Welcher Platz gebührt der Geschichte der Mathematik in einer Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften?
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- Arthur Dieter
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1 Welcher Platz gebührt der Geschichte der Mathematik in einer Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften? Von G. ENESTRöM aus Stockholm. Die Beantwortung der Frage, die ich heute zu behandeln beabsichtige, hängt natürlich in erster Linie davon ab, was man unter Geschichte" und unter Enzyklopädie" der Mathematik versteht. Ohne Zweifel können die Ansichten in betreff der Bedeutung dieser Worte verschieden sein, und es wäre darum nicht ohne Interesse, eine eingehende Untersuchung hierüber anzustellen. Indessen würde eine solche Untersuchung allein die ganze mir jetzt zur Verfügung stehende Zeit in Anspruch nehmen, und schon aus diesem Grunde ist es nötig, davon abzustehen. Eigentlich notwendig ist die Untersuchung auch nicht, denn meine Auffassung der Frage, was man unter Geschichte der Mathematik verstehen soll, habe ich schon in mehreren Artikeln der Bibliotheca Mathematica auseinandergesetzt, und ich kann mich also hier, unter Verweisung auf diese Artikel, darauf beschränken zu erwähnen, daß ich unter Geschichte der Mathematik im eigentlichsten Sinne eine wirkliche Entwicklungsgeschichte der mathematischen Theorien verstehe. Auf der anderen Seite bin ich gerade durch die seit einigen Jahren erscheinende Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften angeregt worden, mich mit der jetzt von mir gestellten Frage zu beschäftigen, und ich habe darum einen bestimmten Anlaß, dem Term Enzyklopädie" eine Bedeutung zu geben, die mit dem Zwecke des soeben erwähnten Unternehmens übereinstimmt. Auf diese Weise dürfte auch meine Frage ein aktuelleres Interesse bieten, als wenn ich dem Worte Enzyklopädie" einen anderen Sinn gegeben hätte. Ich nehme also hier ohne weiteres an, daß es der Zweck einer Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften ist, in erster Linie eine Kodifikation der bisherigen Errungenschaften dieser Wissenschaften
2 C. Vorträge in den Sektionssitzungen: Eneström. 547 zu bringen, und zwar so, daß die Sätze in systematischer Ordnungsfolge mitgeteilt sind; ferner soll über die Methoden, wodurch die Resultate hergeleitet werden, berichtet werden, oder die Methoden sollen wenigstens angedeutet werden, und noch dazu soll der Leser durch bibliographische Verweise in den Stand gesetzt werden, von denselben genauere Kenntnis zu nehmen. Eine solche Enzyklopädie kann auf verschiedene Weise benutzt werden. Sie kann den Universitätslehrern den Stoff ihrer Vorlesungen liefern, sie kann ebenso gut dem Mathematiker, der sich auf einem gewissen Gebiete orientieren will, die nötigen Aufschlüsse geben, sie kann endlich die jungen Fachgenossen, die ihre Wissenschaft weiter ausbilden wollen, belehren, was schon getan ist. Für die Benutzer der zwei ersten Klassen können historische Notizen ohne Zweifel erwünscht sein, aber wie ausführlich und auf welche Weise sie gebracht werden sollen, dürfte kaum festgestellt werden können; der eine Leser braucht gar keine solchen Notizen, der andere wünscht vielleicht besonders eingehend die historische Entwicklung zu verfolgen. Anders hegt dagegen die Sache in betreff der Benutzer der zuletzt erwähnten Klasse. Freilich hat es Forscher auf dem mathematischen Gebiete gegeben, die durch ihre Anlagen darauf angewiesen waren, ihre eigenen Wege zu gehen, ohne sich um die Wege ihrer Vorgänger zu bekümmern, und die gerade auf diese Weise die Entwicklung der Wissenschaft am kräftigsten gefördert haben, aber solche Forscher sind immer selten gewesen und werden voraussichtlich künftighin noch seltener werden. Für die meisten Mathematiker, die eigene Untersuchungen anstellen wollen, muß es besonders lehrreich sein, genau zu wissen, nicht nur wie die jetzt bekannten Sätze am zweckmäßigsten hergeleitet werden, sondern auch, auf welche Weise die Entdeckungen tatsächlich gemacht worden sind, denn sie können daraus wertvolle Anregungen bekommen, wie sie selbst verfahren sollen. Im allgemeinen haben sie wohl von vorn herein eine Spezialität ausgewählt, mit der sie sich beschäftigen werden, und dem Anschein nach könnte es darum genügen, wenn die Enzyklopädie bei der Behandlung dieser Spezialität die erwünschten Aufschlüsse über die historische Entwicklung derselben brächte. Nun ist aber zu bemerken, daß eine Enzyklopädie im allgemeinen von einer großen Anzahl von Fachgenossen bearbeitet werden muß, und daß es gar nicht gewöhnlich ist, daß ein Mathematiker, der ein gewisses Gebiet speziell studiert hat, sich auch mit der Geschichte desselben so eingehend beschäftigt hat, daß er diese in einem Enzyklopädieartikel befriedigend behandeln kann; auf der anderen Seite ist es oft unmöglich, Fachgenossen zu finden, die geneigt sind, 35*
3 548 H- Teil: Wissenschaftliche Vorträge. die von anderen Mitarbeitern verfaßten Artikel zu verbessern oder zu ergänzen. Schon aus diesem Grunde ist es wünschenswert, daß historische Notizen nicht ausschließlich in den besonderen Artikeln zu finden sind, sondern daß es auch eine Gesamtdarstellung der historischen Entwicklung der verschiedenen mathematischen Theorien geben wird. Aber dieser Grund ist gewiß nicht der einzige, aus dem eine solche Anordnung empfohlen werden kann. Wenn die Spezialartikel der Enzyklopädie nur die gesicherten Resultate und die Methoden, wodurch diese hergeleitet werden, enthalten sollen, so hat man keinen eigentlichen Anlaß, in einem solchen Artikel die historisch vorhandenen Methoden zu erwähnen, die entweder zu unrichtigen Resultaten oder auf unrichtigem Wege zu richtigen Resultaten geführt haben. Aber Methoden dieser Art können für die künftigen Forscher auf dem betreffenden Gebiete sehr lehrreich sein. Ebenso lehrreich ist es zu ersehen, wie Resultate, die einem gewissen Gebiete angehören, bisweilen durch Methoden gewonnen worden sind, die für einen ganz anderen Zweck bestimmt waren. Endlich soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß der allgemeine Überblick über die historische Entwicklung, der gewiß auch für die künftigen Forscher belehrend ist, wesentlich erleichtert wird, wenn die Einzelheiten zuerst in besonderen Artikeln behandelt worden sind. Will man den jungen Mathematikern eine solche Übersicht bieten, so ist folglich besonders angebracht, dieselbe in eine Enzyklopädie der Mathematik unterzubringen. Ich habe jetzt die Antwort auf meine Frage unter Bezugnahme auf den Nutzen, den eine Enzyklopädie mit sich führt, zu ermitteln gesucht, aber die Sache kann auch von einem anderen Gesichtspunkte aus betrachtet werden. Wenn es der Zweck einer Enzyklopädie ist, eine Kodifikation der Errungenschaften der Mathematik zu bieten, so ist es wohl angezeigt, darin auch die Errungenschaften der mathematisch-historischen Forschung zu bringen, sofern diese wirklich als mathematisch betrachtet werden können. Und meines Erachtens kann man mit gutem Recht behaupten, daß eine wirkliche Entwicklungsgeschichte der mathematischen Theorien eine rein mathematische Disziplin ist. Aus den jetzt auseinandergesetzten Gründen bin ich der Ansicht, daß eine Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften nicht nur in den Spezialartikeln historische Notizen bringen, sondern noch dazu eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Mathematik enthalten soll. Die Ausführlichkeit dieser Darstellung hängt wesentlich von der Ausführlichkeit der besonderen Artikel ab, und wenn im voraus festgestellt ist, daß in diesen Artikeln die Methoden selbst im allgemeinen nicht
4 C. Vorträge in den Sektionssitzungen: Eneström. 549 auseinandergesetzt werden, sondern nur Andeutungen und bibliographische Verweise hinsichtlich derselben vorkommen sollen, so ist es angebracht, in der von mir befürworteten Gesamtdarstellung nur die wichtigsten Punkte der historischen Entwicklung der Mathematik zu behandeln. Als solche Punkte, die für die Benutzer einer Enzyklopädie besonderes Interesse haben dürften, möchte ich die folgenden hervorheben: 1) Welche Fragen haben zu verschiedenen Zeiten vorzugsweise die Aufmerksamkeit der Mathematiker in Anspruch genommen? 2) Welcher innere Zusammenhang findet zwischen den gleichzeitig oder nacheinander behandelten Fragen statt? 3) Welche Methoden sind benutzt worden, um die Fragen zu erledigen, und mit welchem Erfolge? 4) Welche Resultate sind dadurch nebenbei erhalten worden, die für die Entwicklung der Mathematik wertvoll geworden sind, zuweilen sogar wertvoller als die direkt gesuchten Resultate? Dagegen halte ich es für weniger angebracht, auf die kulturhistorische Bedeutung der Mathematik einzugehen. Fragen dieser Art können gewiß von Interesse sein, aber gesicherte Resultate der mathematisch-historischen Forschung sind sie im allgemeinen nicht. Ich habe oben bemerkt, daß die seit einigen Jahren erscheinende Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mich angeregt hat, mich mit der jetzt von mir behandelten Frage zu beschäftigen. Ob meine Ansichten mit denen der Begründer dieses Unternehmens genau übereinstimmen, weiß ich nicht, aber jedenfalls dürfte ein wesenthcher Meinungsunterschied nicht vorhanden sein. In der Tat gibt es Spezialartikel, die die historische Seite des Gegenstandes gebührend berücksichtigen, und wenn es andere Artikel gibt, wo dies leider nicht der Fall ist, so dürfte dieser Umstand lediglich auf der Schwierigkeit, passende Mitarbeiter zu finden, beruhen. Dazu kommt noch, daß der ursprüngliche Entwurf des Programmes des noch nicht in Angriff genommenen letzten Bandes der Encyklopädie eine Gesamtübersicht über die Entwicklung der mathematischen Wissenschaften im neunzehnten Jahrhundert in Aussicht stellte. Freilich fehlt dieser Punkt im letzten Entwurf des Programmes (dort wird ganz allgemein von der Behandlung historischer Fragen gesprochen), aber dies bedeutet wohl nur, daß man vorläufig von einer genaueren Disposition des letzten Bandes
5 550 u. Teil: Wissenschaftliche Vorträge. der Encyklopädie Abstand genommen hat, und zwar darum, weil es voraussichtlich einige Jahre dauern wird, bevor dieser Band in Angriff genommen wird. Dem Umstände, daß der von mir zitierte Entwurf des Programmes nur von der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts spricht, lege ich keine größere Bedeutung bei, denn in den bisher erschienenen Spezialartikeln ist eine Menge von historischen Notizen sogar über griechische und arabische Mathematik mitgeteilt worden, und es liegt wohl kein Grund vor, warum gerade die Gesamtdarstellung sich ausschließlich auf das neunzehnte Jahrhundert beschränken soll. Es scheint mir also, als ob das, was ich hier in betreff der Behandlung der Geschichte der Mathematik vorgeschlagen habe, keine wesentliche Modifikation, sondern nur eine programmäßige Ergänzung des Planes der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften wäre.
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