http://www.faz.net/-gqz-qhtg HERAUSGEGEBEN VON WERNER D'INKA, BERTHOLD KOHLER, GÜNTHER NONNENMACHER, FRANK SCHIRRMACHER, HOLGER STELTZNER Feuilleton Aktuell Feuilleton 60 Jahre nach Kriegsende Der geteilte 8.Mai 08.05.2005 Die Erinnerung der Deutschen an das Ende des Zweiten Weltkrieges ist gespalten. Befreit wurden die vom System Verfolgten, aber für viele Menschen bedeutete der 8. Mai Vertreibung und Verschleppung. FAZ.NET-Spezial. Von LORENZ JÄGER Artikel In Saarbrücken steigt heute abend eine Party. Die Junge Union, die Jungsozialisten, die Jugendorganisationen der Grünen und der FDP laden zu einer gemeinsamen "Nacht der Befreiung" ein, "Erinnern und Feiern" heißt die Veranstaltung. Es gibt eine künstlerische Gedenk-Installation, man zeigt den Film "Die Brücke", anschließend legt DJ Eric Platten auf. PICTURE-ALLIANCE/ DPA/DPAWEB Die Erinnerung ist geteilt, auch in West und Ost Sicher wirddie Initiative für die Jugendfunktionäre eine Begünstigung ihrer politischen Karriere bedeuten; sie haben gezeigt, daß sie das Idiom der politischen Klasse beherrschen. Gerhard Schröder hatte vor einem Jahr, bei den Feierlichkeiten zur alliierten Landung in den Normandie, den Ton vorgegeben: Der 8. Mai sei kein Sieg über Deutschland, sondern für Deutschland gewesen. Die Formel erinnert an alte Techniken der Selbsthypnose: Du bist befreit, ich bin befreit. Weitere Artikel Putin feiert den Sieg der Freiheit über die Tyrannei Köhler: Es gibt keinen Schlußstrich Bush kritisiert die sowjetische Besatzung des Baltikums Kriegsende: Bundeskanzler Schröder bittet Russen um Vergebung Interviewserie: Was haben Sie am 8. Mai 1945 gemacht? Architekt der Schande BverfG: NPD-Demonstration am 8 Mai bleibt verboten Holocaust-Mahnmal: Fast wie ein wogendes Getreidefeld Wider alle Erwartungen: Das Berliner Holocaust-Mahnmal Wer war Himmler? Jungs, stellt euch da hin und hißt die Flagge Ian Kershaw über den Zweiten Weltkrieg 60 Jahre nach Kriegsende wiedergelesen: Arno Schmidts Leviathan Der Engel Nachkriegsdeutschlands fährt zur Hölle Die DVD-Edition von F.A.Z. und Spiegel TV
Parole: Wehe dir, Deutschland" Das deutsche Erinnern an das Kriegsende steht vor einer mehrfachen Aufgabe, die eine kaum zubewältigende Herausforderung darstellt. Der 8.Mai 1945 bedeutete das Ende eines Unrechtssystems, Befreiung für die vom Nationalsozialismus Verfolgten und Gemarterten, vor allem für die Juden, soweit sie die Todesmärsche am Ende überlebten. Und er bedeutete für die Menschen im Westen Deutschlands eine Befreiung von der unmittelbaren Angst vor weiteren Bombardierungen. Im Osten, wo die Sowjetarmee unter der Parole "Wehe dir, Deutschland" vorrückte, sah die Sache schon anders aus. Zum zweiten aber steht die Erinnerung vor der Aufgabe, den eigenen Gefallenen, Vermißten, zur Zwangsarbeit Verschleppten und bei der Vertreibung Umgekommenen ein würdiges Angedenken zu bewahren. Und schließlich gilt es zubedenken, daß der Krieg mitder bedingungslosen deutschen Kapitulation endete. Deutschland als politisches Subjekt hatte für lange Zeit zu existieren aufgehört. Es gibt zumindest zwei Erinnerungen Die Befreiung der Deutschen war im übrigen zu keinem Zeitpunkt zwischen dem 1. September 1939 und dem 8. Mai 1945 ein Kriegsziel der alliierten Koalition gewesen. Wer also von Befreiung tout court spricht, hat ein unpolitisches, unhistorisches, vor allem ein nachträglich zurechtgelegtes Bild der Dinge. Der "lange Weg nach Westen", den die Bundesrepublik inzwischen eingeschlagen hat, wird als das politische Gewünschte zurückprojiziert. Da die Aufgabe der Erinnerung im deutschen Fall so schwer ist, liegt es nahe, sie aufzuspalten. So gibt es zumindest zwei Erinnerungen, eine der politischen Klasse und der intellektuellen Eliten; eine andere aber, und sie hat in diesem Jahr an Umfang gewonnen, kommt von unten. Es sind Menschen, die ihre Erfahrungen vom Kriegsende veröffentlichen, oft im Selbstverlag oder in kleinen, marginalen Publikationsorganen. Sie wissen, daß dies ihre letzte Chance ist, die eigenen Erlebnisse in den letzten Kriegstagen, in der Gefangenschaft oder in dem sich langsam beruhigenden Deutschland an einem runden Gedenktag weiterzugeben. Bei den Eliten hört man vergleichsweise wenig von dem, was sich an der Basis abspielte. Ohne Bilder keine Erinnerung Es sind in diesen Tagen die baltischen Länder, die den stärksten Einspruch gegen die kurze Rede von der Befreiung erhoben haben, und das Neue ist, daß sie damit international, bei George W.Bush wie bei Günter Verheugen, Gehör finden. Estland, Lettland und Litauen wurden 1945 der Sowjetunion zwangsweise eingegliedert, und die Deportationen, die schon 1940/41 begonnen hatten, wurden wiederaufgenommen. Warum hat die Anerkennung dieser osteuropäischen Leidensgeschichte so lange gedauert? Es gibt eine einfache Antwort: Wir besitzen davon keine Fotos, die sich ins Gedächtnis eingegraben und ikonischen Wertgewonnen hätten. Da es keine Befreiung des GULag gab, fehlen die aufrüttelnden Bilder. Das gleiche gilt für die fünfhunderttausend verschleppten Frauen und Kinder aus Ostpreußen, von denen am Ende nur die Hälfte zurückkam, für die mehr als eine Million Toten während der Vertreibung, für die in Königsberg langsam verhungernden Alten, für die Kriegsgefangenen der Rheinwiesenlager, denen Brot zuzustecken bei Todesstrafe verboten war. Lage im Osten spielte kaum eine Rolle
Man kann zwei Bücher als die exemplarischen Ausprägungen der schwierigen deutschen Erinnerung lesen. Das eine entstand aus den Interviews, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den vergangenen Wochen regelmäßig veröffentlicht wurden. Hier sprechen Menschen, die entscheidend die Bundesrepublik mitgestaltet haben. Das andere ist der Band "Die Besiegten", den der Göttinger Gymnasiallehrer Karlheinz Weißmann herausgegeben hat. Beide zusammen ergeben ein gutes, manchmal ergreifendes Bild der Epoche. Aber auch die Unterschiede sind deutlich. In den Erinnerungen der Elite der Bundesrepublik spielt die Lage im Osten kaum eine Rolle. Es ist, als sei aus der Reihe der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion kaum jemals eine Stimme aufgetaucht, die sich im intellektuellen Diskurs der Bundesrepublik hätte Geltung verschaffen können - es blieb bei den schon sprichwörtlich gewordenen Erzählungen der Mathematiklehrer, bei denen man einfach abwinkte. Oder in der Klasse war ein Mädchen, das als Geburtsort Kuybischew angab und dazu nur lakonisch sagte, man sei verschleppt gewesen - worunter man sich damals nichts Rechtes vorstellen konnte, auch nicht weiter fragte. Welches Wissen wird ausgeschlossen? Erst seit den "ethnischen Säuberungen" in den jugoslawischen Nachfolgekriegen wurde die Vertreibung ein Thema, das eine legitime Sprache im Diskurs der Bundesrepublik fand. Wer der Frage der Befreiung und der Niederlage wirklich nachgehen will, sollte, so merkwürdig es klingen mag, wieder einmal zu den Schriften Michel Foucaults greifen. Denn kein Problem hat den französischen Philosophen so sehr beschäftigt wie das Problem des Archivs: Welches Wissen erhält Zugang zum Gedächtnisspeicher, welches wird dauerhaft ausgeschlossen? Der Ansprache von Bundespräsident Horst Köhler wird man nun mit besonderer Aufmerksamkeit zuhören müssen. Er wirdsich der Staatsräson der Bundesrepublik nicht entziehen, zugleich aber ist er der erste Bundespräsident, der aus einer Familie von Vertriebenen stammt. Nimmt er seine Aufgabe ernst, dann wird er das Bild der Vertreibung als einer mehr oder weniger geordneten Umsiedlung korrigieren müssen - ohne dabei aber Zweifel am deutschen Versöhnungswillen aufkommen zu lassen. Der Bundeskanzler wird bei seinem Besuch in Moskau dem unendlichen Kriegsleiden der russischen Bevölkerung seinen Respekt zollen - aber ob er gerade in Moskau noch einmal von einem "Sieg für Deutschland" sprechen kann? Erinnerung ohne Trauer ist ein Frevel Die Erinnerung an den 8.Mai 1945 bleibt widersprüchlich und gebrochen. In dem von Weißmann herausgegebenen Band findet man genügend Hinweise darauf, daß ein Gedenken in Würde möglich ist. "Am späten Abend Abtransport nach Belgien", erzählt dort eine von den Amerikanern internierte Frau. Sie trifft in der Fabrik, die man in Zellen aufgeteilt hat, auf andere Frauen, die schon seit dem Oktober 1944 interniert waren. "Sie berichten ein erschütterndes Erlebnis: Sie erfüllten einigen HJ-Führern den letzten Wunsch und sangen ihnen:,im schönsten Wiesengrunde steht meiner Heimat Haus', ehe sie auf dem Festungshof als Partisanen erschossen wurden." Es war ein Unrechtssystem, das diese Jungen verteidigten, und dennoch wird man den Bericht über ihre Todesstunde nicht ohne Bewegung lesen können. Die Jugendlichen, die heute abend in Saarbrücken feiern, dürften im gleichen Alter stehen wie die damals Hingerichteten.
"Liebes Kindlein, ach ich bitt'/bet fürs bucklicht Männlein mit" heißt es in einem alten Volkslied. Erinnerung an den 8.Mai 1945 ohne Trauer ist ein Frevel. Quelle: F.A.Z., 07.05.2005, Nr. 105 / Seite 29 Hier können Sie die Rechte an diesem Artikel erwerben
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