Norman Aselmeyer, Cholera und Tod. Epidemieerfahrungen und Todesanschauungen in autobiografischen Texten von Arbeiterinnen und Arbeitern

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Transkript:

Archiv für Sozialgeschichte 55, 2015 1 Zusammenfassungen Norman Aselmeyer, Cholera und Tod. Epidemieerfahrungen und Todesanschauungen in autobiografischen Texten von Arbeiterinnen und Arbeitern Cholera war das gesamte 19. Jahrhundert hindurch eine Krankheit der Armen und Mittellosen. Der letzten deutschen Choleraepidemie in Hamburg 1892 fielen fast ausschließlich Arbeiterinnen und Arbeiter zum Opfer. Sowohl Zeitgenossen als auch Historikerinnen und Historiker haben die Ursachen dafür vor allem in ihrer mangelnden Hygiene gesehen und diese gar als Todesfatalismus interpretiert. Dieser Beitrag befasst sich anhand der Hamburger Choleraepidemie 1892 mit der Subjektdimension des Seuchengeschehens und der medikalen Praxis von Arbeiterinnen und Arbeitern, um der Frage nach deren Übersterblichkeit eine akteurszentrierte Perspektive hinzuzufügen. Dafür werden auf autobiografische Texte von Arbeiterinnen und Arbeitern zurückgegriffen. Die Analyse der Lebenserinnerungen zeigt, dass die proletarische Seuchenreaktion gesundheitsbewahrend ausgerichtet war, sich maßgeblich an traditionellen Praktiken orientierte und weniger an denjenigen der akademischen Medizin. Den Repräsentationen des Todes kommt im Umgang mit der Cholera zudem eine besondere Bedeutung zu; sie vermögen die zugeschriebene Sorglosigkeit und Indifferenz erklären. Letztlich ist die Übersterblichkeit während der Choleraepidemien keinem Todesfatalismus zuzuschreiben, sondern einer Kette von Ursachen, die auf strukturelle und institutionelle Ungleichheit sowie milieuspezifische Einstellungen und Verhaltensweisen zurückgehen, die sich in einer Distanz zur akademischen Medizin und in spezifischen Einstellungen zum Tod ausdrücken. Michael Becker/Dennis Bock, Muselmänner und Häftlingsgesellschaften. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager Als»Muselmänner«wurden in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern Häftlinge bezeichnet, die sich an der Grenze zwischen Leben und Tod befanden. Während Muselmänner in den Zeugnissen der Überlebenden allgegenwärtig sind, blieben sie in der wissenschaftlichen Forschung bislang weitgehend unbeachtet. Ausgangspunkt der Studie ist die Beobachtung, dass die Erzählungen über Muselmänner einem weithin verbreiteten Masternarrativ folgen, das sie als passiv, isoliert und ohne Überlebensmöglichkeit repräsentiert. Dagegen zeigen viele der hier zugrunde gelegten Materialien Muselmänner als eigensinnige Akteure, die Einfluss auf ihre Situation in den Lagern nahmen. Anhand von literarischen Zeugnissen, archivierten Überlebendenberichten und Gerichtsprotokollen wird dargelegt, dass dieser Gegensatz auf die widersprüchliche

Archiv für Sozialgeschichte 55, 2015 2 soziale Realität der Häftlingsgesellschaften verweist und dass die Konzentrationslagererfahrung von Muselmännern weitaus komplexer war, als die Forschung dies bislang zur Kenntnis genommen hat. Zugleich ist damit eine vielversprechende Methode zur Erforschung der Häftlingsgesellschaften insgesamt skizziert. Sie wählt ihren Zugang über die Perspektive marginalisierter Häftlingsgruppen und ermöglicht damit die Bearbeitung dieses Desiderats ebenso wie eine kritische Re-Lektüre bisheriger Forschungsergebnisse. Der Aufsatz macht deutlich, dass»muselmann«als relationale Kategorie zu verstehen ist. Es wird ferner argumentiert, dass es einen andauernden Prozess der Muselmanisierung von Häftlingen gab, an dem zahlreiche Akteure der Häftlingsgesellschaften beteiligt waren und der für die (Neu-)Ordnung der sozialen Beziehungen zwischen den Häftlingen von grundlegender Bedeutung war. Die Kategorie»Muselmann«lag dabei quer zu allen anderen Kategorien der sozialen Ordnung der KZ-Gesellschaften. Die Abgrenzung von muselmanisierten Häftlingen diente der Versicherung der eigenen sozialen Identität. Mithilfe einer mikroskopischen Analyse raumzeitlicher Wirklichkeitsausschnitte werden die sozialen Prozesse innerhalb der Häftlingsgesellschaften rekonstruiert und die Handlungspraxen der Muselmänner im Kontext der aktuellen Konzentrationslagerforschung analysiert. Moritz Buchner, Zivilisierte Trauer? Emotionen als Differenzkriterium im bürgerlichen Italien (1870 1910) Ausgehend von einer 1874 erschienenen Lithografie von einer Bestattungszeremonie in Süditalien zeigt der vorliegende Aufsatz, dass angemessenes Trauern aus Perspektive des italienischen Bürgertums vor allem über die Abgrenzung von unzivilisierten Fühl- und Verhaltensweisen definiert wurde. In der Analyse werden drei Differenzierungsfelder näher beleuchtet, die für den Gegensatz zwischen bürgerlich-urbaner und ländlich-traditioneller Trauer maßgeblich waren: ein rationalistisches, von biologisch-medizinischen Erwägungen beeinflusstes Todesbild; ein auf individuelle, aber familiär eingebettete Gefühlsneigungen gründendes Sozialisierungsmodell; und eine Moralisierung von Emotionen über den Körper, die mit einer Umdeutung von schmerzhaften Empfindungen einherging, denen man nach traditioneller katholischer Deutung einen positiven Sinn zugesprochen hatte. Abschließend wird diskutiert, inwiefern sich daraus ein widersprüchliches Verhältnis zu Tod und Trauer ergab und welche Auswirkungen dies auf bürgerliche Trauerpraktiken hatte.

Archiv für Sozialgeschichte 55, 2015 3 Ann Katrin Düben,»So daß dann diese gesamte Grabstätte in Bockhorst verschwindet«. Die Friedhöfe für die Toten der Emslandlager im Spiegel der bundesdeutschen Erinnerungspolitik (1945 bis 1970) Im Zuge des Aufbaus eines nationalsozialistischen Lagerverbunds im Emsland entstanden seit 1933 in unmittelbarer Nähe der Lagerstandorte Friedhöfe zur Bestattung der verstorbenen Häftlinge. Der Beitrag untersucht die Nachgeschichte dieser Grabstätten und folgt der Annahme, dass bis in die 1960er-Jahre die offizielle Vergegenwärtigung der NS- Vergangenheit fast ausschließlich ihren Ausdruck im Totengedenken fand. Daher standen die Friedhöfe für die Lagertoten im Mittelpunkt der konfliktreichen Gedächtnisgeschichte der Emslandlager. Fallbeispielhaft werden anhand der Grabstätte Bockhorst-Esterwegen die Handlungsfelder der erinnerungspolitischen Protagonisten und ihrer Antagonisten untersucht. Dabei wird gezeigt, dass die Vergangenheitsleugnungen auf lokaler Ebene sowie die dagegen protestierenden Interventionen bundesrepublikanischen Konjunkturen folgten. Anna-Maria Götz, Zwischen Status, Prestige und Distinktion. Das bürgerliche Familiengrab und der Wandel des Bestattungswesens im 19. Jahrhundert Eine unvergleichlich dichte Quelle für die Sozialgeschichte stellen die monumentalen Grabanlagen des Bürgertums um 1900 dar. Mit der Einrichtung der großen Zentralfriedhöfe bot sich nun ausreichend Platz, um die früheren Massen- und Schichtgräber durch Einzelgräber abzulösen. Vor allem das Bürgertum konnte es sich leisten, Grabanlagen repräsentativ und individuell auszustatten mithilfe von aufkommenden Gewerbezweigen rund um die Bestattung und das Andenken ließ sich das öffentliche Grabmal wie ein privates Denkmal inszenieren. Eine besondere Rolle spielten dabei Grabfiguren. Als Mittelpunkt der Grabanlagen wurden sie als kostspielige Unikate bei namhaften Bildhauern in Auftrag gegeben oder auch als kostengünstigere Massenware per Katalog bestellt. Vor allem anhand der Größe des Monuments, der Kostspieligkeit des Materials oder auch der Lage des Grabs ließen sich Rückschlüsse auf den sozialen Status der Grabeigner herstellen. Hier zeigen sich bereits die feinen Unterschiede sowie der Wunsch der Grabeigner, eben diese feinen Unterschiede über den Tod hinaus im Friedhofsraum in Szene zu setzen. Mehrere Tausend Grabfiguren wurden zwischen 1880 und 1910 in Europa aufgestellt. Anhand einer Auswahl von drei Beispielen in Paris, Hamburg und Wien lassen sich die Wechselwirkungen von Status, Prestige und Distinktion exemplarisch veranschaulichen, die überregional in der bürgerlichen Grabmalkultur des 19. Jahrhunderts verbreitet waren.

Archiv für Sozialgeschichte 55, 2015 4 Florian Greiner,»Richtig sterben«populäres Wissen zum Thema»Tod«seit den 1970er- Jahren Der Aufsatz untersucht populäre Ratgeber zum Thema»Sterben und Trauern«von den frühen 1970er-Jahren bis in die 1990er-Jahre. Im Mittelpunkt stehen deren Autoren, Inhalte und Adressaten sowie die Strategien der Popularisierung von Wissen über den Tod in der Bundesrepublik Deutschland. Ferner wird der Frage nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher Expertise und populärem Erfahrungswissen sowie der Rolle von Religion und Kirche nachgegangen. Die zentrale These lautet, dass diese Publikationen Ausdruck einer forcierten»enttabuisierung«des Themas durch eine neue Gruppe öffentlicher»experten des Todes«sind und auf veränderte gesellschaftliche Einstellungen zu Sterben und Trauern hindeuten. So wird gezeigt, dass die in den Ratgebern angestrebte Rationalisierung des Todes als Grundmuster einer»verwissenschaftlichung des Sterbens«interpretiert werden kann. Als Zielvorstellung konstruieren diese einen guten Tod, der nicht nur dem Sterbenden einen friedlichen und würdigen Abschied erlaubt, sondern zugleich auch die Angehörigen zeitlich, finanziell sowie psychisch so wenig wie möglich belastet. Überdies versuchen die Broschüren und Handbücher mit ihrer Kritik an der vermeintlichen Verdrängung des Todes, Sterben und Trauer wieder als integrale Bestandteile des alltäglichen Lebens zu verankern. Nina Janz, Von Toten und Helden. Die gefallenen Soldaten der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs Im Zweiten Weltkrieg fielen über 20 Millionen Soldaten. Auf die fast fünf Millionen deutschen Gefallenen reagierte die Wehrmacht mit mythisierenden Heldengeschichten, Propaganda und Paraden, aber auch mit einer aufwendigen Auskunfts- und Registrierungsverwaltung für die Toten und ihre Gräber. Bestattungskommandos und sogenannte Gräberoffiziere wurden beauftragt, jedem Soldaten ein»würdiges«grab und Andenken zu gewähren. Doch bereitete es der Wehrmacht große Schwierigkeiten jeden Gefallenen zu bergen, zu identifizieren und beizusetzen. Oft fehlte die Zeit, das Material oder die Energie die Toten gemäß den Befehlen und Richtlinien der Wehrmacht zu bestatten. Bei Kampfeinsätzen mussten die Toten zurückgelassen werden und konnten nicht geborgen werden. Harte Witterungsbedingungen wie Frost und Schnee erschwerten die Aushebung eines Grabs; Tote wurden vertauscht, Grabmeldungen gingen verloren und das Schicksal der Soldaten konnte gegenüber den Angehörigen nicht immer geklärt werden. Während die Soldaten fernab von Familie und Wohnung starben, wurde ihr Tod als»heldentod für das Vaterland«verklärt. Einmal im Jahr wurde auf dem Heldengedenktag (dem ehemaligen

Archiv für Sozialgeschichte 55, 2015 5 Volkstrauertag) ihres Todes gedacht. Wehrmacht und NSDAP zelebrierten die Gefallenen und ihren Beitrag»für das Vaterland«durch Paraden, Marschmusik und einer Kranzniederlegung an der Neuen Wache in Berlin. Anstatt der Trauer um die Toten wurden Stolz, Kampfbereitschaft und Siegeszuversicht zur Schau gestellt. Der Umgang mit den Gefallenen war eine durchinszenierte und strukturierte Darbietung des»heldentodes«der Soldaten von der Grabanlage bis hin zur Parade und Verklärung des Soldatentodes auf dem Heldengedenktag. René Schlott, Die Todesopfer an der Berliner Mauer. Ereignis und Erinnerung In den Jahren von 1961 bis 1989 starben an den Grenzanlagen rund um Westberlin 138 Menschen. Die Zahl der Toten an der Berliner Mauer nahm von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ihres 37-jährigen Bestehens kontinuierlich ab. Der typische Mauertote war ein unverheirateter, kinderloser Mann im Alter von 25 Jahren mit Facharbeiterausbildung, wie sich aus den Biografien eruieren lässt, die das Forschungsprojekt»Die Todesopfer an der Berliner Mauer«von 2005 bis 2009 zusammentrug. Die Fluchtmotive reichen dabei vom Wunsch in Westberlin das durch den Mauerbau unterbrochene Studium fortzusetzen bis hin zur Furcht vor der Ablehnung eines Ausreiseantrags. Der Beitrag befasst sich über sozialgeschichtliche Aspekte hinaus auch mit dem staatlich genau reglementierten Umgang mit den Todesopfern aufseiten der DDR, der meist auf eine Verschleierung oder gar Vertuschung der genauen Todesumstände hinauslief. Denn in der aufgeladenen Atmosphäre der geteilten Stadt, in der sich die beiden Blöcke des Kalten Kriegs direkt gegenüberstanden, wurde jeder bekannt gewordene Todesfall an der Berliner Mauer umgehend politisiert und auf beiden Seiten für die eigenen Zwecke instrumentalisiert auch über den Fall der Mauer 1989 hinaus. Mit der Wiedervereinigung verschwand das offizielle DDR-Gedenken, während die zuvor im Westen geprägten Gedenkrituale nun relativ bruchlos als gesamtdeutsche Erinnerungsformeln eine Kontinuität erfuhren. Erst das Jahr 2009 markierte schließlich mit dem Übergang von einer dichotomischen in eine multiperspektivische Mauererinnerung eine Zäsur im Gedenken an die Geschichte des Todes in der Extremsituation der deutschen Teilung. Lu Seegers, Der tote Vater im Familiengedächtnis. Deutschland und Polen nach 1945 Der Verlust des Vaters bedingt durch den Zweiten Weltkrieg war nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa ein Massenphänomen. Während in Deutschland rund 2,5 Millionen Kinder ihren Vater als Angehörigen der Wehrmacht verloren hatten, kamen die meisten nicht jüdischen Männer in Polen als Verfolgte der deutschen oder sowjetischen Besatzungsmacht

Archiv für Sozialgeschichte 55, 2015 6 beziehungsweise als Angehörige der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa) ums Leben. Insgesamt soll es in Polen nach 1945 rund 1,1 Millionen Halbwaisen und Waisen gegeben haben. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Frage, wie der kriegsbedingte Tod des Vaters von Söhnen und Töchtern der Jahrgänge 1945 in West- und Ostdeutschland retrospektiv gedeutet wird. Um die europäische Perspektive zu integrieren, werden punktuell auch Deutungen polnischer Halbwaisen einbezogen. Mithilfe von 40 lebensgeschichtlichen Interviews mit betroffenen west- und ostdeutschen sowie polnischen Männern und Frauen der Jahrgänge 1935 bis 1945 untersucht der Beitrag individuelle, kindliche Wahrnehmungen des kriegsbedingten Todes sowie seine Bedeutung und Deutung in verschiedenen biografischen Lebensphasen. Die Interviews ermöglichen einen Zugang, um beispielhaft veränderte Familienbeziehungen nach dem Tod des Vaters, individuelle Deutungen des Verlusts sowie seine Positionierung in der familiären Erinnerung in Deutschland und Polen rekonstruieren zu können. Henning Türk, Bürgerliche Stiftungen als Memoria und soziale Harmonisierung von oben nach der Revolution 1848/49. Die Schenkungen und Stiftungen der Familie Jordan in Deidesheim Der Aufsatz geht der Memoria als des»gedenkens Toter durch Lebende«(Michael Borgolte) am Beispiel der bürgerlichen Stiftungspraxis im 19. Jahrhundert in einer Lokalstudie nach. Anhand der Stiftungen in der pfälzischen Kleinstadt Deidesheim zwischen der Märzrevolution und der Reichsgründung 1870/71 zeigt der Aufsatz wie im Stiften und Schenken politische, soziale und religiöse Aspekte zusammenflossen. So konnte das Bürgertum durch Stiftungen im Zusammenhang mit dem Tod naher Verwandter dem Tod einen tieferen Sinn verleihen. Damit boten die Stiftungen einen Ausweg, um dem zunehmend als sinnlos erfahrenen Tod zu entkommen. Gleichzeitig legitimierte das Bürgertum über Stiftungen und Schenkungen seine soziale und ökonomische Führungsposition vor Ort. Zudem boten die Stiftungen im Bereich der öffentlichen Hygiene, der Fürsorge und Bildung die Möglichkeit, das eigene liberale Weltbild auf der lokalen Ebene durchzusetzen. Sebastian Weinert, Der»Tod«als Argument. Strategien der hygienischen Volksbelehrung vom späten Kaiserreich bis zum Anfang der 1960er-Jahre Die hygienische Volksbelehrung beziehungsweise gesundheitliche Aufklärung erlebte um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert einen enormen Bedeutungsaufschwung deutlich sichtbar an den großen Hygiene-Ausstellungen wie der Ersten Internationalen Hygiene- Ausstellung Dresden von 1911 oder der Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge

Archiv für Sozialgeschichte 55, 2015 7 und Leibesübungen (GeSoLei) in Düsseldorf 1926. Ziel der hygienischen Volksbelehrer war es, durch die Popularisierung medizinisch-naturwissenschaftlichen Wissens und die direkte Ansprache ihres Publikums, das gesundheitsrelevante Verhalten der Bevölkerung zu beeinflussen. Der»Tod«spielte dabei eine herausragende Rolle. Denn die Angst vor dem Tod oder umgekehrt gewendet die Hoffnung auf ein langes Leben wurde von den hygienischen Volksbelehrern direkt angesprochen und in ihrem Sinn funktionalisiert. Der vorliegende Beitrag verfolgt, wie der»tod«in der hygienischen Volksbelehrung vom späten Kaiserreich bis zum Beginn der 1960er-Jahre als Argument eingesetzt wurde. Deutlich wird dabei, welchen Veränderungen sowie Kontinuitäten der Umgang mit dem»tod«in diesem Zeitraum und in dieser spezifischen Form der Wissenschaftspopularisierung unterlag.