Gewalt und Zwang in der Psychiatrie. Vermeidung von Gewalt und Zwang aus Sicht der Gemeindepsychiatrie. Tagung am Dr.
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- Nicolas Holtzer
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1 Gewalt und Zwang in der Psychiatrie Vermeidung von Gewalt und Zwang aus Sicht der Gemeindepsychiatrie Tagung am Dr. Klaus Obert
2 Grundfrage der Sozialpsychiatrie: Wie kann die Sozialpsychiatrie ihrer Utopie: die Vermeidung, Verringerung und Verhinderung von direktem Zwang und unmittelbarer (struktureller) Gewalt unbeirrbar näherkommen unter Berücksichtigung des Umgangs mit subtiler Gewalt und subtilem Zwang?
3 Gliederung: 1. Die Logik der traditionellen Psychiatrie 2. Das Scheitern des naturwissenschaftlichen Paradigmas und die Entstehung der Sozialpsychiatrie 3. Die Praxis der Sozialpsychiatrie 4. Orientierungshilfen zur Verringerung von Zwang und Gewalt 5. Fazit und Perspektiven
4 Naturwissenschaftliches und Geisteswissenschaftliches Paradigma - Naturwissenschaftliches Paradigma - Das Zeitalter der Aufklärung und die Dialektik der Aufklärung (Adorno/Horkheimer) R. Descartes - oder das Prinzip des Ursache Wirkung Denkens Die Abschaffung des Himmels (Voltaire) oder die Rationalisierung von Natur und Mensch Nichts sollte mehr der Magie, dem Aberglauben, religiösen Vorstellungen überlassen bleiben: Mensch und Natur sind rational zu erklären. Das Irrationale ist rational zu ergründen.
5 Naturwissenschaftliches und Geisteswissenschaftliches Paradigma - Naturwissenschaftliches Paradigma - Die Trennung von Vernunft und Unvernunft: die Reduktion des Subjekts auf ein krankes Objekt Psychische Erkrankung als organisches Defizit unter dem Dogma des naturwissenschaftlichen Denkens
6 Naturwissenschaftliches und Geisteswissenschaftliches Paradigma - Naturwissenschaftliches Paradigma - Paradigma der Ausgrenzung, Objektivierung und Gewalt. Die psychiatrische Anstalt wird zum rationalen Behältnis der Irrationalität. Logik der Ausgrenzung, Objektivierung und Gewalt in Verbindung mit der Grundlegung des lebensunwerten Lebens und der IIlusion der Schaffung eines gesunden Volkskörpers
7 Naturwissenschaftliches und Geisteswissenschaftliches Paradigma - Das Geisteswissenschaftliche Paradigma - Charakteristische Merkmale: teilnehmend beobachten, Verstehen, akzeptieren, ganzheitlich denken, auf gleicher Augenhöhe, So-sein-lassenkönnen, einfühlen Hermeneutik und die Lebenswelt als Sinnfundament (Husserl)
8 Naturwissenschaftliches und Geisteswissenschaftliches Paradigma - Das Geisteswissenschaftliche Paradigma - Der Mensch als Einheit von Körper, Seele und Geist ist ein soziales, kommunikatives und interaktives Wesen. Erst über Kommunikation, Interaktion und Tätig-Sein wird der Mensch zum Menschen Der Mensch ist konstitutiv ein soziales Wesen über und durch den Verlust der Instinktgebundenheit
9 Sozialpsychiatrie als moralisch-ethisch fundierte, gesellschaftskritische, (sozial-) politische Antwort auf die traditionelle Psychiatrie naturwissenschaftlicher Prägung
10 Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung der Sozialpsychiatrie Ohne traditionelle Anstaltspsychiatrie keine Sozialpsychiatrie! Die Paradigmakrise des Anstaltsmodells nach 1945 Umgang mit dem Anderssein als öffentliche, sozialpolitische und gesellschaftliche Aufgabe
11 Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung der Sozialpsychiatrie Infragestellung der menschenunwürdigen Bedingungen in der Psychiatrie und damit des Zwangs und der (strukturellen) Gewalt Rolle und Bedeutung der Psychopharmaka Ökonomische Rahmenbedingungen
12 Sozialpsychiatrie als Alternative zur Anstaltspsychiatrie in ihrer nicht aufzulösenden Ambivalenz Emanzipation Exklusion Freiheit zur Verwahrlosung Der Albtraum in der Tradition der Anstaltspsychiatrie der Traum aus den Anfängen der Sozialpsychiatrie fürsorgliche Belagerung Inklusion Disziplinierung und Zwang
13 Leitlinien der Sozialpsychiatrie/Alltags- und lebensweltorientierten Ansätze: Menschenbild Das Individuum in seiner Lebenswelt ist Grundlage und Ziel des Handelns. Sozialpsychiatrie sieht den Menschen als Ganzes in der Wiederherstellung des Subjektes und der Menschenwürde. Respekt und Achtung vor dem Anderen und dem Anderssein, Akzeptanz und Förderung des Eigensinns
14 Leitlinien der Sozialpsychiatrie/Alltags- und lebensweltorientierter Ansätze: Verständnis von Gesundheit und Krankheit Psychische Erkrankung ist das Zusammenwirken von bio-psycho-sozialen Faktoren in Verbindung mit erhöhter Vulnerabilität (Multifaktorieller Ansatz). Ressourcenorientierung gewinnt zunehmend an Bedeutung gegenüber dem traditionellen Modell der Defizitorientierung (Kritische Sozialpädagogik, Empowerment, recovery, Resilienz).
15 Alltags- und lebensweltorientiertes, Sozialpsychiatrisches Handeln: Methodik Ausgangspunkt ist der Schwächste und Hilfebedürftigste (Regionale Versorgungsverpflichtung) Ausgangsort ist die Lebenswelt (ambulant-aufsuchende Tätigkeit)
16 Alltags- und lebensweltorientiertes, Sozialpsychiatrisches Handeln: Methodik Ausgangspunkt sind die Ressourcen und Bedürfnisse der psychisch kranken Menschen und ihrer Umgebung. Förderung der Selbsthilfekräfte so weit wie möglich im partnerschaftlichen Aushandeln
17 Alltags- und lebensweltorientiertes Sozialpsychiatrisches Handeln: Methodik Hilfe zur Selbsthilfe (Empowerment im Kontext von Zumutung und Entzug von Verantwortung) Ganzheitlichkeit, Offenheit, Einmischung und Allzuständigkeit Kontakt anbahnen, Vertrauen herstellen und Beziehungen aufrechterhalten Sich einlassen, verstehen, sich der Komplexität der Lebenswelt aussetzen, Biografiearbeit, Wahren von Gegenseitigkeit
18 Alltags- und lebensweltorientiertes Sozialpsychiatrisches Handeln: Methodik - Strukturieren, ordnen, planen, organisieren, Verantwortung übernehmen - Gestaltung und Strukturierung von Raum, Zeit, Beziehungen in enger Verbindung mit sinnstiftender Unterstützung, Ausweitung der Persönlichkeit, Identitätsstiftende Unterstützung und Begleitung
19 Alltags- und lebensweltorientiertes Sozialpsychiatrisches Handeln: Methodik - Erhalten, stabilisieren und fördern natürlicher Ressourcen in der Lebenswelt - (Selbst-) Reflexives Handeln - Psychotherapeutische Grundhaltung
20 Politische Implikationen alltags- und lebensweltorientierten, sozialpsychiatrischen Handelns Das Konzept der offensiven Einmischung: Ethisch-moralische, gesellschaftskritische Verankerung des sozialpsychiatrischen Handelns Unterstützung und Weiterentwicklung des Trialogs Kontinuierliche Humanisierung der Lebensbedingungen (Strategien gegen Armut und unzumutbare Lebenslagen) Ausweitung der Grenzen der Normalität
21 2 Praktische Beispiele 1. Praktische Erfahrungen, Erkenntnisse und Folgen mit und aus der italienischen Reformpsychiatrie ( psichiatria democratica) 2. Unsere (sozialpsychiatrischen) Bestrebungen in Stuttgart seit über 30 Jahren flächendeckend gemeindepsychiatrische Hilfen zu verwirklichen
22 Orientierungshilfen zur Verringerung von Gewalt und Zwang Haltung: Die Bedeutung des Schlüssels Strukturelle Voraussetzungen und Rahmenbedingungen: - Ambulantes Netz, - Aufhebung der Trennung von ambulant und stationär, - hometreatment, - Ambulante Rund-um-die-Uhr-Versorgung in multidisziplinären Teams, - Regionalbudgets
23 Orientierungshilfen zur Verringerung von Gewalt und Zwang Methodische Standards: - Niederschwellige, ambulant-aufsuchende, flexible Beratung und Begleitung, - Dranbleiben, Therapeutische Kontinuität, - Krisenintervention, - Planung und Koordination von Einzelfallhilfen, - Gemeinwesenarbeit, - Rolle und Bedeutung der Psychopharmaka
24 Orientierungshilfen zur Verringerung von Gewalt und Zwang Vernetzung und Steuerung: Der regionale Gemeindepsychiatrische Verbund Politische Implikationen: Konzept der offensiven Einmischung, Trialog, Beschwerdeinstanzen, PsychKg, Gesundheitsberichtserstattung, Finanzierung
25 Fazit und Perspektiven Kritische Sozialpsychiatrie heißt immer Arbeit in und mit Gegensätzen: Alltags- und lebensweltorientiertes sozialpsychiatrisches Handeln ist eine Entwicklung in Widersprüchen, Anachronismen und Ungleichzeitigkeiten. Der (sozialpsychiatrische) Alltag ist hochkomplex, widersprüchlich und verlangt differenzierte (und keine einfachen, populistischen) Lösungen
26 Fazit und Perspektiven Einerseits: Die Forderungen der UN- Behindertenrechtskonvention Andererseits: Schwierigste Einzelfallkonstellationen unter jetzigen (und nicht der geforderten) Rahmenbedingungen
27 Fazit und Perspektiven Einerseits: Forderung nach Autonomie, nach Recht auf Krankheit und Verwahrlosung Andererseits: Im Sinne der Menschenwürde das Recht auf Fürsorge, Hilfe und Behandlung im Extremfall auch gegen den Willen des Betroffenen
28 Fazit und Perspektiven Einerseits: Erfahrungen und das Wissen um die Vermeidung von direktem Zwang und sichtbarer Gewalt Andererseits: Latente Forensifizierung und die Einrichtung geschlossener Wohnheimplätze
29 Fazit und Perspektiven Bleibt abschließend die Frage: Warum werden die Erfahrungen und Kenntnisse, wie Zwang und Gewalt verhindert werden können, nicht umgehend und flächendeckend umgesetzt?
30 Fazit und Perspektiven Unterschiedliche Interessen und komplexes Gemengelage auf verschiedenen Ebenen: 1. Auf der Ebene der Psychiatrieprofis und ihrer Träger selbst 2. Auf der Ebene der Kostenträger und aufgrund der Zersplitterung der Finanzierungsstrukturen und modalitäten 3. Interessen und Lobby der Gesundheitsindustrie 4. Auf der Ebene der Politik und letztlich die Öffentlichkeit selbst: Haltungen und Vorurteile in der Bevölkerung
31 Fazit und Perspektiven Keine Alternative zur kontinuierlichen und konsequenten Umsetzung der konkreten Utopien einer zwangs- und gewaltfreieren Sozialpsychiatrie vor Ort, in den Regionen unter Beteiligung aller Akteure und des Gemeinwesens ein mühseliger und Geduld erfordernder Prozess - Tag für Tag
32 Permanente Arbeit an der Umsetzung der konkreten Utopie im gesellschaftlichen Alltag: Es ist normal, verschieden zu sein! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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