Tiernutzung in der biomedizinischen Forschung: eine verdrängte Notwendigkeit? Podiumsdiskussion am 24. Juni 2013, Universität Tübingen

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Transkript:

Tiernutzung in der biomedizinischen Forschung: eine verdrängte Notwendigkeit? Podiumsdiskussion am 24. Juni 2013, Universität Tübingen Dr. Cornelie Jäger Landesbeauftragte für Tierschutz Baden-Württemberg Sehr geehrte Damen und Herren, eine Bemerkung vorweg: Diesem Podium fehlt eklatant die Teilnahme einer Tierschutz- oder Tierrechtsorganisation. Als Landesbeauftragte für Tierschutz kann ich das Spektrum der Einwände gegen Tierversuche alleine nicht vollständig abdecken. Das liegt auch an meiner originär beratenden Aufgabe, zu der es gehört, Lösungsansätze für alle Beteiligten zu suchen. Leider war es nicht mehr möglich, das Ungleichgewicht auf dem Podium zu korrigieren. Ich befürchte deshalb, dass diese Veranstaltung zu einer einseitigen "Informationsveranstaltung" anstatt zu einer offenen Diskussion gerät - was ich ausdrücklich als vertane Chance bedauern würde. Nun zum eigentlichen Eingangsstatement: Um es vorwegzunehmen - ich befürworte Tierversuche nicht, aber ich respektiere, dass der gesetzliche Rahmen Tierversuche unter

- 2 - bestimmten Bedingungen zulässt. Im Übrigen bin ich keineswegs wissenschaftsfeindlich. Meine Ziele sind: 1. Tierversuche methodisch zu ersetzen, 2. Tierversuche durch die Abwandlung von Fragestellungen und Herangehensweisen oder sogar 3. durch den bewussten Verzicht auf bestimmte Erkenntnisse entbehrlich zu machen, wobei insbesondere dieser dritten Punkt einen breiten gesellschaftlichen Diskurs voraussetzt. Die Rechtsvorgaben für Tierversuche, die in den letzten Jahren durch EU-Recht und Grundgesetz deutliche neue Akzente erhalten haben, fordern alle Akteure explizit dazu auf, Tierversuche einzuschränken und zu ersetzen. Es ist mir wichtig, dass man sich dabei nicht auf einen Weg alleine festlegt, sondern mehrere Ansätze parallel voranbringt. Die neue Tierversuchsrichtlinie der EU fordert wiederholt die sogenannten 3 R (to reduce, to replace, to refine) als gesetzlichen Auftrag von allen tierexperimentell Tätigen und den Behörden ein. Auch das nationale Tierschutzgesetz verlangt in seiner bisherigen und in seiner künftigen Version, dass Tierversuche für

- 3 - Antworten auf eine Fragestellung unerlässlich - also tatsächlich alternativlos - sein müssen, dass sie auf das unerlässliche Maß beschränkt werden und dass für jedes Projekt eine ethische Abwägung der Tierbelastungen gegenüber dem möglichen wissenschaftlichen Nutzen durchgeführt wird. Aber lassen sich die Unerlässlichkeit, die Belastungen und ein möglicher Erkenntnisgewinn im Augenblick überhaupt valide prüfen und nachvollziehbar darstellen? Wird hier nicht häufig mit letztlich subjektiven und relativ undifferenzierten Einschätzungen gearbeitet? Alleine aus den rechtlichen Vorgaben ergeben sich eine ganze Reihe von "Hausaufgaben": 1) zu den 3 R: wo immer sinnvoll und möglich - und das schließt auch die Lehrzwecke ein - gilt es, Tiere zu schonen, einzusparen und zu ersetzen. Sei es durch die Verbesserung von Schmerz- und Narkoseregimes oder nicht-invasive Verfahren und tierfreie Testsysteme, sei es durch data sharing, den digitalen Frosch, erweiterte retrospektive Analysen von Patientendaten und -materialien oder auch die Optimierung der Haltungsbedingungen. 2) Zur ethischen Abwägung: Lassen Sie uns dringend aussagekräftige Verfahren zur konkreten Belastungseinschätzung - al-

- 4 - so regelrechte Belastungsindizes über die bestehenden Belastungskataloge hinaus - entwickeln. Dabei sollten sowohl die Bedingungen des einzelnen Experiments wie auch die Auswirkungen der konkreten Zucht und Haltung berücksichtigt und nicht zuletzt ethologische und andere tierbasierte Indikatoren einbezogen werden. Solche Indexverfahren gibt es in anderen Bereichen der Tierhaltung seit Langem und könnten auch vor Gericht haltbare Belastungseinschätzungen sicherstellen. Eine Belastungseinschätzung wie sie das OVG Bremen kürzlich vorgenommen hat, entspricht in meinen Augen keineswegs einer fundierten und differenzierten Bewertung. Und lassen Sie uns außerdem Instrumentarien entwickeln, um den möglichen Nutzen für die Wissenschaft schlüssig abschätzen zu können, damit eine nachvollziehbare ethische Abwägung überhaupt stattfinden kann. 3) Noch ein weiteres Aufgabenfeld: lassen Sie uns - nicht nur wegen neuer rechtlicher Vorgaben - daran arbeiten, tierexperimentelle Forschung viel transparenter zu machen als in den zurückliegenden Jahren. Eine gut informierte Zivilgesellschaft darf und soll sich meines Erachtens an der Diskussion beteiligen, welche Fragestellungen mit welchen Mitteln bearbeitet werden. Sie darf durchaus fragen, ob die eingesetzten Mittel - von den finanziellen, über die personellen und intellektuellen

- 5 - bis hin zu den Tieren - gut, also in jeder Hinsicht mindestens verhältnismäßig, eingesetzt werden. Dadurch wird Forschungsfreiheit nicht unzulässig eingeschränkt, sondern begleitet und ausbalanciert. Abschließend möchte ich an Sie alle appellieren, sich bei dem von uns initiierten Fachforum Primaten zu beteiligen. Im Rahmen dieses Forums sollen neue Standards - insbesondere im Blick auf valide Bewertungsmaßstäbe, aber auch darüber hinaus - entwickelt werden, die letzten Endes allen Versuchstieren zugutekommen sollen. Vielen Dank!