Obergericht des Kantons Bern Zivilabteilung Cour suprême du canton de Berne Section civile Hochschulstrasse 17 Postfach 7475 3001 Bern Telefon 031 635 48 02 Fax 031 635 48 14 Obergericht-Zivil.Bern@justice.be.ch www.justice.be.ch/obergericht Kreisschreiben Nr. 3 Verfahren der Weiterziehung I. Allgemeines Das Verfahren der Weiterziehung ist in seinen Grundzügen in Art. 10 EG ZGB geregelt. Die Weiterziehung richtet sich nach VRPG, falls es sich bei der Vorinstanz um eine Verwaltungs- oder Verwaltungsjustizbehörde handelt (unten Ziff. II). Das trifft namentlich zu auf das Zivilstandswesen (Art. 17 EG ZGB), die Stiftungsaufsicht (Art. 20a ZGB), den Entzug und die Wiederherstellung der elterlichen Sorge (Art. 23a EG ZGB), das Pflegekindwesen (Art. 26c EG ZGB), die Adoptionen (Art. 26e EG ZGB), den Rechtsschutz bei Massnahmen ohne Freiheitsentzug nach dem Gesetz über die fürsorgerische Freiheitsentziehung (Art. 33 FFEG i.v.m Art. 23a EG ZGB), die übrigen Vormundschaftssachen (Art. 40b EG ZGB), die Rechnungspassation im Vormundschaftswesen (Art. 51 EG ZGB), Erbschaftsangelegenheiten (Art. 74a EG ZGB), die Aufsicht über die Grundbuchämter (Art. 124 EG ZGB) und die Handelsregistersachen (Art. 165 Abs. 4 der eidgenössischen Handelsregisterverordnung [HRegV]). Entscheidet hingegen ein Zivilgericht als Vorinstanz (Entmündigungen und Verbeiratungen, vgl. Art. 36 und 40 EG ZGB) findet das EG ZGB und subsidiär die ZPO Anwendung (unten Ziff. III). II. Verwaltungs- oder Verwaltungsjustizbehörde als Vorinstanz a) Das Verfahren richtet sich in erster Linie nach den Vorschriften zum Beschwerdeverfahren vor verwaltungsunabhängigen Justizbehörden (Art. 74 ff VRPG). Die Vorschriften zum verwaltungsinternen Beschwerdeverfahren (Art. 65 bis 73 VRPG) sind sinngemäss anwendbar. b) Schriftlichkeit des Weiterziehungsverfahrens Im Allgemeinen: Verwaltungsjustizverfahren werden schriftlich durchgeführt (Art. 31 VRPG), wobei entsprechende Rechtsschriften zu begründen sind (Art. 32 VRPG). Das schriftliche Verfahren ist auch vor Obergericht die Regel. Die Durchführung einer Verhandlung bleibt möglich (Art. 31 VRPG).
Spezialfall: In familienrechtlichen Angelegenheiten (Art. 23a EG ZGB) ist eine schriftliche Begründung des Rechtsmittels fakultativ. Die Vorinstanzen sind jedoch gehalten, die Parteien in der Rechtsmittelbelehrung auf die Möglichkeit der schriftlichen Begründung sowie die Konsequenzen im Falle des Unterlassens hinzuweisen. Eine allfällige Begründung ist innert der Rechtsmittelfrist einzureichen. Das Ansetzen einer Nachfrist ist ausgeschlossen, und zwar selbst dann, wenn auf eine mündliche Verhandlung verzichtet wird. Fehlt eine schriftliche Begründung des Rechtsmittels, entscheidet die Zivilkammer gestützt auf die Akten. Sie stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest und trifft die geeignet erscheinenden Beweismassnahmen. Nötigenfalls ordnet sie eine mündliche Verhandlung an. c) Die Weiterziehung an das Obergericht ist binnen der im EG ZGB bzw. der besonderen Gesetzgebung genannten Fristen zu erheben. Fehlen solche, gilt die Frist von 30 Tagen (Art. 10 EG ZGB). Die Weiterziehungsfristen betragen im Einzelnen: - im Zivilstandswesen 30 Tage (Art. 17 Abs. 4) - bei der Stiftungsaufsicht 30 Tage (Art. 20a Abs. 3) - beim Entzug und der Wiederherstellung der elterlichen Sorge 10 Tage (Art. 23a Abs. 1) - im Pflegekindwesen 30 Tage (Art. 26c Abs. 3) - bei Adoptionen 30 Tage (Art. 26e Abs. 1) - bei Massnahmen ohne Freiheitsentzug gemäss FFEG und für regierungstatthalterlich angeordnete Weisungen nach der Entlassung aus dem fürsorgerischen Freiheitsentzug 10 Tage (Art. 33 Abs. 3 FFEG i.v.m. Art. 23a Abs. 1) - für die übrigen Vormundschaftssachen 10 Tage (Art. 40b Abs. 3) - gegen die Rechnungspassation 30 Tage (Art. 51) - im Erbschaftswesen 30 Tage (Art. 74a) - bei der Aufsicht über die Grundbuchämter 30 Tage (Art. 124) - in Handelsregistersachen 30 Tage (Art. 165 Abs. 4 der eidgenössischen Handelsregisterverordnung) d) Kognition Entscheidet die Zivilkammer als zweite innerkantonale Rechtsmittelinstanz, kann mit der Weiterziehung die unrichtige Feststellung des Sachverhaltes sowie die unrichtige Rechtsanwendung gerügt werden (Art. 80 VRPG). Entscheidet die Zivilkammer als erste und einzige kantonale Rechtsmittelinstanz, kann auch Unangemessenheit gerügt werden (Art. 66 VRPG). e) Anfechtbarkeit von Zwischenverfügungen Zwischenverfügungen über den Ausstand und die Ablehnung sind selbständig anfechtbar. Sie können später nicht mehr angefochten werden (Art. 61 Abs. 2 VRPG). Andere Zwischenverfügungen sind selbständig anfechtbar, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 61 Abs. 3 VRPG). f) Aufschiebende Wirkung Im Bereich des Kindesschutzes sieht das ZGB ausdrücklich vor, dass die aufschiebende Wirkung von der anordnenden Behörde entzogen werden kann (Art. 314 Ziff. 2 ZGB). Auch im eigentlichen Vormundschaftsrecht kann für die Vormundschaftsbehörde (gleichermassen für die Aufsichtsbehörden) die Notwendigkeit
bestehen, sofort Anordnungen zu treffen. Eine vom kantonalen Recht vorgesehene aufschiebende Wirkung kann daher - beim Vorliegen wichtiger Gründe - entzogen werden (Art. 68 Abs. 2 VRPG). Wurde die aufschiebende Wirkung durch die Vorinstanz entzogen, können die Parteien die Wiederherstellung derselben verlangen. Der Instruktionsrichter kann die aufschiebende Wirkung auch von Amtes wegen aus wichtigen Gründen entziehen oder wiederherstellen (Art. 68 Abs. 4 VRPG). III. Zivilgericht als Vorinstanz a) Die Weiterziehung erstinstanzlicher Gerichtsentscheide richtet sich nach Art. 31 ff EG ZGB. Im Übrigen sind - soweit nachfolgend nichts Abweichendes geregelt wird - sinngemäss die Bestimmungen über die Berufung gemäss Art. 308 ff ZPO anwendbar. Wird einzig der Kostenpunkt angefochten, richtet sich das Verfahren sinngemäss nach den Bestimmungen zur Beschwerde (Art. 319 ff ZPO). Dasselbe gilt für die Anfechtung prozessleitender Verfügungen. b) Angesichts der Natur der Streitsache wird das Verfahren von der Offizialmaxime und vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht. c) Die Weiterziehung hat aufschiebende Wirkung, sofern die Zivilkammer nichts anderes verfügt. d) Die Regionalgerichte eröffnen ihre Entscheide nach den Bestimmungen der ZPO (Art. 238 ff ZPO). In der Rechtsmittelbelehrung wird auf die Zulässigkeit einer schriftlichen Begründung der Weiterziehung sowie auf die Konsequenzen im Falle des Unterlassens (keine Erstreckung der Rechtsmittelfrist) hingewiesen. Wird ein Entscheid ohne schriftliche Begründung eröffnet, ist diese nachzuliefern, wenn eine Partei dies innert zehn Tagen seit der Eröffnung des Entscheides verlangt. Wird keine Begründung verlangt, so gilt dies als Verzicht auf die Weiterziehung des Entscheides (Art. 239 Abs. 2 ZPO). Die Weiterziehungsfrist läuft ab der Zustellung des begründeten Entscheides beziehungsweise ab der nachträglichen Zustellung der Entscheidbegründung (Art. 311 Abs. 1 bzw. Art. 321 Abs. 1 ZPO). Die Zivilkammer kann auf Antrag oder von Amtes wegen eine Verhandlung durchführen oder aufgrund der Akten entscheiden. Sie stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest und trifft die geeignet erscheinenden Beweismassnahmen. IV. Kosten des Weiterziehungsverfahrens Handelt es sich bei der Vorinstanz um eine Verwaltungs- oder Verwaltungsjustizbehörde, richtet sich die Kostenpflicht nach VRPG (Art. 103 ff VRPG). In Entmündigungssachen ist Art. 37 EG ZGB einschlägig. Im Einzelnen gilt folgendes: - Der Gerichtskostenvorschuss: - Falls die Vormundschaftsbehörde ein Rechtsmittel einlegt, hat sie keinen Vorschuss zu leisten.
- Im Übrigen hat Vorschuss zu leisten, wer das Rechtsmittel einlegt (Art. 105 Abs. 2 VRPG, Art. 98 ZPO), unter Vorbehalt der unentgeltlichen Rechtspflege oder besonderer Umstände (Art. 105 Abs. 2 letzter Satz VRPG). Die Gerichts- und Parteikosten: Wenn die von der Anordnung betroffene Person die Weiterziehung einlegt und unterliegt: - trägt sie die Gerichtskosten, unter Vorbehalt der Bestimmungen der unentgeltlichen Rechtspflege oder besonderer Umstände (Art. 108 Abs. 1 in fine (VRPG). - trägt sie ihre eigenen Parteikosten, unter Vorbehalt der unentgeltlichen Rechtspflege; - kann die Drittperson, welche die Massnahme beantragt und sich am Weiterziehungsverfahren beteiligt hat, zum Ersatz der Parteikosten verurteilt werden (Zuspruch des Parteikostenersatzes nur mit grosser Zurückhaltung); - ist der Vormundschaftsbehörde kein Parteikostenersatz zuzusprechen. Wenn die von der Anordnung betroffene Person die Weiterziehung einlegt und obsiegt: - gehen die Gerichtskosten zu Lasten des Kantons und können der Vormundschaftsbehörde nur auferlegt werden, wenn diese mutwillig oder leichtfertig gehandelt hat. Vorbehalten bleibt die Kostenpflicht der antragstellenden Drittperson, falls sie im oberinstanzlichen Verfahren an ihren Begehren festhält. - werden ihr die Parteikosten vom Kanton ersetzt, nicht von der Vormundschaftsbehörde; - gehen die Parteikosten eventuell zu Lasten der antragstellenden Drittperson, welche die Massnahme beantragt hat. Wenn die Vormundschaftsbehörde die Weiterziehung einlegt und unterliegt: - gehen die Gerichtskosten zu Lasten des Kantons und können der Vormundschaftsbehörde nur auferlegt werden, wenn diese mutwillig oder leichtfertig gehandelt hat. - hat der Kanton der betroffenen Person die Parteikosten zu ersetzen. - hat die Vormundschaftsbehörde Parteikosten nur dann zu ersetzen, wenn sie mutwillig oder leichtfertig gehandelt hat. Wenn die Vormundschaftsbehörde die Weiterziehung einlegt und obsiegt - trägt die von der Anordnung betroffene Person die Gerichtskosten, unter Vorbehalt der Bestimmungen der unentgeltlichen Rechtspflege oder besonderer Umstände (Art. 108 Abs. 1 in fine VRPG). - hat die von der Anordnung betroffene Person ihre Parteikosten selber zu tragen, unter Vorbehalt der unentgeltlichen Rechtspflege; - sind der Vormundschaftsbehörde keine Parteikosten zu ersetzen; Wenn die beteiligte Drittperson die Weiterziehung einlegt, hat die unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen und der obsiegenden Partei die Parteikosten zu ersetzen. Vorbehalten bleiben die Bestimmungen der unentgeltlichen Prozessführung, besondere Umstände (Art. 108 Abs. 1 in fine VRPG) oder Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO (Verteilung nach Ermessen in familienrechtlichen Verfahren). V. Rechtsmittel gegen Beschlüsse der Vormundschaftsbehörden nach Art. 314a ZGB / Formlose Überweisung von den Zivilkammern an die Rekurskommission und umgekehrt.
a) Gegen Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde, ein Kind in eine Anstalt unterzubringen, kann Rekurs an die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehung erhoben werden (Art. 314a ZGB i.v.m. Art. 10 und 34 FFEG). Ist mit der Anstaltseinweisung durch die Vormundschaftsbehörde auch ein Obhutsentzug erfolgt, ist die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehung ebenfalls zuständig, um über die Aufhebung des Obhutsrechts zu befinden. Die Beschwerde an den Regierungsstatthalter ist in diesen Fällen ausgeschlossen. b) Wird gegen einen Entscheid des Regierungsstatthalters fälschlicherweise Rekurs an die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehung anstatt die Weiterziehung an die Zivilkammer erhoben, erfolgt eine formlose Überweisung der Akten von der Rekurskommission an die Zivilkammer zur weiteren gesetzlichen Folgegebung. Ist der Regierungsstatthalter fälschlicherweise auf eine Beschwerde gegen eine Verfügung der Vormundschaftsbehörde eingetreten und gelangt dessen Entscheid anschliessend mit Weiterziehung an die Zivilkammer, wird der Entscheid des Regierungsstatthalters durch diese kassiert und die ursprüngliche Beschwerde gegen die Vormundschaftsbehörde formlos an die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehung zur weiteren gesetzlichen Folgegebung weitergeleitet. Dieses Kreisschreiben tritt am 1. Januar 2011 in Kraft und ersetzt die bisherigen Kreisschreiben Nr. 6 und 23 vom 1. Mai 2006, welche hiermit aufgehoben werden.