DAS LEBEN NEU 99 ORGANISIEREN Früher oder später wird eine Demenzerkrankung den gewohnten Alltag aller Beteiligten verändern. Statt das Schicksal einfach auf sich zukommen zu lassen, sollten Sie versuchen, sich über die Situation, Ihre Gefühle und Wünsche Klarheit zu verschaffen und darauf Ihr Handeln aufzubauen. Dieses Kapitel soll Ihnen dabei helfen, bewusst zu entscheiden, wie Sie das Leben mit Demenz organisieren können, egal ob zu Hause oder in einer Pflegeeinrichtung. Die richtigen Entscheidungen treffen In den Anlaufstellen für Menschen mit Demenz und deren Angehörige machen die Beratungskräfte in vielen Gesprächen die Erfahrung, dass Konflikte und Belastungssituationen ihre Ursache darin haben, dass die meisten Menschen sich nicht bewusst entschieden haben, wie sie das Leben mit Demenz gestalten wollen. Ohne Alternativen und zukünftige Entwicklungen zu bedenken, hat sich die Situation einfach so ergeben. Beratung und Hilfe haben es dann schwer, festgelegte Strukturen und bestehende Konflikte zu lösen. Um dem vorzubeugen, sollten Kranke und Angehörige bereits im frühen Stadium miteinander beraten, wie sie sich die nächsten Jahre vorstellen. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch viele verschiedene Wege als Alternative für ein zufriedenstellendes Leben mit der Demenzkrankheit. Darüber hinaus sind dann auch die Kranken noch in der Lage, ihre Meinung zu verschiedenen Aspekten der Versorgung zu äußern. Allerdings ist eine solche Auseinandersetzung mit der Krankheit für alle Beteiligten ein schwieriger Prozess. Nicht jeder kann die Diagnose einer chronisch verlaufenden Demenz akzeptieren und daraus Mut für die Gestaltung der nächsten Jahre gewinnen.
100 Das Leben neu organisieren Manchmal ist es dann besser, diese Menschen bei ihrer Sicht der Dinge (etwa: Heute ist ein schlechter Tag ) zu belassen und sie dennoch so weit wie möglich in anstehende Entscheidungen mit einzubeziehen. Ein guter Anlass, um Weichen für die Zukunft zu stellen, sind die Tage und Wochen nach der Diagnose. Wenn bekannt ist, welche Krankheit hinter der Demenz steckt, lassen sich die voraussichtlichen Entwicklungen der nächsten Jahre sehr viel konkreter abschätzen. Am sinnvollsten ist es, einen Familienrat einzuberufen, an dem möglichst alle Familienmitglieder und eventuell auch andere nahestehende Personen teilnehmen. Als Vorbereitung sollten sich alle über die Krankheit, die damit vermutlich auftretenden Folgen und die daraus entstehenden Belastungen informieren. Jeder sollte für sich am besten im Vorfeld überlegen und klären, was er selbst zur Lösung der Situation beitragen kann. Dabei sollte jeder nur für sich selbst sprechen. Von vornherein lediglich Vor- CHECKLISTE für Entscheidungen von Demenzkranken Wie erlebe ich die derzeitige Situation? Weiß ich alles über meine Krankheit, was ich wissen will? Was möchte ich wissen? Wo möchte ich leben, solange ich mit Hilfe mein Alltagsleben meistern kann? Wo möchte ich leben, wenn ich nicht mehr alleine für mich sorgen kann? Wem vertraue ich so weit, dass derjenige Entscheidungen zu meinen Finanzen, meinem Aufenthaltsort und meiner medizinischen Behandlung treffen kann? Von wem möchte ich mir helfen lassen, wenn ich meinen Alltag nicht mehr alleine meistern kann? Wen wünsche ich mir bei intimen Hilfen wie Körperpflege und Toilettengang? Kann ich mir einen Umzug vorstellen? Wohin? Was möchte ich meinen Angehörigen nicht zumuten? Was war mir in meinem Leben immer besonders wichtig und wird es vermutlich auch in der Zukunft bleiben? Was möchte ich auf jeden Fall noch erledigen oder unternehmen, solange sich die Krankheit im Anfangsstadium befindet?
Die richtigen Entscheidungen treffen 101 schläge im Kopf zu haben, die vor allem Anforderungen an andere stellen, kann nur wenig zu einem konstruktiven Gespräch beitragen. Nicht nur die Angehörigen, auch die Kranken sollten ihre Vorstellungen zur Bewältigung des Lebens mit der Krankheit formulieren. Sofern noch nicht geschehen, können sie diese Wünsche schriftlich in vorsorgenden Verfügungen festhalten (siehe Vorsorgevollmacht, Seite 285). Im Gespräch selbst sollte jeder Teilnehmer die Gelegenheit haben, seine Sicht ungestört vortragen zu können. Oft sind die Beteiligten überrascht, welche Möglichkeiten sich in der Gesamtschau zeigen. CHECKLISTE für Entscheidungen von Angehörigen Wie erlebe ich die derzeitige Situation? Wie ist mein persönliches Verhältnis zu dem Kranken? Wie viel Zeit habe ich täglich/wöchentlich/jährlich zur Verfügung, um mich um den Kranken zu kümmern? Bin ich bereit, meinen Beruf aufzugeben oder meine Arbeitszeit zu reduzieren, um den Kranken zu betreuen? Kann ich es mir finanziell leisten, meinen Beruf aufzugeben oder weniger zu arbeiten? Bin ich bereit, meine Pläne für die Zukunft zu ändern, damit ich den Kranken betreuen kann? Kann ich es mir vorstellen, mit dem Kranken in einer Wohnung zu leben? Ist meine Wohnung oder die des Kranken dafür geeignet? Wie weit entfernt lebe ich vom Kranken? Welche Möglichkeiten sehe ich, trotz der Entfernung einen Beitrag zur Versorgung des Kranken zu leisten? Kommt für mich ein Umzug infrage? Kann ich mir vorstellen, dem Kranken bei der Intimpflege zu helfen? Welche Unterstützung durch Außenstehende oder professionelle Dienstleister kommt für mich infrage? Aus welchen Gründen kann ich mir die Begleitung und Pflege vorstellen? Warum lehne ich die Begleitung und Pflege ab?
102 Das Leben neu organisieren Wenn alle Vorstellungen und Wünsche bekannt sind, sollte ein verbindlicher Plan verabredet werden, wer für welche Aufgaben in der nächsten Zeit zuständig ist. Häufig ist es so, dass ein Angehöriger die Hauptlast der Verantwortung tragen wird. Dies ist eine schwere Aufgabe, die Respekt und Unterstützung verdient. Daher sollten die anderen überlegen, wie sie diese Person entlasten können. Sie können zum Beispiel den Schriftverkehr mit der Kranken- und Pflegekasse übernehmen, regelmäßige Besuche vereinbaren, um der Pflegeperson während dieser Zeit Freiräume zu ermöglichen, oder zeitweise die Hauptverantwortung für die Pflege tragen, wenn die Pflegeperson im Urlaub ist. Für alle Diskussionsbeiträge gilt: Jede Entscheidung verdient Anerkennung und wird ernst genommen. Sollte es den Teilnehmern allein nicht möglich sein, konstruktiv miteinander zu sprechen, beispielsweise weil es schon vorher Konflikte gab, kann eine außenstehende Person das Gespräch moderieren. Diesen Service bieten einige Beratungsstellen an (siehe Beratungsstellen, Seite 231). Die Krankheit wird voraussichtlich über eine lange Zeitspanne hinweg verlaufen, und Hilfebedarf und Hilfekonstellationen werden sich verändern. Einmal getroffene Entscheidungen müssen nicht für die gesamte Zeit Bestand haben. Vielmehr lohnt es sich, immer wieder einmal innezuhalten, die Eindrücke zur Versorgungslage des Kranken und die Gefühle und Wünsche aller Beteiligten zu überdenken. Solche Pläne gehen leicht im Alltag unter. Da hilft es, beispielsweise bestimmte Zeitabstände für die Treffen des Familienrates zu verabreden oder bestimmte Situationen, in denen eine neue Entscheidung fällig wird, festzulegen. Motive für die Übernahme der Pflege erkennen Wer pflegende Personen fragt, warum sie sich um ihren Angehörigen kümmern und dabei nicht selten ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellen, bekommt häufig die Antwort: Das ist doch selbstverständlich. Um mögliche Konflikte frühzeitig zu erkennen oder gar nicht entstehen zu lassen, lohnt der Blick hinter diese Selbstverständlichkeit. Die Beweggründe für die Pflege sind nämlich durchaus unterschiedlich und bergen Chancen und Gefahren. Die hier beschriebenen Motive können nur einen Eindruck der möglichen Bandbreite vermitteln. Im individuellen Fall kann es weitere Gründe oder eine Mischung mehrerer Motive geben.