Wahlumfragen und ihr angeblicher Einfluss auf das Wahlverhalten 1

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Transkript:

Andreas Kolbe Wahlumfragen und ihr angeblicher Einfluss auf das Wahlverhalten 1 Keine anderen politischen Ereignisse als Wahlen finden in der medialen Berichterstattung eine derart hohe Resonanz. Ein zentraler Bestandteil der Berichterstattung sind Wahlumfragen: Langzeituntersuchungen, die sich mit der Berichterstattung über Wahlumfragen befassen, verzeichnen eine kontinuierliche Zunahme an Artikeln, die auf Umfrageergebnissen beruhen (Raupp, 2003: 119). Begleitet wird dieser Umstand durch eine zunehmend breiter werdende Diskussion über mögliche Einflüsse von Wahlumfragen auf das Wahlverhalten. Debatten darüber führen nicht nur Wahlforscher und Kommunikationswissenschaftler, sondern auch Journalisten und insbesondere Politiker. Auseinandersetzungen mit diesem Thema finden meist anlässlich von Wahlkämpfen statt oder sind Bestandteile von deren Analyse. Folglich existiert eine hohe Anzahl von Beiträgen zu diesem Untersuchungsgegenstand. Die Beiträge sind jedoch nur in geringem Maße systematisiert. Ziel dieses Aufsatzes ist es, den derzeitigen Forschungsstand zum Themengebiet herauszuarbeiten und zusammenzufassen. Andererseits soll gezeigt werden, dass der Einfluss von Wahlumfragen auf das Wahlverhalten überschätzt wird. Dieser Aufsatz basiert auf der Annahme, dass Defizite im Bereich der Wahlforschung eine unangemessen starke Diskussion über Einflussvermutungen durch Wahlumfragen zulassen. Zunächst jedoch zu einigen Begrifflichkeiten um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen. 1 Dieser Aufsatz setzt sich aus Bestandteilen der Diplomarbeit Haben Wahlumfragen Einfluss auf das Wahlverhalten? zusammen. Ziel ist es darin, den Literatur- und Wissensstand zu diesem Untersuchungsgegenstand zusammenzufassen und zu bewerten. 1

1. Begriffsklärungen Die Termini Umfrageforschung, Wahlforschung, Marktforschung, Meinungsforschung, Prognose, Survey Research und Poll werden im allgemeinen Sprachgebrauch teilweise synonym füreinander verwandt. Bei genauer Betrachtung erwachsen zwischen ihnen Differenzen. Dennoch sind sie, zumindest im deutschsprachigen Raum, unter dem Sammelbegriff Demoskopie vereint. Im vorliegenden Aufsatz wird aus Gründen der Übersichtlichkeit jeweils zwischen Umfrageforschung, Meinungsforschung und Wahlforschung unterschieden; Demoskopie wird fast ausschließlich in Zitaten verwendet. 1.1 Demoskopie Demoskopie steht auch für einen breit gefächerten Forschungszweig. An den Umsatzzahlen der Institute lässt sich ablesen, dass es sich zudem um einen ständig wachsenden Wirtschaftszweig handelt (Lianos, 2003: 20). Kreiert wurde Demoskopie im Jahr 1946 von dem amerikanischen Soziologien Stuart C. Dodd aus den Begriffen demos (Volk) und skopein (betrachten) (Gallus/Lühe, 1998: 7). Oft wird Demoskopie fälschlicherweise mit Meinungsforschung übersetzt, nicht zuletzt auf den Informationsseiten der Bundeszentrale für politische Bildung. 2 Der Begriff Demoskopie konsolidierte sich vor allem in der Soziologie und in der empirischen Sozialforschung des deutschsprachigen Raumes, zwar keineswegs unumstritten, aber dafür weitgehend akzeptiert. Die Geschäftsführer der großen Meinungsforschungsinstitute werden gemeinhin als Demoskopen bezeichnet, mit Ausnahme von forsa-chef Manfred Güllner, der diese Bezeichnung ablehnt. 3 Schmidtchen schrieb im Jahr 1959: Die Sozialwissenschaften befinden 2 Vgl. http://www.bpb.de/popup_lemmata.html?guid=skdpew, Zugriff am 03.06.2004, 14.00Uhr. 3 Kolbe (2004): Interview mit Prof. Güllner. 2

sich in einem Zustand der empirischen Revolution (Schmidtchen, 1959: 9). Gemeint sind der technologische Fortschritt und sein Einfluss auf die Methoden der empirischen Sozialforschung. Das telefonische Interview entwickelte sich zur am häufigsten genutzten Methode der Datenerhebung. Mit zunehmendem Einsatz stiegen sowohl die Nachfrage nach Umfragezahlen wie auch die Kritik daran. 1.2 Meinungsumfragen Meinungsumfragen werden am häufigsten in der Produkt-, Markt- und Konsumforschung eingesetzt. So unterschiedlich die Studienthemen auch sein mögen, gemeinsam ist fast allen, dass die Fragebögen am Ende standarddemographische Fragen enthalten, in denen meist auch die Wahlabsicht abgefragt wird, dabei spricht man von der so genannten Sonntagsfrage: Wenn schon am nächsten Sonntag Wahlen wären, welche Partei würden sie dann wählen? (Gallus/Lühe,1998: 128) Die Antwort auf diese Frage ist aber nicht zwangsläufig eine Meinung. In der Umfrageforschung lassen sich Fragen nach Fakten, Verhalten, Meinungen und Motiven kategorisieren. Die Frage nach der Wahlabsicht ist eine Verhaltensfrage. In diesem Aufsatz geht es also nicht generell um Meinungsumfragen sondern um Wahlumfragen. 1.3 Wahlumfragen und Wahlprognosen Die in Wahlumfragen erhobenen Daten werden von den Instituten in geheim gehaltene Formeln eingesetzt, um ein Abbild der Verteilung in der Bevölkerung nachzuzeichnen. Eine dieser Methoden ist die Tri*M-Analyse von NFO infratest-dimap: Measuring, Managing, Monitoring. 4 Wahlprognosen müssen sich stärker als Wahlumfragen am tatsächlichen 4 Diese Methode soll Aussagen über den Grad der Bindung des Wählers an die Partei ermöglichen, ermittelt wird sie durch die Gesamtbewertung der Partei, die Bereitschaft, eine Partei wieder zu wählen, die Bereitschaft, die Partei an Dritte weiterzuempfehlen, die Einschätzung der Bedeutung der Partei in der Parteienlandschaft und die Verbundenheit. Darauf folgt eine Ist-Soll-Analyse mit 40 bis 60 Faktoren (u. a. Erscheinungsbild, programmatische Aspekte). Auf die Methode soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, es sollte nur veranschaulicht werden, welchen Umfang eine solche Analyse besitzt, mit der die Prognosen erstellt werden. 3

Ergebnis messen lassen. Mittlerweile sind die Methoden und die mathematischen Verrechnungsverfahren in der empirischen Sozialforschung so weit präzisiert, dass die Prognosen genauere Zahlen liefern als Wahlumfragen und dem tatsächlichen Endergebnis näher kommen. Bestimmte Fehler von Wahlumfragen lassen sich aber nie ausschließen. Radtke nennt die vier wichtigsten: Zufallsfehler, Indikatorenfehler, Zeitfehler, erhebungstechnische Fehler (Radtke, 1977: 674). Kritik an der Publikation von Wahlumfragen entsteht oft daraus, dass diese potenziellen Fehler in veröffentlichten Ergebnissen zumeist nicht erwähnt werden. Ihrem Namen gerecht werdende Wahlprognosen sind auf Grundlage von Exit Polls erstellt worden. Hin und wieder findet sich die Bezeichnung Wahlprognose unkorrekterweise als Synonym für Wahlumfragen. Die hier verwendete Bezeichnung Wahlumfragen zielt fast ausschließlich auf veröffentliche Wahlumfragen ab. Ist dagegen der Vorgang während der Datenerhebung selbst gemeint, so wird im Text darauf verwiesen. 1.4 Exit Polls An Wahlsonntagen warten die politisch Interessierten mit Spannung auf die ersten Wahlprognosen, die nach Schließung der Wahllokale in den Medien veröffentlicht werden. Im Unterschied zu anderen Wahlumfragen basieren diese Zahlen auf Erhebungen, die am Wahltag vor ausgesuchten Wahllokalen durchgeführt werden. Dabei werden Wahlberechtigte direkt nach dem Wahlakt zu ihrer Wahlentscheidung befragt. Die Exit Polls liefern die Grundlage für die 18.00-Uhr-Prognosen. Dies sind meist sehr genaue Ergebnisse, die dem tatsächlichen Wahlergebnis nach Auszählung aller Stimmen beachtlich nahe kommen. 5 Das ist zum einen darin begründet, dass die Befragten genau wissen, was sie gerade gewählt haben; zum anderen wirkt sich auch der Umstand auf das Ergebnis aus, dass nur Wähler befragt werden, die tatsächlich von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht haben. Exit Polls dürfen nicht mit Hochrechnungen verwechselt 5 Zu den Vorteilen von Exit Polls für die Wahlforschung: Falter/ Schumann, 1989. 4

werden. Letztere basieren auf Zwischenergebnissen, die auf der Auszählung der tatsächlich abgegebenen Stimmen beruhen. Ein Einfluss von den Exit Poll- Ergebnissen auf das Wahlverhalten ist in der Bundesrepublik Deutschland auszuschließen. 1.5 Einfluss Da Einfluss im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht, ist es notwendig, den Begriff zu präzisieren. Schmitt-Beck definiert Einfluss in seinem Buch Politische Kommunikation und Wählerverhalten. Ein internationaler Vergleich : Dabei wird Persuasion als Vorgang der erfolgreichen Überzeugung eines Empfängers durch einen Sender gekennzeichnet. ( ) Das bedeutet, dass von Einfluss nur dann gesprochen wird, wenn a) ein Sender Informationen mit dem Ziel vermittelt, den Empfänger zu überzeugen, und b) diese Informationen dem Empfänger Gründe geben, seine Orientierung tatsächlich zu modifizieren, und zwar c) in dem vom Sender beabsichtigten Sinne. Fälle von Einstellungs- oder Verhaltensmodifikationen durch Informationen, die nicht von einem Sender mit der Absicht der Überredung vermittelt wurden oder die Modifikationen in einer anderen als der vom Sender intendierten Richtung hervorrufen, fallen also aus dem Begriffsumfang dieser Definition heraus (Schmitt-Beck, 2000: 42). Der in der vorliegenden Untersuchung verwendete Begriff Einfluss beinhaltet im Gegensatz zu Schmitt-Becks Definition auch die von ihm zuletzt genannte, aber für seine Untersuchung ausgeschlossene Option. Auch wenn keine Verhaltensmodifikation durch den Sender beabsichtigt wird, kann das Verhalten modifiziert werden. Einfluss steht also für eine Verhaltensmodifikation durch die Rezeption von Information. Dies bedeutet konkret auf die zentrale Fragestellung bezogen, dass sich die Wahlbeteiligung oder die Stimmabgabe auf Grundlage von Informationen über den möglichen Wahlausgang ändert. Es wird entweder nicht gewählt oder gerade deswegen gewählt, beziehungsweise es wird eine andere Partei gewählt als ursprünglich beabsichtigt. 5

Weiter geht die Untersuchung davon aus, dass unter Einfluss auch das sich in seiner Meinung bestärkt fühlen verstanden werden kann. Danach fühlt sich der Wähler durch die Kenntnisnahme von Wahlumfragen in seiner ohnehin vorhandenen Wahlabsicht bestätigt. 1.6 Effekt Effekte von Meinungsumfragen sind im Feld der Medienwirkungsforschung und der Einstellungsforschung anzusiedeln (Hardmeier/Roth, 2003: 176). Hardmeier und Roth differenzieren indirekte und direkte Effekte. Effekte von Meinungsumfragen sind dabei eher dem Bereich der indirekten Effekte zuzuordnen. Effekt definiert sich als Ergebnis eines Einflusses, er beschreibt eine Verhaltensmodifikation. Effekte können folglich Wahlenthaltung, Wahlteilnahme, veränderte Stimmenabgabe, geteilte Stimmenabgabe und eine bestärkende Bestätigung der ursprünglichen Wahlabsicht sein. 2. Diskutierte Effekte von Wahlumfragen auf das Wahlverhalten Die Betrachtung vermuteter Einflüsse veröffentlichter Wahlumfragen auf das Wahlverhalten erfolgt differenziert nach Effekten auf die Wahlbeteiligung und nach Effekten auf die Wahlentscheidung. Während der Mobilisierungseffekt, der Defätismuseffekt, der Lethargieeffekt und der Resignationseffekt das Wahlverhalten betreffen, berühren der Bandwagoneffekt, der Underdogeffekt, der Fallbeileffekt und der Leihstimmeneffekt die Wahlentscheidung. 2.3 Diskutierte Effekte auf die Wahlbeteiligung Vermutungen über die Wirkung von Wahlumfragen auf die Wahlbeteiligung besagen, dass durch veröffentlichte Wahlumfragen die Wahlbeteiligung steigt oder sinkt. In diesem Aufsatz werden zu den Effekten jeweils Beispiele angeführt, die eine Möglichkeit der Interpretation bieten und keine Gültigkeit beanspruchen. Da kein Fall eines nachgewiesenen 6

Effekts vorhanden ist, werden meist Beispiele angeführt, die nach der jeweiligen Interpretation die Vermutung zulassen, dass es den jeweiligen Effekt nicht gibt. Vorwiegend werden Wahlen aus den letzten 15 Jahren herangezogen, weil für diesen Zeitraum die Wahrnehmung von Umfragen als Voraussetzung für einen Einfluss belegt ist. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf Bundestagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland. 2.3.1 Mobilisierungseffekt Der Mobilisierungseffekt geht davon aus, dass bei knappem Wahlausgang die Anhänger aller konkurrierenden Parteien mobilisiert werden, einerseits dazu, selbst wählen zu gehen, andererseits um unentschlossene Wahlberechtigte von ihrer jeweiligen Parteipräferenz zu überzeugen, damit auch sie wählen. Die Wahlbeteiligung steigt. Nach dieser Wirkungsvermutung wird der Antrieb, wählen zu gehen, durch das Gefühl gestärkt, dass der eigenen Stimme eine hohe Bedeutung zukommt, sie ist nach subjektivem Empfinden vielleicht sogar ausschlaggebend. Begünstigt werden dadurch alle, die stärkeren sowie die schwächeren Parteien. Einen signifikanten Nachweis dieses Effekts sucht man vergebens. Der Mobilisierungseffekt bleibt Wirkungshypothese statt Erklärungsmodell für Wahlverhalten. Eine Möglichkeit, nach diesem Effekt zu suchen, besteht darin, die vor der Wahl veröffentlichten Wahlumfragen mit dem Wahlergebnis zu vergleichen und das Hauptaugenmerk dabei auf die Wahlbeteiligung zu richten. Noch nie zuvor schien in der Bundesrepublik Deutschland eine Bundestagswahl so knapp auszugehen wie die im Jahr 2002. Es liegt daher nahe, diese Wahl zu betrachten. In Tabelle 1 sind die vor der Wahl zuletzt veröffentlichten Wahlumfragen der Institute prozentual dem tatsächlichen Wahlergebnis tabellarisch gegenübergestellt. Der Zeitpunkt der 7

Veröffentlichung (VÖ) wird in Klammern angegeben. Die sonstigen Parteien werden im Rahmen dieser Untersuchung nicht beachtet. Tabelle IV: Zahlen zur deutschen Bundestagswahl 2002 6 CDU/CSU SPD Bündnis 90/Die Grünen FDP PDS Allensbach VÖ 20.09.2002 Emnid VÖ 14.09.2002 forsa VÖ 20.09.2002 FGW 7 VÖ 13.09.2002 GMS 8 VÖ 28.08.2002 infratest-dimap VÖ13.09.2002 37,0 37,5 7,5 9,5 4,5 37,0 39,0 7,0 8,0 5,0 37,0 38,0 37,5 38,5 6,5 7,5 7,0 8,0 4,0 4,5 37,0 40,0 7,5 4,5 4,0 39,6 36,0 7,0 9,0 5,0 36,0 38,5 8,0 8,5 4,7 Durchschnitt 37,35 38,1 7,3 7,83 4,5 Amtliches Endergebnis 38,5 38,5 8,6 7,4 4,0 Mit einem durchschnittlichen Umfragewert von 37,35 Prozent wurden die Unionsparteien insgesamt stärker unterschätzt als die SPD, die in den Umfragen durchschnittlich 38,1 Prozent erhielt. Bündnis 90/Die Grünen wurden im Durchschnitt um 1,3 Prozent relativ stark unterschätzt, der FDP und der PDS wurden in den Umfragen jeweils etwa 0,5 Prozent mehr zugetraut. Diese Zahlen sprechen so weit für einen Mobilisierungseffekt, da beide Großparteien und Bündnis 90/Die Grünen bei der Bundestagswahl ihren Stimmenanteil vergrößern konnten. Charakterisiert wird der Mobilisierungseffekt durch eine hohe Wahlbeteiligung. Sie lag bei der Bundestagswahl 2002 bei 79,1 Prozent. Dies entspricht zwar durchaus einer hohen Wahlbeteiligung, allerdings liegt die 6 www.wahlumfragen.de, Zugriff am 16.06.2004, 10.00 Uhr. 7 Forschungsgruppe Wahlen. 8 Gesellschaft für Markt- und Meinungsforschung. 8

durchschnittliche Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland bei etwa 82 Prozent. 9 Hätte der Mobilisierungseffekt seine vermutete Wirkung entfaltet, so hätte die Wahlbeteiligung im Vergleich zur Bundestagswahl 1998 ansteigen müssen. Im Gegenteil sank sie jedoch im Vergleich zu 1998 um 3,1 Prozent, 10 obwohl in den Tagen vor der Bundestagswahl 1998 in den Wahlumfragen ein deutlicher Trend zu einer rot-grünen Mehrheit zu erkennen war. Zahlen zur deutschen Bundestagswahl am 30.09.1998 11 CDU/CSU SPD Bündnis 90/ Die Grünen FDP PDS Allensbach VÖ 26.09.1998 Emnid VÖ 25.09.1998 forsa VÖ 29.09.1998 FGW VÖ 18.09.1998 infratest-dimap VÖ 26.09.1998 36,0 40,5 6,0 6,5 5,0 39,0 40,0 7,0 5,0 4,0 38,0 42,0 6,0 4,0 5,0 37,5 39,5 6,0 5,5 4,5 38,0 40,0 7,0 6,0 5,0 Durchschnitt 37,7 40,4 6,4 5,4 4,7 Amtliches Endergebnis 35,1 40,9 6,7 6,2 5,1 Die Erkenntnis von Kirchgässner aus dem Jahre 1986 ist damit widerlegt: Wir wissen bisher lediglich, daß bei einem erwarteten knappen Wahlausgang die Wahlbeteiligung deutlich höher liegt, als wenn ein klarer Vorsprung für die eine oder andere Seite erwartet wird (Kirchgässner, 1986: 232). 9 Vgl. Bundeswahlleiter: http://www.bundeswahlleiter.de/wahlen/ergebl.htm., Zugriff am 14.06.2004, 14.10 Uhr. 10 1998 lag die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl bei 82,2 Prozent. Vgl. Bundeswahlleiter: http://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahl2002/deutsch/ergebnis2002/ergebgrafik/ht ml/wb_999.htm., Zugriff am 14.06.2004, 14.15 Uhr. 11 www.wahlumfragen.de, Zugriff am 16.06.2004, 10.00 Uhr 9

Die vorliegenden Zahlen lassen die Interpretation zu, dass eine sinkende Wahlbeteiligung bei einem vermutlich engen Wahlausgang gegen einen Mobilisierungseffekt spricht. Es ist nicht auszuschließen, dass die Wahlbeteiligung noch geringer gewesen wäre, hätten die Institute andere Umfragezahlen veröffentlicht, aber eine derartige Vermutung lässt sich im Nachhinein nicht überprüfen. Um einen Mobilisierungseffekt nachzuweisen, muss in den Wahlbefragungen vor der Wahl nicht nur regelmäßig die Wahlabsicht abgefragt, sondern auch auf lange Sicht gemessen werden, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Befragte an der Wahl teilnimmt. Dies könnte dauerhafter Bestandteil von Meinungs- und Politik-Trackings werden, wie forsa sie an jedem Werktag in der Bundesrepublik Deutschland durchführt (Güllner, 2002: 24). Laut forsa-chef Güllner sind die Vorteile dieser Tracking-Methode: eine differenzierte, zeitnahe Erfassung der Entwicklung der öffentlichen Meinung, Differenzierungsmöglichkeiten dieser Entwicklungen nach Regionen und einzelnen soziodemographischen Gruppen sowie durch Kumulierung entsprechender Datensätze die Analyse kleiner Gruppen (Güllner, 2000: 568). Traugott benennt die Vorteile für weitere Gruppen, die im Wahlkampf involviert sind: Tracking polls are important because they can provide content for news stories and campaign tacticians about how potential voters are responding to various campaign events (Traugott, 2001: 398). Eine kontinuierliche Messung der Absicht, wählen zu gehen, ist für einen zulässigen Nachweis des Mobilisierungseffekts unabdingbar. Anzumerken ist, dass die genauesten Ergebnisse mit einem Panel ermittelt werden könnten. Ein solches Panel erfordert jedoch nicht nur eine hohe Fallzahl von Befragten, sondern auch kurze Zeitintervalle. Die Durchführung gestaltet sich dadurch teuer und belastet die Befragten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Antworten routiniert ausfallen, ist vermutlich recht hoch, da von den Untersuchungsteilnehmern das nötige Verständnis für den Untersuchungsgegenstand nicht erwartet beziehungsweise nicht vorausgesetzt werden kann. Das Politik- 10

Tracking ist folglich die bessere Methode, um Trends in der Wahlbeteiligung zu messen. 2.3.2 Resignationseffekt Unter der Annahme, dass der Wahlausgang bereits feststeht, gehen unentschiedene Wähler nicht zur Wahl, weil ihre Stimme nach subjektivem Empfinden kein Gewicht besitzt. Der Effekt ist, dass die Wahlbeteiligung sinkt. Der Resignationseffekt konnte bisher empirisch nicht signifikant nachgewiesen werden. Es ist zudem fraglich, ob eine niedrige Wahlbeteiligung monokausal über den Einfluss von erklärt werden kann. Zwei Bundestagswahlen, bei denen die Wahlbeteiligung als unterdurchschnittlich einzustufen ist, sollen im Folgenden dieses Problem verdeutlichen. Es handelt sich um die Bundestagswahlen in den Jahren 1990 und 2002. Die Bundestagswahl im Jahr 1990 stand unter dem Zeichen der Beitrittsvereinigung. Die Wahlbeteiligung lag bei 77,8 Prozent und markiert damit den bisherigen Tiefpunkt der Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht lag es daran, dass viele Wähler meinten, ihre Stimme ändere am Wahlergebnis ohnehin nichts. Daneben sind aber auch andere Faktoren denkbar, die die Wähler davon abgehalten haben könnten, bei der ersten gesamtdeutschen Wahl ihre Stimme abzugeben. Faktoren wie Zukunftsängste oder Ohnmachtsgefühle, den gesellschaftlichen Wandlungsprozess nicht aufhalten oder nicht ändern zu können oder auch nicht ändern zu wollen, können dazu beigetragen haben. Aufgrund der besonderen Umstände der Wahl kann über die Stärke der Faktoren nur spekuliert werden, zum Beispiel ist eine grundsätzliche Form von Resignation vorstellbar. 11

Tabelle: Zahlen zur deutschen Bundestagswahl 1990 12 CDU/CSU SPD Bündnis 90/Die Grünen FDP PDS Allensbach VÖ 01.12.1990 Emnid VÖ keine Angabe forsa VÖ 01.12.1994 42,5 34,5 8,5 10,0 2,5 44,0 33,0 6,0 11,0 2,0 45,5 34,0 6,0 9,0 2,5 Durchschnitt 44,0 33,8 6,8 10,0 2,3 Amtliches Endergebnis 43,8 33,5 5,1 11,0 2,4 Die Parteientscheidung ist somit eine bewußte Entscheidung über zukünftige politische Richtungen. Bezogen auf die Vereinigungsfrage bedeutet dies, daß ein rationaler Wähler für die Partei stimmt, deren Vereinigungspolitik ihm am meisten gefällt (oder am wenigsten mißfällt). (Norpoth, 1995: 70). Wenn der Wähler zum zentralen Thema Vereinigungsfrage keine Meinung hat oder es sich selbst aufgrund unzureichenden Wissens nicht zutraut, eine klare Meinung zu bilden, so resigniert er vor dem Thema und wählt als einfachsten Ausweg keine Partei. Laut Norpoth herrscht eine enge Beziehung zwischen den Meinungen zur Vereinigungspolitik und den Wahlabsichten in der Mai/Juni-Befragung. (Norpoth, 1995: 71). Das Verhalten beschreibt einen Resignationseffekt, der aber nicht identisch mit dem in der Untersuchung definierten Resignationseffekt ist. Natürlich ist eine Wahlbeteiligung von 77,8 Prozent keine geringe Wahlbeteiligung, dennoch gab es für viele Wahlberechtigte offenbar Gründe, nicht zur Wahl zu gehen. Ob dies jedoch am Einfluss von Meinungsumfragen lag, ist angesichts der besonderen Umstände der Wahl fraglich. 12 Konrad, 2002: 3. 12

Wie oben bereits erwähnt, war bei der Bundestagswahl 2002 die Wahlbeteiligung für bundesdeutsche Verhältnisse mit 79,1 Prozent unterdurchschnittlich, obwohl der Wahlausgang keineswegs feststand. Existiert ein Resignationseffekt, so hätte die Wahlbeteiligung im Umkehrschluss deutlich höher ausfallen müssen, als bei der Bundestagswahl 1998, da bei der Wahl 2002 der Ausgang im Vergleich zur Vorwahl noch ungewisser erschien. Trotz unvorhersehbarem Ergebnis aber sank die Wahlbeteiligung. Dahinter könnte ein bisher unbekannter und unbenannter Effekt stehen, bei dem mit vermutet knappem Ergebnis die Wahlbeteiligung sinkt, weil die Unentschiedenen dadurch verunsichert werden. Sie könnten Angst haben, auf der Verliererseite zu stehen oder aber auch Angst oder Unsicherheit verspüren, mit ihrer Stimme einen gewichtigen Beitrag dafür zu leisten, dass eine Regierung ins Amt kommt oder im Amt bleibt. Dieses Verhalten könnte den Namen Zurückhaltungseffekt tragen. Eine andere Interpretation zu diesem Wahlverhalten schildert Güllner. Er schätzt die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2002 angesichts eines generell sinkenden Trends als relativ hoch ein (Kolbe: Interview mit Manfred Güllner). Zudem erscheint es fragwürdig, zu vermuten, dass Wähler, die kurz vor der Wahl noch unentschieden sind, welcher Partei sie ihre Stimme anvertrauen, eher diejenigen Wähler sind, die letztlich von ihrem Stimmrecht keinen Gebrauch machen. Gerade Unentschiedene können Wähler mit hohem politischem Interesse sein, die aufgrund ihres hohen Wissensstandes eine Entscheidung treffen müssen und sich darin schwer tun. Während man den Mobilisierungseffekt, wie oben vorgeschlagen, mit einem Politik-Tracking nachweisen könnte, gestaltet sich die Überprüfung des Resignationseffekts schon schwieriger. Zuerst muss der Begriff Resignation konkreter definiert werden. Resignation vor dem vermutlichen Wahlergebnis muss von Resignation über die politischen Verhältnisse im Allgemeinen getrennt erfasst werden, wenn über Motive der Nicht-Wahlteilnahme geforscht wird. Im Anschluss sollten die soziodemographischen 13

Merkmale der Nicht-Wähler fokussiert werden. Zu vermuten ist, dass es durch diese Trennung zwei Gruppen von Resignierten gibt. Auf der einen Seite stehen die politisch Interessierten, auf der anderen Seite die politisch Uninteressierten und Resignierten. Die politisch uninteressierten, resignierten Wahlberechtigten, die von ihrem Stimmrecht unabhängig von Wahlumfragen keinen Gebrauch machen würden beziehungsweise nie wählen gehen, dürfen bei einer Untersuchung des hier benannten Resignationseffektes nicht berücksichtigt werden. Das Verhalten der Gruppe besitzt keinen Erklärungsgehalt, da es sich eben nicht ändert. Interessanter erscheint in diesem Kontext die Gruppe der Wähler, die unregelmäßig an Wahlen teilnehmen. Es gilt die Gründe zu erforschen, die dazu führen, dass sie der einen Wahl fern bleiben und an der anderen Wahl teilnehmen. Die Wahlforschung widmet sich mit den sozialstrukturellen, sozialpsychologischen und rationalen Erklärungsmodellen stark dem Wählertyp, der an jeder Wahl teilnimmt. Auf der anderen Seite betrachtet sie Nicht-Wähler. Wozu zählt aber der Wähler, der kontinuierlich für die gleiche Partei votiert, der aber nur in unregelmäßigen Abständen an Wahlen teilnimmt? Auf diese Frage gibt der derzeitige Forschungsstand hinsichtlich des Resignationseffekts keine ausreichende Antwort. Bevor sie nicht beantwortet ist, ist auch die Frage nach einem Einfluss durch den Resignationseffekt nicht zu klären. Monokausale Erklärungen oder Vermutungen führen zu keinen beziehungsweise zu falschen Schlüssen. 2.3.3 Lethargieeffekt Der Lethargieeffekt besagt, dass die Anhänger des vermutlichen Wahlgewinners aus Gründen der Trägheit nicht zur Wahl gehen, weil der Sieger ohnehin festzustehen scheint. Die Wahlbeteiligung sinkt dadurch, die begünstigte Partei ist die in den Umfragen schwächer erscheinende Partei. Die Vertreter des Lethargieeffekts sind einen signifikanten Beweis seiner Existenz schuldig geblieben. Wenn der Effekt wirken sollte, dann ist er bei 14

Wahlen zu suchen, bei denen einerseits die Wahlbeteiligung unterdurchschnittlich war und andererseits eine Partei oder eine Parteienkoalition in den Wahlumfragen als Sieger taxiert wurde. Die Bundestagswahl 1990 zeichnete sich durch eine für deutsche Verhältnisse geringe Wahlbeteiligung von 77,8 Prozent aus. Da aber die Unionsparteien den erwarteten Sieg davontrugen, und das noch stärker als erwartet, verbietet es sich, von einem Lethargieeffekt zu sprechen. Ein weiteres Beispiel ist die Bundestagswahl 1994, bei der die Wahlbeteiligung mit 80 Prozent relativ niedrig ausfiel. Vor der Wahl konnte vermutet werden, dass die von der Union geführte Koalition den Sieg verbuchen würde. Tabelle: Zahlen zur deutschen Bundestagswahl 1994 13 Allensbach VÖ 14.10.1994 Emnid VÖ 08.10.1994 FGW 14 VÖ 10.10.1994 CDU/CSU SPD Bündnis 90/Die Grünen FDP PDS 41,0 35,5 8,0 7,5 4,0 42,0 37,0 7,0 6,0 4,0 42,5 35,5 8,0 7.0 3,5 Durchschnitt 41,8 36,0 7,6 6,8 3,8 Amtliches Endergebnis 41,5 36,4 7,3 6,9 4,4 Auf den ersten Blick sieht es tatsächlich so aus, als ob einige CDU-Wähler nicht zur Wahl gegangen seien. Doch dieser Eindruck täuscht. In der Woche vor der Bundestagswahl glaubten nur 53 Prozent aller Befragten, die FDP werde die Fünf-Prozent-Hürde nehmen (Brettschneider, 1995: 13 Ebd. 14 Forschungsgruppe Wahlen. 15

101). Einige Union-Wähler gaben der FDP die Zweitstimme um eine Fortführung der Regierungskoalition zu gewährleisten. Die Union-Wähler, in diesem Beispiel die Wähler der Siegerpartei, sind also nicht der Wahl fern geblieben, sie haben, möglicherweise aus taktischen Gründen, nur eine andere Partei gewählt. Die Umfrageergebnisse für die SPD und Bündnis 90/Die Grünen trafen im Durchschnitt das Wahlergebnis recht genau, die PDS wurde um 0,6 Prozent unterschätzt. Insgesamt gesehen gab es bei der Bundestagswahl 1994 trotz verhältnismäßig geringer Wahlbeteiligung keinen Lethargieeffekt. In dieser Interpretation findet sich die Vermutung wieder, dass der Wähler durch die Wahrnehmung von Wahlumfragen in seiner Meinung bestärkt wird. Ein Lethargieeffekt könnte mit dem oben vorgestellten Politik-Tracking ermittelt werden. 2.3.4 Defätismuseffekt Unter der Annahme, dass der Wahlausgang bereits feststeht, bleiben die Wähler der vermeintlichen Verliererpartei aus Frustrationsgründen der Stimmenabgabe fern. Der Effekt ist, dass die Wahlbeteiligung geringer ausfällt und damit die in den Umfragen führende Partei gestärkt wird. Der Defätismuseffekt ist dem Lethargieeffekt in seiner Charakteristik ähnlich, nur dass die begünstigte Partei eine andere ist. Gemeinsam ist beiden Effekten das Fehlen eines signifikanten Nachweises. Im vorherigen Abschnitt wurden bereits zwei Bundestagswahlen näher betrachtet, bei denen die Wahlbeteiligung unterdurchschnittlich ausfiel. Da auch beim Defätismuseffekt die Wahlbeteiligung im Mittelpunkt der Betrachtung steht, sollen die beiden Bundestagswahlen im Folgenden unter dem Gesichtspunkt des Defätismuseffekts interpretiert werden. Zunächst zur Bundestagswahl 1990, bei der die SPD relativ schlecht abgeschnitten hat: 16

Sind die SPD-Wähler der Wahl fern geblieben oder haben sie eine andere Partei gewählt, weil sie um die Niederlage der SPD wussten? Der Parteiwechsel in der Arbeiterschaft über die Lagergrenzen hinweg ist sicher ein Indiz dafür, daß so mancher traditionelle Stammwähler der SPD der Kandidatur Lafontaines und dessen postindustrieller Reformagenda nichts abgewinnen konnte und der Partei den Rücken kehrte, zumal der Wahlausgang und die Niederlage der SPD ohnehin außer Frage standen (Schultze, 1991: 77). Gepaart mit der Tatsache, dass die Wähler in der ehemaligen DDR, aber auch in Teilen Bayerns, zum vierten Male innerhalb eines Jahres aufgerufen [waren], zur Wahl zu gehen (Schultze, 1991: 67f.), sind dies sicherlich die beiden gewichtigsten Faktoren, die die niedrige Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 1990 erklären. Das Verhalten monokausal auf die Kenntnis entsprechender Wahlumfragen zurückzuführen, greift mit Sicherheit zu kurz, denn auf der Individualebene hatte dagegen die subjektive Sicherheit des Wahlausgangs bei der Bundestagswahl 1990 eher einen beteiligungsfördernden Effekt. Parteianhänger, die sich bereits im Vorfeld über die Niederlage ihrer Partei bewußt waren, verzichteten keineswegs verstärkt auf die Stimmenabgabe. Dagegen enthielten sich Wahlberechtigte, die über den Wahlausgang keine eindeutigen Aussagen machen konnten (Kleinhenz, 1995: 157). Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Betrachtung der Bundestagswahl im Jahr 1994. Die in den Wahlumfragen unterlegenen Parteien waren bei der Bundestagswahl 1994 die SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Während bei Bündnis 90/Die Grünen der Stimmenanteil ein wenig geringer war als im Durchschnitt vorhergesagt, wich das SPD-Ergebnis um 0,4 Prozent vom durchschnittlichen Vorhersagewert ab. Denkbar ist, dass einige Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen-Wählern an andere Parteien gingen, etwa dass sie SPD dabei einen geringen Anteil und die einige Stimmen von SPD-Sympathisanten erhielt. Aus diesen Spekulationen lässt sich ein Defätismuseffekt jedoch nicht ableiten. 17

Bei der Überlegung, auf welchem Weg dieser Effekt empirisch signifikant nachweisbar wäre, stößt man wieder auf die Möglichkeit eines über Jahre kontinuierlich angelegten Tracking, in dem neben der Wahlentscheidung die Wahrscheinlichkeit der Stimmabgabe bei der nächsten Wahl gemessen wird. Es ist zu vermuten, dass es andere Gründe als die Wahrnehmung veröffentlichter Wahlumfragen gibt, die eine Partei vor der Wahl zur unterlegenen Partei in den Umfragen machten. Dies soll am Beispiel der letzten Europawahl verdeutlicht werden. Bei der Europawahl 2004 war die Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik Deutschland mit 43 Prozent sehr niedrig. Die Union war der klare Sieger in den Vorhersagen, die SPD lag in den letzten Umfragen vor der Wahl im Schnitt bei 28 Prozent, 15 erhielt letzten Endes aber nur 21,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Kann man hieraus einen Defätismuseffekt ableiten? Die Antwort lautet nein, denn damit würden wahlentscheidende Motive wie die Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung, die Entscheidung für eine Denkzettelwahl oder auch die Unzufriedenheit der SPD - Anhänger mit der eigenen Partei nicht beachtet. Im letzteren Fall handelt es sich um eine Art Frustration, die allerdings schon vor den veröffentlichten Wahlumfragen vorhanden war. Die Umfrageergebnisse sind in diesem Fall nicht mehr als der Ausdruck der frustrierten Stimmung im Land, nicht aber die Grundlage für ein schlechtes Wahlergebnis. Es ist nicht auszuschließen, dass die Umfrageergebnisse die Frustration unter den SPD-Wählern verstärkt haben, sie wurden dann aber lediglich in ihrer Meinung bestätigt. Hier machen sich die Defizite in der Motivforschung bemerkbar. Die Defizite ließen sich mit dem oben beschriebenen Meinungs-Tracking zumindest im Ansatz beheben. 2.4 Diskutierte Effekte auf die Wahlentscheidung Wirkungsvermutungen für den Einfluss von Wahlumfragen auf die Wahlentscheidung besagen, dass durch den vermutlich sicheren Wahlausgang 15 Quelle: www.wahlumfragen.de, Zugriff am 16.06.2004, 10.00 Uhr. 18

die Wahlentscheidung anders ausfällt, als sie ohne dessen Kenntnis ausgefallen wäre. Namentlich wird hierbei vom Bandwagoneffekt, vom Underdogeffekt, vom Fallbeileffekt und vom Leihstimmeneffekt gesprochen. Die zwei zuletzt genannten Effekte werden vor allem für die Bundesrepublik Deutschland vermutet, da hier ein Verhältniswahlrecht mit Fünf-Prozent-Klausel gilt. Dieser Umstand ermöglicht ein taktisches Wahlverhalten, das sich in der vorliegenden Untersuchung nach Schoen wie folgt definiert: Taktisches Wahlverhalten liegt ganz allgemein dann vor, wenn ein Bürger seine Stimmentscheidung nicht nur auf seine politischen Präferenzen stützt, sondern darüber die Erfolgsaussichten der konkurrierenden politischen Angebote einbezieht und aufgrund dieser Überlegung gegen seine aktuelle Parteipräferenz votiert (Schoen, 2000: 643). 2.4.1 Bandwagoneffekt Der Bandwagoneffekt beruht auf der Annahme, dass eine unbestimmte Anzahl von Wählern beabsichtigt, auf der Seite des Gewinners zu stehen und sich daher bei der Stimmabgabe für die in den Wahlumfragen vorn liegende Partei entscheidet. Der Effekt besteht also in einer veränderten Stimmabgabe. Die begünstigte Gruppe ist die in den Umfragen stärkste Partei. Von Bandwagoneffekt sprach erstmals Lazarsfeld im Jahre 1940, als er bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen festzustellen glaubte, dass sich Wähler in letzter Sekunde der Gewinnerpartei anschließen. Ein signifikanter Nachweis konnte allerdings bis heute nicht erbracht werden. Ebenso können, wie auch bei allen anderen Wirkungsvermutungen, andere Faktoren dazu geführt haben, dass sich Wähler kurz vor der Wahl für eine andere Partei entschieden, als zuvor beabsichtigt. Gallus und Lühe fügen hinzu: Das von ihm als,bandwagon effect bezeichnete Phänomen läßt sich auch nach Wahlen beobachten, nämlich wenn der Anteil der Befragten, die angeben, die Gewinnerpartei gewählt zu haben, deutlich über 19

dem tatsächlichen Stimmenanteil dieser Partei liegt (Gallus/Lühe, 1998: 128). Diese erweiterte Definition ist allerdings falsch. Wenn sich die Befragten erst nach der Wahl zum Wahlsieger bekennen, dann hat dieser Umstand keinen Einfluss auf das Wahlverhalten. Ein Musterbeispiel für einen Einfluss durch den Bandwagoneffekt gibt es nicht, dafür sollen im Folgenden drei Beispiele angeführt werden, deren Interpretation gegen einen Bandwagoneffekt spricht. Das erste Beispiel stammt aus dem Jahr 1936. Auf Grundlage einer Wahlumfrage vor der Präsidentschaftswahl in den USA, mit einer Fallzahl von etwa zwei Millionen Befragten, sagte der Literary Digest einen Sieg von Alfred M. Landon mit 57,0 Prozent voraus. 16 Bei den vorhergehenden Präsidentschaftswahlen lag der Literary Digest mit seiner Vorhersage richtig, die Zeitschrift (...) galt bereits seit Jahren als Institution für zuverlässige Prognosen (...) (Gallus/Lühe, 1998: 63). Es gab zum damaligen Zeitpunkt also wenig Anlass am Ergebnis zu zweifeln. Sicherlich war nicht nur der Literary Digest überrascht, als bei der Wahl auf Alf Landon nur 37,5 Prozent entfielen. Der Gegenkandidat Franklin D. Roosevelt erhielt hingegen 62,5 Prozent, das sind 19,5 Prozent mehr als vom Literary Digest vorhergesagt. Eine gegenläufige Prognose wurde von dem damals noch unbekannten Georg Gallup veröffentlicht. Mit der Methode der Quotenstichprobe gelang es ihm, den Sieg von Roosevelt vorherzusagen. 17 Er kämpfte als David gegen Goliath und gewann am Ende (Gallus/Lühe, 1998: 62 63). Von allen methodischen Fehlern abgesehen, die aus heuti- 16 Die Annahme, je mehr Befragte es sind, desto exakter ist das Ergebnis, wurde hier zum letzten Mal angewandt. Der Literary Digest verschickte im Vorfeld in etwa zehn Millionen Fragebögen, die Adressen wurden Telefonbüchern oder anderen Quellen entnommen: Gallus/Lühe, 1998: 63. 17 Trotz des Siegeszugs der Stichprobe in die Methoden der Sozialforschung, durch Gallup und sein Team bei der Präsidentschaftswahl 1936 angestoßen, sollte darauf verwiesen werden, dass auch er um jeweils etwa sieben Prozent neben dem tatsächlichen Ergebnis (in Klammern) lag: Roosevelt 55,7 Prozent (62,5 Prozent) und Landon 44,3 Prozent (37,5 Prozent): Gallus/Lühe, 1998: 63. 20

ger Sicht nicht nur der Literary Digest, sondern auch Gallup begingen, hätte bei der Annahme, dass es viele Wähler präferieren, auf der Seite des Wahlgewinners zu stehen, das Ergebnis in jeder Hinsicht anders ausfallen müssen. Von einem Bandwagoneffekt ist hier nichts zu erkennen. Das zweite Beispiel entstammt aus dem Jahr 2004 und betrifft den Sieg von Sonia Gandhi und ihrer Kongresspartei bei den Lok Sabha-Wahlen, den indischen Unterhauswahlen. Noch vor zwei Wochen hatte keiner damit gerechnet, dass die angeschlagene Kongresspartei einen solchen Erfolg davontragen könnte. Die meisten Beobachter rechneten damit, dass Vajpayee seine Mehrheit würde sichern können (Baur, 2004). Der NDA, der Partei von Ministerpräsident Atal Behari Vajpayee, wurden bei einer vorgezogenen Wahl bis zu 275 von den möglichen 545 Sitzen in der Lok Sabha zugesichert, am Ende waren es 188 Sitze. Die Kongresspartei erhielt hingegen 223 Sitze. Spuren eines Bandwagoneffekts sind auch hier nicht nachzuzeichnen. Zuletzt noch ein Beispiel aus der Bundesrepublik Deutschland: Aufgrund des Todes zweier Kandidaten in den Wahlkreisen Schweinfurt und Obertaunus wurde die Stimmabgabe bei der Bundestagswahl 1965 um drei Wochen verschoben. In der regulären Wahlnacht wurde eine hypothetische Stimmenverteilung für die Wahlkreise anhand soziodemographischer Variablen errechnet. Das tatsächliche Wahlergebnis entsprach der zuvor erstellten Stimmenverteilung, das heißt, das Wissen über den längst feststehenden Wahlausgang und damit das Wissen um den Sieg der CDU haben sich nicht auf die Stimmabgabe ausgewirkt (Hartenstein, 1967: 295). Während sich die ersten beiden Interpretationen gegensätzlich zum Konzept des Bandwagoneffekts verhalten, steht die letzte Interpretation für 21

den Nicht-Einfluss von Wahlumfragen auf das Wahlverhalten. Das Pendant zum Bandwagoneffekt ist der Underdogeffekt. 2.4.2 Underdogeffekt Der Underdogeffekt entspricht der Vermutung, dass sich eine Anzahl von Wählern für die in den Umfragen zurückliegende Partei entscheidet, entweder aus Mitleid oder damit der vermeintliche Sieger nicht zu stark aus der Wahl hervorgeht. Die begünstigte Partei ist die mutmaßlich schwächere Partei. Der Underdogeffekt konnte bisher nicht signifikant nachgewiesen werden. Dieser Effekt kann nur bei überraschenden Ergebnissen auftreten, bei denen eine vermeintlich schwächere Partei einen enormen Stimmenzuwachs erhält. Auch diese Wirkungshypothese stammt aus den USA, einem Land mit einem Zweiparteiensystem und vergleichsweise geringer Parteiidentifikation. Die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Mehrparteiensystem wurde fast immer durch Koalitionen regiert. Wenn es zu einer merklich veränderten Stimmabgabe zugunsten einer schwächeren Partei kam, dann nur innerhalb eines Lagers. Während beispielsweise bei der Bundestagswahl 1983 vermutet wird, dass Unions-Wähler mit ihrer Zweitstimme die FDP wählten, um den Einzug in den Bundestag zu gewährleisten, wird andererseits angenommen, dass einige SPD-Wähler bei der Bundestagswahl 2002 aus gleichem Grund Bündnis 90/Die Grünen wählten. Es soll ein Beispiel angeführt werden, dessen Interpretation dem Underdogeffekt sogar widerspricht: die bayrische Landtagswahl vom 21.09.2003. 22

Tabelle: Zahlen zur bayrischen Landtagswahl 2003 18 CSU SPD Bündnis 90/ Die Grünen FDP forsa VÖ 09.09.2003 FGW 19 VÖ 05.09.2003 Infratest-dimap VÖ 11.09.2003 61,0 20,0 8,0 4,0 60,0 22,0 8,0 3,0 59,0 20,0 8,0 4,0 Durchschnitt 60,0 20,6 8,0 3,6 Amtliches Endergebnis 60,7 19,6 7,7 2,6 Die SPD hatte die denkbare absolute Mehrheit der CSU zum zentralen Wahlkampfthema erhoben und damit versucht zusätzlich Mitleidsstimmen zu erhalten. Es wurde dazu aufgerufen, die CSU nicht zu sehr erstarken zu lassen. Das Ziel wurde nicht im Ansatz erreicht, die SPD verlor bei der Wahl sogar einen Prozentpunkt im Vergleich zum durchschnittlichen Vorhersagewert der Institute. Bei der Betrachtung des Bandwagoneffekts wurde das Beispiel von Hartenstein aus dem Jahre 1965 angeführt. Auch für dieses Beispiel gilt: Vom Underdogeffekt ist nichts zu spüren, das Wahlergebnis hat sich aufgrund des Wissens über den Ausgang der Wahl nicht verändert. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass es für die Wirksamkeit des Underdogeffekts keine Anhaltspunkte gibt. 2.4.3 Fallbeileffekt Während die bisherigen sechs Wirkungsvermutungen Importe aus dem angelsächsischen Wahlsystem darstellen, werden in der Bundesrepublik Deutschland zwei weitere Effekte diskutiert, die aufgrund der Annahme rationalen Wahlverhaltens und aufgrund des Verhältniswahlrechts mit 18 Quelle: www.wahlumfragen.de, Zugriff am 16.06.2004, 10.00 Uhr. 19 Forschungsgruppe Wahlen. 23

Fünf-Prozent-Klausel ihre Wirkung entfalten könnten. Der Begriff des Fallbeileffekts wurde von Reumann kreiert und erschien erstmals anlässlich der Bundestagwahl 1983 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Reumann, 1983). Er basiert auf der Annahme, dass sich die Wähler für eine alternative Partei entscheiden, wenn die ursprünglich präferierte Partei vermutlich an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern droht. Reumanns Überlegungen kamen zustande, als ungewiss war, ob es der FDP gelingen würde in den Bundestag einzuziehen. Berger et. al. haben herausgefunden, dass viele Stimmen für die Grünen bei der Bundestagwahl 1983 erst gewiss waren, als es sicher erschien, dass die Grünen die Fünf-Prozent-Hürde meistern werden (Brettschneider, 1995: 100). Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keine Studie, die sich mit den Wirkungen dieses Effekts beschäftigt und mit signifikanten Ergebnissen aufwartet. Als Einziger testete Schoen den Einfluss von Wahlumfragen auf die vasted-vote-these, deren prominenteste Ausprägung der Fallbeileffekt ist. 20 Schoen ging davon aus, dass die Wahrnehmung von Erfolgsaussichten von Parteien bei Wahlen parteipolitisch determiniert ist: Die Identifikation mit einer Partei färbt die Realitätswahrnehmung. In seiner Untersuchung, die erstmals die vasted-vote-these für deutsche Bundestagswahlen prüft, bestätigt sich diese Vermutung. In seiner für die Jahre 1983, 1987 und 1994 angelegten Analyse kommt Schoen zu folgendem Ergebnis: Die Filterwirkung beschränkt sich jedoch nicht auf die Anhänger der jeweiligen Gruppierung; vielmehr scheint die Verbindung von Parteien in einer zumindest potentiellen Regierungskoalition einen Ausstrahlungseffekt hervorzubringen. Denn in allen drei betrachteten Jahren legten die Anhänger der Unionsparteien den zweitgrößten Optimismus in bezug auf 20 Das vasted-vote-argument ist ein Spezialfall taktischen Wahlverhaltens. Man geht davon aus, dass die Wahrnehmung von Erfolgsaussichten von Parteien bei Wahlen das Stimmverhalten der Bürger beeinflusst. Der Einfluss ist in diesem Konzept ungerichtet. Mehr dazu in: Schoen, 1999: 566ff. 24

die FDP-Wahlchancen an den Tag. Ähnlich, auch wenn nicht derart deutlich hielten die SPD-Neiger die Perspektiven der Grünen für besser als die übrigen Befragten. (Schoen 1999: 576). Für die Frage, inwieweit die perzipierten Wahlchancen die Stimmentscheidung beeinflussen?, findet er heraus: Lediglich 1983 tritt der Zusammenhang in statistisch nicht signifikanter Stärke, aber in der erwarteten Richtung auf (Schoen 1999: 577f.). Dem Konzept des Fallbeileffekts stehen aber auch Beispiele gegenüber, die eine gegensätzliche Interpretation nahe legen. So widerspricht etwa das Wahlverhalten der PDS-Anhänger bei der Europawahl 2004 dem Konzept des Fallbeileffekts. In den letzten Vorhersagen der Institute lag die PDS im Durchschnitt bei vier Prozent, tatsächlich erreichte sie bei der Wahl 6,1 Prozent. 21 Dieses Ergebnis ist nicht mit der Gültigkeit des Fallbeileffekts vereinbar. Überhaupt gibt es wenige Situationen, die an den Fallbeileffekt auch nur erinnern. Im Gegenteil: Bei der Landtagswahl 1996 in Baden-Württemberg erzielten die Republikaner einen Überraschungserfolg. Nach eigenen Angaben hatte das Institut für Demoskopie Allensbach im Vorfeld der Wahl die errechneten Zahlen bewusst niedrig gehalten, um keine Stimmung für die Republikaner zu machen. Allerdings muss auch an dieser Stelle eingeräumt werden, dass gerade temporäre Erfolge von extremen Parteien Protestcharakter haben. Protestwählern ist es denkbar egal, ob ihre Stimme verloren geht, anders als vergleichsweise bei taktischen Wählern. Bei Landtagswahlen hat es in der Bundesrepublik Deutschland bei drei Wahlen eine Situation gegeben, in der kleine Parteien mit sehr knappem Ergebnis in die Landtage einziehen konnten und damit das Fundament für die Regierungsbildung gaben: 1987 in Schleswig-Holstein zur Weiterführung der Regierungsgeschäfte; 1994 in Sachsen-Anhalt zur Erprobung eines neuen Modells (Regierungsbildung unter Tolerierung durch die PDS) 21 Quelle: www.wahlumfragen.de, Zugriff am 16.06.2004, 10.00 Uhr. 25

und 1999 in Hessen zum Regierungswechsel. Vergleichbar ist auf Bundesebene die Bundestagswahl 1994. Hartenstein fügt hinzu: Den Fall, bei dem die Sperrklausel einen potenziellen Koalitionspartner eliminiert und damit einen Wechsel erzwungen hätte, hat es nicht gegeben (Hartenstein, 2002: 181). Im Ergebnis lässt sich also feststellen: Der Fallbeileffekt wurde nicht signifikant nachgewiesen, die angeführten Beispiele entkräften die Wirkungsvermutung. 2.4.4 Leihstimmeneffekt Dem Leihstimmeneffekt liegt die Vermutung zugrunde, dass sich die Anhänger einer Großpartei bei ihrer Stimmabgabe für den kleinen potenziellen Koalitionspartner entscheiden, damit eine Regierung mit der von ihnen präferierten Großpartei sichergestellt ist. Voraussetzung für das Eintreten dieses Effekts ist die Wahrnehmung des vermeintlich knappen Wahlausgangs. Der Begriff entstand anlässlich der Bundestagswahl 1983, als vermutet wurde, dass viele CDU-Wähler ihre Zweitstimme der FDP gaben, damit durch deren Einzug ins Parlament die Mehrheit für eine schwarz-gelbe Regierungskoalition gesichert war. Für die Bundestagswahl im Jahr 1994 wird ein ähnliches Stimmverhalten vermutet (Brettschneider, 1995: 100). Der Leihstimmeneffekt steht im Widerspruch zum Fallbeileffekt und wurde auch aufgrund der Annahme eines strategischen Wahlverhaltens kreiert. Genau genommen ist es falsch, ihn als Variante eines rein rationalen Wahlverhaltens anzusehen. Ein rationaler Wähler wird nicht das Risiko eingehen, seine Stimme an eine Partei zu verschenken, die unter Umständen die Fünf-Prozent-Hürde nicht meistert. Es gilt zuerst die Frage zu beantworten, welcher Vorhersagewert den sicheren Einzug ins Parlament vermuten lässt. Der derzeitige Forschungs- 26

stand gibt darüber keine Auskunft. Um in Hinsicht auf den Einfluss des Leihstimmeneffekts weiterzuforschen, muss diese Frage vorangehend geklärt werden. Kirchgässner erweitert den Auslegungsspielraum für diesen Effekt: Ein solches Verhalten ( ) kann sich auch aus dem Bemühen ergeben, im Parlament nicht einseitige Machtverhältnisse entstehen zu lassen, d. h. eine Zweidrittelmehrheit einer Partei zu verhindern (Kirchgässner, 1986: 236). Zwar sind die Parallelen zum Underdogeffekt unübersehbar, dafür wird hier zum ersten Mal über einen Zusammenhang beziehungsweise über eine Überschneidung zwischen den Effekten gesprochen. Kirchgässner führt diese Überlegung jedoch nicht weiter aus. Brettschneider hat in seiner Untersuchung zur Bundestagswahl 1983 (Brettschneider, 1992) herausgefunden, dass Umfrageergebnisse für Grünen-Wähler weniger bedeutsam sind als für FDP-Wähler. Weiterhin stellt er fest, dass Umfrageergebnisse für Wechsel- und Splittingwähler einen hohen Informationswert besitzen. Für seine Untersuchung nutzt er die Resultate der Nachwahlbefragung der Forschungsgruppe Wahlen. Seiner Interpretation zufolge haben einige Unions-Wähler mit ihrer Zweitstimme die FDP gewählt, um deren Einzug in den Bundestag zu sichern. Vermutlich waren Umfrageergebnisse für FDP-Wähler deshalb von hoher Bedeutung, weil sie dadurch von Unions-Wählern zu FDP-Wählern wurden. Jeder zweite Wähler, der 1983 für die FDP gestimmt hat, gab an, sich von den Umfragen beeinflusst haben zu lassen. Immerhin berichtete 1983 und 1987 ein Viertel aller Wähler, daß vorab veröffentlichte Wahlumfragen (...) eine große oder gewisse Rolle gespielt haben (Brettschneider, 1995: 100). Im Jahre 1990 waren es dann nur noch 14 Prozent (Brettschneider, 1995: 100). Empirisch signifikante Ergebnisse, die einen Einfluss dieser Wirkungsvermutung belegen, lassen sich nicht finden. Eine Nachwahlbefragung ist 27

vermutlich nicht die geeignete Möglichkeit, diesen Effekt zu belegen. Befragte, die dem Effekt erlagen, sind sich dessen unter Umständen nicht bewusst, da sie im Wissen um den Sieg ihrer Partei die Meinung vertreten, selbstständig und aufgrund eigener Überlegungen die Wahlentscheidung getroffen zu haben, und nicht zugeben wollen oder können, dass sie sich haben beeinflussen lassen. Zum anderen gibt die Frage nach dem Stellenwert von Umfrageergebnissen als Informationsquelle keinerlei Auskunft über die Wirkung und das daraus resultierende Wahlverhalten. Trotz fehlender signifikanter Beweise kann angenommen werden, dass wenn es einen Einfluss durch Meinungsumfragen auf das Wahlverhalten gibt dieser Effekt, zumindest von der Grundkonzeption her, für das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu den bisher diskutierten Effekten am wahrscheinlichsten ist. Darüber hinaus gilt es zu untersuchen, unter welchen Umständen der Leihstimmenwähler von seiner zuerst präferierten Partei abweicht. Zwei zentrale Fragen dazu sind: 1. Wie knapp muss der Wahlausgang vorhergesagt werden, damit die Bereitschaft des Wählers geweckt wird, seine Stimme zu verleihen? 2. Wie hoch ist die Identifikation der Wähler mit dem politischen Lager als Ganzem? Vermutlich sind Wähler mit stärkerer Lageridentifikation eher bereit, ihre Stimmen zu splitten oder zu verleihen, als Wähler mit stärkerer Parteiidentifikation. 1.5 Versuche die Effekte nachzuweisen, kamen zu keinem signifikanten Ergebnis Experimente mit dem Ziel, einen Einfluss von Wahlumfragen auf das Wahlverhalten nachzuweisen, wurden meist in den USA durchgeführt. 28