ENTWICKLUNGS- ERWARTUNGEN TÜRKISCH-DEUTSCHER UND DEUTSCHER MÜTTER

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1 ENTWICKLUNGS- ERWARTUNGEN TÜRKISCH-DEUTSCHER UND DEUTSCHER MÜTTER Dr. Berrin Özlem Otyakmaz Fachforum Migration und Frühe Kindheit Kassel

2 2 Wichtige Komponenten Parentaler Ethnotheorien (Überzeugungen): Elterliche Vorstellungen über die Natur Kindes und seiner Entwicklung Erwartungen, wann ein Kind welche Entwicklungsschritte erreicht und welche Fähigkeiten erlangt haben sollte Überzeugungen ob überhaupt und wenn ja, wie und durch wen ein Kind in der Erlangung dieser Fähigkeiten unterstützt werden sollte Unterschiede in Entwicklungserwartungen im Kulturvergleich

3 3 Ergebnisse kulturvergleichender Untersuchungen zu Entwicklungserwartungen nicht konsistent: Westliche Eltern generell frühere Erwartungen als nichtwestliche Eltern (Willemsen & van de Vijver, 1997; Goodnow et al., 1984) - Türkisch-niederländische Mütter später als niederländische Mütter, Ausnahme einzelne schulbezogene Items (Willemsen & van de Vijver, 1997) Unterschiede zwischen Kulturen sind bereichsspezifisch und reflektieren die kulturelle Wertschätzung bestimmter Fähigkeiten (Sissons Joshi & MacLean, 1997; Hess et al., 1980)

4 4 Entwicklungserwartungen beeinflusst durch die Vorstellungen über die Natur Kindes und seiner Entwicklung It is tempting to conclude that the age of expectations reflects the degree of value placed on a particular skill by a particular culture ( ) Any simple equivalence of early expectations with high value, however, is likely to be misleading. The more subtle, and more interesting, picture needs to take account of several other facets to ideas about children and parenting (Goodnow et al., 1984: 203).

5 5 Entwicklungserwartungen beeinflusst durch die Vorstellungen über die Natur Kindes und seiner Entwicklung Anglo-Australische/Anglo-Amerikanische/Westliche Perspektive: children as a bundle of potential traits, all partially concealed. The mother s task then became one of divining the potentials as early as possible and arranging the environment so that the potential was brought to full growth (Goodnow et al., 1984: 195).

6 6 In traditioneller chinesischer Kultur Einteilung der Kindheit in zwei Phasen: 1. Phase der Unschuld Annahme kognitive Fähigkeiten weitgehend fehlend (bis 4-5 Jahre) 2. Phase des Verstehens (Stevenson, Chen & Lee 1992). Traditionally Chinese parents do not regard young children as capable of understanding things, and therefore should not be held responsible for his or her wrongdoings or failures to meet expectations. [...] Young children are viewed as passive, dependent creatures who are to be cared for, and whose needs are to be met with little delay or interference; training can not be expected to accomplish much for them. [...] no systematic attempt is made to develop the child s cognitive skills (Ho, 1994: 290).

7 7 Konzept von früher Kindheit in traditioneller türkischer Kultur: Hinweise in Literatur: Kinder in der frühen Kindheit zum vernünftigen Denken und Handeln noch nicht fähig, da ihr Verstand bzw. ihre Vernunft als noch nicht gereift ( aklı ermemiş )

8 Konzept von früher Kindheit in traditioneller türkischer Kultur: 8 Karakaşoğlu-Aydın (2000): Bis zum Alter von zwei Jahren nicht in der Lage Falsch und Richtig, Gut und Böse zu unterscheiden Verhaltensweisen nicht verstandes-, sondern bedürfnisgeleitet bewusste Erziehung im Sinne der Anleitung zum richtigen oder falschen Verhalten in dieser Phase als nicht möglich angesehn Kind soll unbegrenzte Freiheiten zugestanden bekommen Pfluger-Schindelbeck (1989): Frühe Kindheit endet im Vorschulalter wenn der Verstand des Kindes einsetzt Erziehungsstil wird an physische und intellektuelle Entwicklung des Kindes angepasst. Leyendecker (2003): Kleinkinder in türkischen Migrationsfamilien genießen Narrenfreiheit

9 9 FRAGESTELLUNG Erwarten türkisch-deutsche Mütter Entwicklungsschritte von Kindern später als deutsche Mütter?

10 10 STICHPROBE Teilnehmerinnen 127 deutsche und 107 türkisch-deutsche Mütter von Vorschulkindern Rekrutierung Mittels Kindertagesstätten Schneeballsampling mittels anderer Mütter Türkisch-deutsche Mütter wurden von bilingualen türkischdeutschen Studentinnen kontaktiert

11 STICHPROBE Sozio-demographische Charakteristiken 11 Deutsch Türkisch-deutsch Durchschnittliches Alter Mutter 35 (range 19-47) 32 (range (23-44) Generationaler Status Mutter - 49 erste Generation 56 zweite Generation Anzahl Kinder 1,7 (range 1-5) 2,3 (range 1-5) Durchschnittliches Alter des Vorschulkindes Geschlecht des Vorschulkindes 3,2 (range 2-6) 3,7 (range 2-6) 49% männlich 51% weiblich 58% männlich 42% weiblich

12 12 STICHPROBE Höchster mütterlicher Bildungsabschluss (in Prozent) Deutsch Türkisch-deutsch Kein - 2 Grundschule 1 8 Haupt-/Realschule Abitur Universität 44 14

13 13 INSTRUMENTE Sozio-demographische Daten Ausfüllen eines sozio-demographischen Fragebogens (deutsch bzw. bilingual) Entwicklungserwartungen Ausfüllen eines (türkischen oder deutschen) Fragebogens

14 14 INSTRUMENTE Entwicklungserwartungsfragebogen Bestehend aus 61 Items 8 Entwicklungsbereichend zugeordnet Basierend auf Instrument angewendet bei niederländischen und türkisch-niederländischen Müttern (Willemsen & van de Vijver 1997) Überarbeitet von Elif Durgel (2008) für Untersuchung Entwicklungserwartungen türkischer, türkischniederländischer und niederländischer Mütter

15 15 INSTRUMENTE Frage auf dem Entwicklungserwartungsfragebogen: Zu welchem Alter ist ein Kind Ihnen zufolge in der Lage... Antwortmöglichkeiten: früher 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5 5,5 6 später

16 16 INSTRUMENTE Reliabilität and Strukturelle Äquivalenz Reliabilität: Chronbach s Alpha.73 >.96 Strukturelle Äquivalenz: Tucker s Phi >.95

17 ERGEBNISSE 17 MANCOVA: Entwicklungserwartunen (Bildungshintergrund als Kovariate) Deutsch Türkisch-Deutsch ENTWICKLUNGSBEREICH M SD M SD p PSYCHOMOTORIK KOGNITIV SELBST-KONTROLLE SOZIAL AUTONOMIE GEHORSAM FAMILIENORIENTIERUNG WOHLVERHALTEN n.s < < < < < < <.01

18 RESULTS 18 MANCOVA: Einzelitems Kognitiver Bereich (Bildungshintergrund als Kovariate) Deutsch Türkisch-Deutsch KOGNITIV M SD M SD p. Eigenen Namen sagen <.00 Mindestens drei Farben benennen <.00 Eigenen Namen schreiben n.s. Bis zehn zählen n.s. Zeitliche Konzepte wie morgen verstehen mehr, weniger, und gleich verstehen < n.s. Männer und Frauen unterscheiden <.00 Aktuelle Jahreszeit kennen <.00

19 19 ERGEBNISSE Kein Effekt von Hintergrundvariablen wie: Bildungshintergrund der Mutter Alter der Mutter Anzahl der Kinder Geschlecht des Kindes Aber: Generationaler Status der Mütter mit Migrationshintergrund

20 ERGEBNISSE MANOVA: Entwicklungserwartungen 20 Deutsch Zweite Generation Erste Generation ENTWICKLUNGSBEREICH M SD M SD M SD PSYCHOMOTORIK 2.9 a a b 0.6 KOGNITIV 3.2 a b b 0.7 SELBST-KONTROLLE 3.7 a b b 0.9 SOZIAL 3.0 a b b 0.9 AUTONOMIE 3.7 a a,b b 0.8 GEHORSAM 3.8 a b c 0.9 FAMILIENORIENTIERUNG 3.6 a b c 1.0 WOHLVERHALTEN 3.9 a a,b b 0.9

21 ERGEBNISSE MANOVA: Entwicklungserwartungen 21 Deutsch Zweite Generation Erste Generation ENTWICKLUNGSBEREICH M SD M SD M SD PSYCHOMOTORIK 2.9 a a b 0.6 KOGNITIV 3.2 a b b 0.7 SELBST-KONTROLLE 3.7 a b b 0.9 SOZIAL 3.0 a b b 0.9 AUTONOMIE 3.7 a a,b b 0.8 GEHORSAM 3.8 a b c 0.9 FAMILIENORIENTIERUNG 3.6 a b c 1.0 WOHLVERHALTEN 3.9 a a,b b 0.9

22 22 ZUSAMMENFASSUNG Türkisch-deutsche Mütter haben in fast allen Entwicklungsbereichen spätere Erwartungen als deutsche Mütter Kein Unterschied in Motorik und die größten Unterschiede in Bereichen familieninterne Prozesse betreffend Gehorsam und Familienorientierung Keine Unterschiede in einigen schulbezogenen Fähigkeiten als Ausnahme im kognitiven Bereich In manchen Entwicklungsbereichen Unterschiede zwischen erster und zweiter Generation türkischdeutscher Mütter und keine Unterschiede zwischen Müttern zweiter Generation und deutschen Müttern

23 23 DISKUSSION Unterschiede zwischen türkisch-deutschen und deutschen Müttern erklärbar durch Kindheitskonzept: frühe Kindheit kaum vernunft- bzw. verstandes- sondern bedürfnisgeleitet, daher Entwicklung kognitiver und sozialer Fähigkeiten nicht früh erwartbar Größere Unterschiede in Bereichen innerfamiliäre Prozesse betreffend: Gewährung von mehr Freiraum im Sinne ihres Kindheitskonzeptes in eher in alleinige Entscheidung und Verantwortung der Mütter fallenden Bereichen Keine Unterschiede in schulbezogenen Fähigkeiten : Gewährung längerer Entwicklungsfristen soll keine negativen Auswirkungen auf Erfordernisse außerfamiliärer Lebenswelt haben insb. nicht auf Bildung, da von türkisch-deutschen Müttern als langfristiges Sozialisationsziel hoch geschätzt

24 24 FAZIT Unterschiedliche Abweichungsmuster in verschiedenen Entwicklungsbereichen sowie zwischen erster und zweiter Generation türkisch-deutscher Mütter zeigen: Keine Übernahme parentaler Ethnotheorien in starrer und möglicherweise in für die Sozialisation von Kindern in ihre aktuelle Umwelt dysfunktional gewordener Form Stattdessen neue Informationen integrierende und aktuelle Umwelterfordernisse reflektierende Neuinterpretation zwecks Ermöglichung optimaler Adaptation der Kindern an ihre Umwelt

25 25 AUSBLICK Weitere, qualitative, Studien zu Konzepten von Kindheit und Entwicklung türkisch-deutschr, deutscher und türkischer (Mütter und ihren Vorstellungen, ob, wann und durch wen Entwicklungsprozesse unterstützt werden sollten Untersuchungen zum Zusammenhang von Entwickungserwartungen, Entwicklungsförderung und tatsächlicher kindlicher Entwicklung Untersuchungen zu möglichen Unterschieden aber auch Übereinstimmungen in den Entwicklungsvorstellungen türkisch-deutscher Mütter und deutscher Erzieherinnen

26 26 Vielen Dank! Frühe Bildung, Heft 1/2013