Rede der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Prof. Dr. Annette Schavan, MdB,
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- Silvia Gehrig
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1 Rede der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Prof. Dr. Annette Schavan, MdB, anlässlich der Feierstunde der Berufsbildung zur Auszeichnung ehrenamtlicher Prüfer und Preisträger am 18.Oktober 2010 in Stuttgart Es gilt das gesprochene Wort!
2 1 Anrede I. Berufliche Bildung und duale Ausbildung gehören zu den Besonderheiten und zu den Stärken des Deutschen Bildungssystems. Die Entstehung der beruflichen Bildung, speziell der gewerblichen Bildung, liegt rund hundert Jahre zurück. Die Industriegesellschaft hatte sich entwickelt. In dieser Industriekultur waren neue Betriebskulturen, neue Formen des Arbeitens und die Trennung von Familie und Arbeit grundgelegt. Damals war klar geworden: Um dieser Industriekultur Rechnung zu tragen, brauchen wir etwas Neues im Bildungssystem. Wir brauchen eine andere Weise zu lernen, Kontinuität in der Zusammenarbeit von Unternehmen und Schule, Ausbildungsordnungen, die gemeinsam erstellt werden, außerdem eine besondere Verbindung von Theorie und Praxis. Daraus ist das Erfolgsmodell der dualen Ausbildung in der beruflichen Bildung entstanden. Heute gibt es kaum eine internationale Studie, die uns nicht bestätigt, dass dies ein Erfolgsmodell ist. Zuletzt hat dies beispielsweise die OECD-Studie Learning für Jobs belegt. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Krise hat sich noch einmal auf besondere Weise bewahrheitet: In Deutschland ist das Risiko für junge Leute, arbeitslos zu werden, so gering wie in keiner anderen Industrienation. Oder in Zahlen gesprochen: In Deutschland ist die Gruppe derer, die von Arbeitslosigkeit bedroht oder betroffen sind, halb so groß wie in anderen Ländern. Dennoch ist jeder Jugendliche, der keinen Ausbildungsplatz findet, einer zu viel. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Ich sehe eine besonders erfolgreiche Entwicklung darin, dass Unternehmen, Kammern und Schulen gemeinsam Konzepte entwickeln und Jugendliche so in Ausbildung bringen. Dies ist der dynamischste Teil unseres Bildungssystems. Deshalb möchte ich der Industrie- und Handelskammer Stuttgart stellvertretend für alle Kammern danken. Sie alle tragen wesentlich zu einer dynamische Weiterentwicklung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung bei. An dieser Stelle möchte ich besonders allen ehrenamtlichen Prüferinnen und Prüfern Dank sagen für ihre Arbeit und die tollen Ideen, die sie in die berufliche Bildung einfließen lassen. Bei der beruflichen Bildung in Deutschland müssen wir keine Diskussion über den Föderalismus führen. Wir haben eine Ausbildungsordnung, die überall gültig ist, ganz gleich, wo ausgebildet wird. Auch hier ist die berufliche Bildung vorbildhaft auf die globale Welt eingestellt. Es besteht ein Konsens über die Grundordnung, zugleich aber kann jedes Land auch eigene Akzente setzen.
3 2 Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die berufliche Bildung das eigentliche Flaggschiff unseres Bildungssystems ist. Dahinter stecken großes Engagement, hohe Kompetenz und attraktive Lernkonzepte, wie wir sie kaum irgendwo in der Welt finden. In vielen Ländern werden wir bewundert wegen der beruflichen Bildung, wegen des hohen Einsatzes der Unternehmen und der kreativen und innovativen Arbeit der Kammern. Deshalb ist es jetzt wichtig, dass wir über den europäischen Qualifikationsrahmen und seine Umsetzung auf einen deutschen Qualifikationsrahmen sprechen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Ausbildungsgänge und Abschlüsse in der beruflichen Bildung auch international angemessen anerkannt werden. Es ist eine große Chance für uns, dies jetzt besser durchzusetzen. II. Lehren und lernen, bilden und ausbilden gehört zu den besten Seiten des Menschen. Das feiern wir heute. Menschen, die ausgebildet werden, die sich weiterbilden, ebenso wie diejenigen, die in den Schulen lehren und in den Betrieben ausbilden, machen immer wieder die Erfahrung: Trotz aller Alltagssorgen, aller Mühen und aller Rückschläge, die es auch immer gibt, werden in der beruflichen Bildung die besten Seiten des Menschen offenbar, die Talente und Begabungen. Ich wünsche mir, dass sich unsere Gesellschaft noch mehr an den Talenten und Begabungen erfreut. Deshalb gilt mein zweiter Dank den Ausbilderinnen und Ausbildern in den Unternehmen, den Lehrerinnen und Lehrern in den beruflichen Schulen sowie allen Schulleiterinnen und Schulleitern. Pädagogische Arbeit ob in Unternehmen oder in Schulen gehört zu den schönsten und schwierigsten Aufgaben, die es in einer Gesellschaft gibt. Ich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft eine höhere Wertschätzung für diese Aufgabe zum Ausdruck bringt. Meine Wertschätzung haben Sie. Herzlichen Dank für Ihre Arbeit. Ich bin davon überzeugt, dass es vielen von Ihnen so geht, wie es mir immer nach jedem Schulbesuch geht. Ein Besuch in einer Schule, einem Unternehmen oder in einer Ausbildungswerkstatt ist ungewöhnlich anregend. Begegnungen mit denen, die ausgebildet werden, führen immer wieder zu neuen Ideen. Das besonders Attraktive an der Pädagogik ist: die Erfahrung der Alten und die Ideen der Jungen, die Kreativität und der Schwung der Jungen und die Nachdenklichkeit der Alten. Wenn das zusammenkommt, dann entsteht etwas Neues. Dann entsteht nicht nur ein Generationengespräch, dann haben Talente auch die Chance, entfaltet zu werden.
4 3 III. Wenn wir über die Zukunft unseres Bildungssystems insbesondere in den nächsten zehn Jahren nachdenken, dann erkennen wir, dass wir an manchen Stellen noch besser werden müssen. Zu nennen ist die Bevölkerungsentwicklung. Sie trifft Deutschland wie kaum ein anderes Land. Wer in arabische Länder fährt, stellt fest, dass es dort Gesellschaften gibt, in denen die Hälfte der Menschen unter 18 Jahre alt ist. Im Gegensatz hierzu wird es 2020 in Deutschland 15 Prozent weniger unter 25-Jährige geben. Deshalb müssen wir ein Bildungssystem schaffen, das jeden fördert, und zwar von klein an. Es darf vor allem nicht mehr die Einstellung geben: einmal zur Schule gegangen, einmal Examen gemacht das Lernen ist beendet. Die Rede von der lebenslangen Bildungsbiographie heißt auch eine biographische Entwicklung, die zunehmend neue Chancen und Möglichkeiten bringt etwa wie den Wechsel zwischen Branchen und Verantwortungsbereichen. Wichtig ist auch, dass man nicht nur nach dem Erwerb der allgemeinen Hochschulreife am Gymnasium, sondern auch während des Berufslebens studieren kann. Das ist ein wichtiger Schritt zur generellen Anerkennung der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung. Außerdem sind Aufstiegsstipendien von großer Bedeutung. Denn wer im Beruf steht und sich dann noch einmal für eine andere Ausbildung oder ein Studium entscheidet, der muss auch einen finanziellen Anreiz bekommen. Ich habe in der letzten Woche den Prämiengutschein für eine berufliche Weiterbildung vergeben. Im Moment kommen jeden Tag 500 dazu, das heißt 500 Bürgerinnen und Bürger sagen in diesem Land: Mit diesem Anreiz ist es für mich möglich, Gebühren zu zahlen. Es sind oft Bürger mit kleinem Einkommen. Bildung, Ausbildung, und Weiterbildung ein Leben lang darin steckt die Chance zum Wiedereinstieg oder für berufliche Veränderungen. Darüber hinaus beschäftigt uns der Ausbildungspakt. Es war gut, einen Ausbildungspakt zwischen den großen Wirtschaftsverbänden und der Politik zu schließen. Wir haben erreicht, dass in den vergangen Jahren noch viele neue Lehrstellen und Ausbildungsplätze geschaffen wurden. Derzeit erleben wir jedes Jahr eine rückläufige Zahl der Schulabsolventen. In Regionen mit einer hohen wirtschaftlichen Dynamik werden besonders viele Fachkräfte gesucht. Deshalb wird in den nächsten Jahren die Hauptaufgabe des Ausbildungspaktes sein, den Schwerpunkt auf Qualifizierung zu legen, Sorge dafür zu tragen, dass wirklich jeder Jugendliche einen Schulabschluss schafft. Ziel ist, in der 7. Klasse anzusetzen, sich mit den Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler zu beschäftigen und dann diejenigen, deren Schulabschluss gefährdet ist, mit der
5 4 Unterstützung von Bildungslotsen zu begleiten, damit sie erfolgreich eine Ausbildung absolvieren können. IV. In unserem Bildungssystem gibt es zwei wichtige Aufgaben: die Förderung derer, die sich schwer tun, und die Förderung derer, die besondere Talente haben, also die Begabtenförderung. Und auch dafür möchte ich den Kammern und den Unternehmen sehr danken, weil sie gerade hier in Baden-Württemberg, aber auch in Deutschland an vielen anderen Stellen wichtige Impulse geben für die Begabtenförderung in der beruflichen Bildung. Begabtenförderung ist keineswegs nur die Sache des Gymnasiums. Außerdem wurden gute Akzente in der Förderung von benachteiligten Schülerinnen und Schülern gesetzt. In den letzten drei Jahren ist die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss von auf jährlich gesunken. Das ist ein guter Anreiz, diesen Weg weiter zu gehen. Junge Leute müssen spüren, dass sie nicht allein gelassen werden. Sie müssen gleichzeitig spüren, dass Leistung sich lohnt. Dies ist eine Grundbedingung für eine positive Einstellung zu Bildung und Ausbildung. Eine große Rolle spielt in diesen Tagen das Anerkennungsgesetz, verbunden mit der Frage der Zuwanderung. Meine Position ist völlig klar: Vorrang muss immer die Qualifizierung derer haben, die in Deutschland leben. Vorrang muss immer haben, dass die rund 3 Millionen Menschen, die in unserem Land keine Arbeit haben, in Arbeit gebracht werden. Vorrang muss ein Anerkennungsgesetz haben, bei dem diejenigen, die im Ausland einen Abschluss erworben haben und in Deutschland nicht in ihrem Beruf arbeiten können, die Chance haben, dass ihre Qualifikationen anerkannt werden. Der Physiker darf nicht mehr Taxi fahren, der Arzt nicht mehr Kellner sein. Der Arzt soll als Arzt und der Physiker als Physiker arbeiten. Vom Tellerwäscher zum Millionär, diesen amerikanischen Lebenstraum, dürfen wir nicht umkehren. Es darf nicht sein, dass man in Deutschland vom Ingenieur zum Tellerwäscher wird. 70 Prozent unserer Unternehmen klagen darüber, es werde immer schwieriger, Stellen zu besetzen. Wenn alle qualifiziert sind, wenn ausländische Abschlüsse schneller anerkannt werden, dann wird sich dennoch irgendwann die Frage stellen: Wie attraktiv sind wir für Ingenieure, für Physiker, für Chemiker, für Pflegekräfte aus anderen Ländern in einer älter werdenden Gesellschaft? Da sollten wir nicht so skeptisch sein, sondern jetzt die Chance nutzten und unsere Universitäten und unsere Unternehmen attraktiv machen für junge Leute, die gerne in Deutschland bleiben möchten.
6 5 Ich möchte dazu beitragen, dass wir in unserem weltoffenen Land klare Zeichen setzen: Wir sind interessiert an Talenten, wir sind interessiert an qualifizierten Fachkräften. Wir wünschen uns Menschen, die in unserer Gesellschaft mitwirken, denen es ein Anliegen ist, ihre Kompetenzen einzubringen. Das ist moderne Integration und Zuwanderungspolitik. Dafür sollten wir werben. V. Zu den wichtigsten Erfahrungen nach Bildung und Ausbildung, nach Schulabschluss, nach Fortbildungszertifikat gehört die Erfahrung: Ich werde gebraucht mit meinen Fähigkeiten, mit dem was ich gelernt habe, mit meiner Kreativität, mit meinen Ideen, mit meiner Verbundenheit zum Menschen, mit meinen Einstellungen, mit meinen Werten, mit dem, was mich trägt. Diese Erfahrung wünsche ich Ihnen allen von Herzen ganz besonders den jungen Menschen. Gebraucht zu werden, bedeutet, respektiert zu werden, helfen zu können, mitzuwirken, beteiligt zu sein. Denn die Welt, in der wir leben, ist zunehmend eine Welt im ständigen und schnellen Wandel. Vieles was heute geschieht, geschieht nicht mehr für uns, sondern mit Blick auf die nächste Generation, mit Blick auf Sie alle und wird schon bald in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens von Ihnen gestaltet werden. Dazu wünsche ich Ihnen alles Gute und persönliches Wohlergehen. Ich wünsche Ihnen Erfolg. Ich wünsche Ihnen Genugtuung bei Ihrer Arbeit. Und ich bitte Sie um einen wachen Blick für die Welt, in der Sie leben, einen interessierten Blick für die Gesellschaft, in der Sie ein Stück Verantwortung übernehmen werden. In diesem Sinne: herzlichen Glückwunsch und alle guten Wünsche für Sie.
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