn mit der Wahl des Themas wird ihm eine wissenschaftliche und damit gesellschaftliche Relevanz zugewiesen. Vor weit größeren Problemen sieht sich der Wissenschaftler, wenn er mit Fragen nach den Handlungsimplikationen seiner Forschung konfrontiert wird: Wie viel Aufwertung ist verträglich? Welche Instrumente können erfolgversprechend eingesetzt werden? Wer profitiert von der Aufwertung? Bei der Befassung mit diesen Fragen kann Wissenschaft de facto kaum neutral bleiben, sondern wird in eine Rolle in der öffentlichen Diskussion um Gentrification hinein gedrängt. Wie weit es dabei zu einer Instrumentalisierung des Forschers bzw. seiner Erkenntnisse kommt und wie mit dieser umzugehen ist, ist bislang kaum Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen gewesen. Dass es sich bei Gentrificationprozessen um ein politisch brisantes Thema handelt, wird auch an der politischen Begriffsarbeit erkennbar. Nachdem Gentrification für die Stadtentwicklung aufgrund seiner Verbindung mit Verdrängungsprozessen und dem Verlust preiswerten Wohnraumes zu einem dirty word wurde, werden heute vielfach positivere Begriffe wie Renaissance der (Innen )Städte und Reurbanisierung verwendet. Entsprechend werden Pioniere heute oft zu creative milieus und die Gentrifier zur creative class (Dangschat). Wer sich wissenschaftlich mit Gentrification auseinandersetzt ist demnach aufgefordert, eigene Entscheidungen und Aussagen kritisch zu reflektieren sowie stadtpolitische Strategien in die Betrachtungen zu integrieren. Eine angemessene Bewertung der Gentrification kann nur dann gelingen, wenn auch die Effekte der Aufwertungsprozesse zum Gegenstand der Untersuchung werden. Zu diesen möglichen Effekten zählen u.a. die Mieterverdrängung, die Reduzierung des Angebots preiswerter Wohnungsbestände, gesamtstädtische Segregationsmuster aber auch finanzielle Bilanzierungen für kommunale Investitionen (Welche kommunalen Gelder kommen welchen Zielgruppen zugute?). Das Seminar diente zugleich als Jahrestagung des Arbeitskreises Geographische Wohnungsmarktforschung. Auf dem Treffen der Arbeitskreismitglieder wurden die bisherigen Sprecher des Arbeitskreises Manfred Nutz (Uni Bonn) und André Odermatt (Zürich) aus ihrer Funktion entlassen und mit Susanne Knabe (Uni Halle) und Jan Glatter (TU Dresden) zwei neue Sprecher gewählt. Die Arbeitskreismitglieder danken den beiden bisherigen Sprechern für ihre mehr als fünfjährige Leitung und Koordination des Arbeitskreises. Das nächste Treffen des Arbeitskreises findet voraussichtlich im September 2011 in Dortmund statt. Gegenstände der Arbeitskreissitzung werden die Wohnungsmarktbeobachtung, der Einfluss des demographischen Wandels und in gewohnter Weise die Vorstellung wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten und Projekte der geographischen Wohnungsmarktforschung sein. Matthias Bernt (IRS Erkner) und Jan Glatter (TU Dresden)
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